44. und 45. Büdinger Gespräche: Religiöse Minderheiten als wirtschaftliche und geistige Eliten (Teil I: Frühe Neuzeit; Teil II: 19. und beginnendes 20. Jahrhundert)

44. und 45. Büdinger Gespräche: Religiöse Minderheiten als wirtschaftliche und geistige Eliten (Teil I: Frühe Neuzeit; Teil II: 19. und beginnendes 20. Jahrhundert)

Organisatoren
Markus A. Denzel, Universität Leipzig; Matthias Asche, Universität Tübingen; Matthias Stickler, Universität Würzburg; Ranke-Gesellschaft und Institut für Personengeschichte Bensheim
Ort
Büdingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.04.2006 - 08.04.2006
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Von
Matthias Asche, Universität Tübingen; Sabine Todt, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg

Minderheitenforschung führt keineswegs mehr eine randständige Existenz wie noch vor einigen Jahrzehnten, ja sie erlebt derzeit eine regelrechte Konjunktur, auch wenn die tieferen Ursachen für die auffallend vermehrte Beschäftigung mit diesem Themenfeld keineswegs erfreulich sind. Man muss angesichts der aktuellen politischen Herausforderungen und des wachsenden öffentlichen Interesses an deren historischen Dimensionen auch kein Prophet sein, um treffsicher orakeln zu können, dass die Forschungserträge zur Entstehung und Entwicklung von sowie zum gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten in Zukunft wohl eher noch weiter zunehmen werden. Die beiden Jahrestagungen der „Büdinger Gespräche“ – zunächst 2006 zu Phänomenen aus der Frühen Neuzeit (Teil I), dann 2007 zum 19. und frühen 20. Jahrhundert (Teil II) – behandelten die Minderheiten-Problematik vor dem Fragehorizont, inwieweit religiöse und konfessionelle Minderheiten auch wirtschaftliche oder geistige Eliten gewesen sein konnten.

In einem thematischen Aufriss trug MATTHIAS ASCHE (Tübingen) einleitend allgemeine Überlegungen zur Minderheiten-Problematik und zu den Rahmenbedingungen für religiöse und konfessionelle Koexistenz im Alten Reich vor. Religiöse und konfessionelle Minderheiten konnten entweder in Territorien mit unvollständig durchgeführten Konfessionalisierungsprozessen bzw. in reichsrechtlich geschützten bi- oder trikonfessionellen Staatswesen bereits seit den Reformationsjahrzehnten dauerhaft anwesend sein oder aber auch erst durch gezielte Anwerbungen der Obrigkeiten in Territorien nachträglich entstehen. Die Aufnahme- und Duldungsbereitschaft für Minderheiten auf territorialer Ebene war jedoch nicht allein vom Landesherrn abhängig, sondern auch von deren spezifischen Interaktionen mit den Ständen und anderen lokalen Einheiten. Mit der exklusiven Privilegienpolitik besaß der Landesherr allerdings ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung seiner politischen Ziele, womit er auch weitgehend unabhängig von fremden Einspruchsmöglichkeiten neue, ihm unmittelbar unterstehende Untertanenverbände in Territorien implantieren, auf jeden Fall aber loyale Klientelsysteme schaffen konnte. Der einmal erworbene soziale Status von Minderheiten als Elite blieb dabei freilich stets labil, zumal die Gunst der Obrigkeit wechseln, Privilegien mit der Person des Landesherrn stehen und fallen konnten. Asche resümierte, dass Kapitalkräftigkeit, technologische Spezialqualifikationen oder geistige Höchstleistungen Angehörigen von religiösen und konfessionellen Minderheiten den sozialen Aufstieg in den Kreis der gesellschaftlichen Eliten in den jeweiligen Territorien ermöglichen konnten. Die starke Gruppenkohäsion einzelner religiöser und konfessioneller Minderheiten sowie die Akkumulation von Sozialbeziehungen und Kapital konnten die Voraussetzungen für den teilweise beachtlichen Reichtum und das hohe Sozialprestige einzelner Minderheitengruppen bilden.

Alle nun folgenden Vorträge behandelten einzelne Beispiele von frühneuzeitlichen Minderheitengruppen im Hinblick auf ihre Elite-Zugehörigkeit. ARNO HERZIG (Hamburg) referierte über „Die Hamburger Sephardim als Wirtschaftselite“, welche sich als vermeintliche Neuchristen von der Iberischen Halbinsel seit dem beginnenden 17. Jahrhundert auch an der unteren Elbe niedergelassen hatten. Für den Hamburger Rat waren wirtschaftliche Gesichtspunkte von entscheidender Bedeutung, diese Gruppe aufzunehmen, obwohl es stets massive Widerstände von Seiten der orthodox-lutherischen Geistlichkeit und zeitweilig sogar Pogrome gegen die sephardischen Juden gab. Innerhalb der Hamburger Judenschaft gab die wohlhabende Oberschicht unter den Sephardim mit ihrem quasi aristokratischen Lebensstil stets den Ton an, auch gegenüber den ebenfalls seit dem 17. Jahrhundert in Hamburg niedergelassenen Aschkenasim.

Den Reigen der Vorträge zu den konfessionellen Minderheiten eröffnete STEFI JERSCH-WENZEL (Berlin), die sich in komparatistischer Fragestellung den „Lebensbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten von Minderheiten in Brandenburg-Preußen“ widmete. Die Vielfältigkeit der teilweise erst durch Expansion „erworbenen“ religiösen und konfessionellen Minderheiten – insbesondere Juden, calvinistische Niederländer und Franzosen (Hugenotten), lutherische Salzburger, Mennoniten und Katholiken – spiegelte sich in der Vielgestaltigkeit der Existenz- und Entfaltungsbedingungen dieser Minoritätengruppen wider. Der kirchliche und rechtliche Status vieler dieser Gruppen war in aller Regel durch Privilegien und Edikte geregelt. Für das Alltagsleben bedeutete dies, dass deren Angehörige über exklusive Vorrechte verfügten, die ihnen größere, teils auch finanziell attraktivere Freiheiten als den einheimischen Untertanen zugestanden.

Als einer der wenigen Fachleute für die kaum bekannten Phänomene katholischer Minderheiten in protestantischen Territorien referierte HANS-GEORG ASCHOFF (Hannover) über „Katholiken im Dienst welfischer Höfe zwischen 1665 und 1715“. In den lutherischen Fürstentümern Calenberg-Göttingen, Lüneburg und Braunschweig-Wolfenbüttel sind erst nach dem Dreißigjährigen Krieg einzelne katholische Kirchengemeinden neu entstanden und zwar entweder im Umfeld von Gesandtschaften oder an den Residenzen der zur Konversion neigenden bzw. tatsächlich konvertierten welfischen Landesherrn. Die kleinen, personell stark flukturierenden Gemeinden bestanden zumeist aus italienischen und französischen Hofkünstlern. Unter den Italienern an den Welfenhöfen ragen der Komponist und spätere Apostolische Vikar Agostino Steffani sowie der Generalpostmeister und Financier Francesco Maria Capellini (genannt Stechinelli) hervor, welche beide auch vom Calenberger Herzog bzw. hannoverschen Kurfürsten mit diplomatischen Missionen betraut wurden. Der Bedeutungszuwachs der Katholiken an der hannoverschen Residenz blieb jedoch angesichts des anstehenden britischen Sukzessionsprojektes nur eine Episode.

Nicht zuletzt wegen des lokalen Bezuges zum Tagungsort lag ein Vortrag des fürstlich ysenburg-büdingischen Familien- und Hausarchivars KLAUS-PETER DECKER nahe, der über „Die Herrnhuter in der Grafschaft“ referierte und zudem die Exkursion zu den Stätten der Herrnhuter im Büdinger Land (Marienborn, Herrnhaag, Ronneburg) leitete. Die reformierte Grafschaft Ysenburg-Büdingen war am Beginn des 18. Jahrhunderts nur ein Beispiel von zahlreichen, vor allem kleineren Reichsterritorien, welche nach dem Dreißigjährigen Krieg zu Refugien für Glaubensflüchtlinge verschiedener Couleur wurden. Graf Ernst Casimir vertrat seit dem sogenannten „Toleranzpatent“ von 1712 ein Programm der systematischen Peuplierung und Wirtschaftsförderung und schuf so in seinem Territorium eine religiöse Freistatt für heterodox-separatistische Gruppen. Während sich die meisten religiösen Dissidenten weitgehend integrieren konnten, schuf die Aufnahme der aus Kursachsen vertriebenen Herrnhutern wegen ihrer religiösen Praktiken schon bald kaum überwindliche Probleme. Da sich die Brüdergemeinde beharrlich dem kirchenregimentlichen Zugriff des Landesherrn entzog, wurde im Jahre 1750 deren Ausweisung verfügt. Das Experiment, eine inzwischen weltweit agierende geistige Elite dauerhaft in die überkommene politische Lebenswelt eines kleinen Reichsstandes einzubinden, war somit gescheitert.

Das Thema des öffentlichen Abendvortrags von ANTON SCHINDLING (Tübingen) im Büdinger Heuson-Museum über „Italiener als Elite im Reich der Frühen Neuzeit“ schloss sich inhaltlich an die Ausführungen Aschoffs an. Schindling breitete die sozial äußerst differenzierte Palette der Wirksamkeit von Italienern im Reich aus. Sie reichte von Klerikern, Diplomaten, Gelehrten und Sprachlehrern über Kaufleute, Musiker, Schauspieler und anderen Hofkünstlern bis hin zu armen Wanderhändlern und Schornsteinfegern, überwiegend an katholischen Höfen und in altgläubigen Städten. Obwohl die Zahl dieser Arbeitsmigranten kaum zu quantifizieren ist, war die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Gruppen enorm, insbesondere im Hinblick auf die Rezeption des italienischen Barock und des Technologietransfers.

Mit HANS-JÜRGEN GOERTZ (Hamburg) sprach der bestausgewiesene Kenner der Geschichte des Täufertums in Deutschland. Der scheinbare Widerspruch zwischen „Religiösem Nonkonformismus und wirtschaftlichem Erfolg“ konnte am Beispiel der hutterischen Bruderhöfe in Mähren während des 16. und 17. Jahrhunderts aufgelöst werden. Der Referent wies darauf hin, dass gerade die nonkonformistische Frömmigkeits- und Alltagspraxis, mithin die Gütergemeinschaft als Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft, der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg der vita communis auf den Bruderhöfen werden sollte. Die kommunitäre Wirtschaftspraxis dieser Täufergemeinden kam den merkantilistischen Modernisierungsbemühungen des mährischen Adels entgegen, der diese Gemeinden auf seinen Grundherrschaften aufnahm, weil er sich von ihnen einen besonderen Nutzen für die Verbesserung der Wirtschaft in ihren Herrschaftsgebieten versprach. Aus der partiellen Affinität zum Verlagswesen, der fortwährenden Kapitalinvestition in den Aufbau immer neuer Bruderhöfe und die Verbesserung des Produktionsbereichs sowie den Impulsen, sich als von Verfolgung bedrohte Fremde in ihrer Umgebung behaupten zu müssen, entwickelte sich eine besonders effiziente Wirtschaftsweise, die sich als frühmoderner Kapitalismus aus dem Geist des Kommunalismus begreifen lässt.

ULRICH NIGGEMANNs (Marburg) Vortrag über „Hugenotten als wirtschaftliche Elite“ zeigte ein weiteres Mal, dass die in der älteren Historiographie dominierenden Beurteilungen dieser bedeutenden Minderheitengruppe grundlegend hinterfragt und neu bewertet werden müssen. Dabei kommt der komparatistischen Methode eine entscheidende Bedeutung zu, welche überzeugend auf das Problem der Konflikte zwischen Hugenotten und Einheimischen angewendet wurde – vor allem bezüglich der häufig postulierten These von der wirtschaftlichen Konkurrenz der zunftfrei agierenden Hugenotten mit den reglementierten einheimischen Zunfthandwerkern. Ausgehend von der Erörterung der unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen bei der Privilegierung der Hugenotten wurde betont, dass die Fremd- und Eigensicht hinsichtlich der Zugehörigkeit der Hugenotten zur wirtschaftlichen Elite beachtlich differierte: Während bei den Angehörigen der hugenottischen Oberschichten eine ausgeprägte Selbstwahrnehmung als Elite zu beobachten ist, finden sich bei der einheimischen Bevölkerung keine Hinweise für deren Wahrnehmung als Eliten.

Das abschließende Referat im ersten Tagungsteil hielt WILFRIED REININGHAUS (Münster) über „Westfälische Wanderhändler im 17. bis 19. Jahrhundert“. Nach einem allgemeinen Überblick über die Geschichte des Wanderhandels in Mitteleuropa seit dem späten Mittelalter wies der Referent darauf hin, dass Wanderhändler in mehrfacher Weise am Marktgeschehen teilnahmen, nämlich als Einkäufer oder als Verkäufer, in seltenen Fällen sogar als Selbstproduzenten. Die nachhaltige Prägung einzelner ländlicher Gebiete durch das System des Wanderhandels entwickelte Reininghaus anhand von zwei Regionen in Westfalen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert: einerseits das Gebiet zwischen Rheine, Lingen und Osnabrück mit den sogenannten Tödden, andererseits das Hochsauerland mit dem Städtchen Winterberg im Zentrum. Die mobilen Packenträger (Kiepenkerle) zählten in ihren ländlichen Heimatgemeinden zwar zur Oberschicht, hielten sich jedoch seit der Verbesserung der Verkehrs- und Transportwege zunehmend weniger in ihrer Heimat auf. Einigen solcher Wanderhändlerfamilien gelang die Gründung von kleinen Familienunternehmen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – etwa im Falle der Familie Brenninckmeyer (C&A) – Ausgangspunkte für Filialketten wurden.

Auch im zweiten Teil der Tagung, der 45. Büdinger Gespräche 2007, nahmen die Referentinnen und Referenten sowie die Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer religiöse und konfessionelle Minderheiten in den Blick und erörterten den Begriff „Elite“ in seiner theoretischen, definitorischen und historischen Vielfalt. Hier boten die Referentinnen und Referenten detailreich geschilderte Beispiele, die teils in der chronologischen Realität der longue durée bis in die Frühe Neuzeit reichten, teils chronologisch pointiert im 19. bzw. 20. Jahrhundert lagen. So ergaben sich zahlreiche Anknüpfungspunkte zu den „Büdinger Gesprächen“ des vorherigen Jahres. In den Diskussionsbeiträgen wurde deutlich, dass „Minderheit“ und „Elite“ als komplementäre Untersuchungskategorien in ihrem Nutzen für die Forschung defizitär sind, da nach wie vor befriedigende Begriffsdefinitionen nicht vorliegen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer trugen daher mit ihren Diskussionsbeiträgen und Referaten zur Klärung der Kategorienvielfalt bei, was sich in der Veröffentlichung, die die Beiträge der 44. und 45. Gespräche kompilatorisch zusammenbringt, zeigen wird.

Nachdem der Tagungsleiter der 45. Büdinger Gespräche, MARKUS A. DENZEL (Leipzig), die Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrüßt und erste Problemaufrisse zum Elitebegriff und zur Konzeptionalisierung der religiösen und konfessionellen Minderheiten entwickelt hat, führte MATTHIAS STICKLER (Würzburg) mit seinem Beitrag über „Religiöse und konfessionelle Minderheiten im langen 19. Jahrhundert“ in die Tagung ein, indem er diese Anregungen aufnahm und zunächst den Begriff „Minderheit“ sowie seine Anwendbarkeit für das 19. Jahrhundert kritisch hinterfragte und so eine Kontinuitätslinie zum vorjährigen Einführungsvortrag von Asche nahe legte. In einem zweiten argumentativen Schritt reflektierte Stickler die Wirksamkeit der Frage nach religiösen und konfessionellen Minderheiten für die Historiographie und folgerte, dass gerade dieser Ansatz neue Einsichten zur Sozialgeschichte des langen 19. Jahrhunderts bereithielte.

In der Diskussion wurden besonders die Begriffe „Minderheit“ und „Elite“ an den theoretischen Vorschlägen der Referenten gemessen, was die Aufnahme des nachfolgenden Beitrags von LUPOLD VON LEHSTEN (Bensheim) über die „Familie Savigny und ihr Umfeld“ sensibilisierte, da der Referent die Entwicklung einer reformierten Exulantenfamilie darstellte. Im Hinblick auf die Konfessionswechsel innerhalb der Familie konnte im Referat und in der Diskussion unter anderem die Frage nach der Bedeutung der Religion für den Minderheitenstatus, aber besonders für die Elitenbildung erörtert werden. Die Ausführungen von Lehstens vermittelten einen wichtigen familienbiographischen Blickwinkel, der sich in der späteren Exkursion nach Schloß Langenselbold an der Kinzig und zum Hofgut Trages verdeutlichte, denn Trages gehörte der Familie Savigny. Die Exkursion wurde von KLAUS-PETER DECKER (Büdingen) geleitet und stellte aufgrund ihrer Vielfalt an architektonischen Artefakten und ihrer fachkundigen Direktion einen Höhepunkt der Tagung dar.

CHRISTOPHER DOWE (Karlsruhe) führte die Tagung mit seinem Beitrag über „Katholische Studentenverbindungen“ in das 19. Jahrhundert und stellte Strategiebeispiele detailreich vor, mit denen Angehörige der katholischen Studentenkorporationen als konfessionelle Minderheit ihre Zugehörigkeit zu einer geistigen Elite beeinflussen wollten. Dowe beschrieb anschaulich die Aushandlungsprozesse der katholischen Studenten um Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum und zur universitären Lebenswelt. Gerade der Kulturkampf habe tiefgreifende Folgen für die Studentenverbindungen gehabt. Langfristig gelang es den Studentenverbindungen, den innerkatholischen Diskurs zu beeinflussen.

Am nächsten Tag eröffnete BEATE GÖDDE-BAUMANNS (Duisburg) die Tagung mit ihrem Referat über „Die Rolle protestantischer Historiker in der französischen Geschichtsschreibung“, in dem sie die Besonderheiten der französisch-protestantischen Historiker beleuchtete. Im Bewusstsein der Franzosen sei der Aufstieg Preußens mit dem Niedergang Frankreichs kontrastiert worden, daher gewann die preußische und deutsche Geschichte an Bedeutung. In der kritischen Bewertung dieser Historiographie lassen sich vor allem zwei Wege erkennen: Zum einen manifestierte sich in den Schriften ein naiver Patriotismus, in dem das „edle“ Frankreich weiß, dagegen der „böse Feind“ Preußen-Deutschland schwarz gezeichnet wurde. Zum anderen entstand ein reflektierter Patriotismus, also eine ernsthafte und selbstkritische Auseinandersetzung, in der die Vergangenheit nüchtern analysiert wurde.

ANDREAS KOSSERT (Warschau/Berlin) hinterfragte in seinem Vortrag über die „Protestantische ‚Leitkultur’ im Manchester des Ostens“ das Bild, das der polnische Nobelpreisträger Władyslaw St. Reymont 1897 in seinem Roman „Das Gelobte Land“ von Łodz zeichnete, in dem er die Stadt als eine kapitalistische Hölle unter der Ägide einer protestantischen Leitkultur beschrieb. Und tatsächlich setzte sich der überwältigende Teil der Łodzer aus Deutschen evangelischen Bekenntnisses zusammen. In diesem hochindustrialisierten Textilzentrum bildete sich ein neuer Unternehmertypus heraus, der eine wesentliche Rolle im Modernisierungsprozess einnahm. Religiosität erwies sich hier nicht als Hindernis, sondern als „fruchtbares Ferment“, denn insbesondere aus dem protestantischen Milieu rekrutierten sich viele Unternehmer.

Den öffentlichen Vortrag im Heuson-Museum, der in Zusammenarbeit mit dem Büdinger Geschichtsverein organisiert und geleitet wurde, hielt ULRICH VON HEHL (Leipzig) über „Die Diskussion um Parität und katholische Inferiorität im späten Kaiserreich“. Am Beispiel katholischer Akademiker im Kaiserreich wurde deutlich, dass Elitenbildung in Staat und Gesellschaft auch behindert werden konnte. Der Referent betonte die soziale und ökonomische Abseitsstellung der Katholiken im Kaiserreich, die sich mit einer Unterprivilegierung verband. Aufgrund der Ergebnisse gelangte von Hehl zu der Schlussfolgerung, dass neben den Kategorien wie „Nation“, „Klasse“ und „Rasse“ auch dem konfessionalistischen Denkschemata größere Aufmerksamkeit gebühre, um das Selbstverständnis der Gesellschaft im Kaiserreich näher bestimmen zu können.

Den letzten Tagungstag eröffnete SABINE TODT (Hamburg) mit einer Darstellung der „Mennoniten in Hamburg und Altona“, die sie als religiöse Minderheit, aber auch als Elite vorstellte. Hamburg und Altona wurden als zwei voneinander getrennte Sozialisationssysteme interpretiert, denn während die Mennoniten in Altona bereits im frühen 17. Jahrhundert von ihren Landesherren wirtschaftlich und konfessionell gefördert wurden, mussten die Mennoniten in Hamburg aufgrund der lutherisch geprägten Orthodoxie lange um ihre Anerkennung kämpfen. Besonders auffällig ist dabei die Etablierung regionaler Wirtschaftssysteme, die autark in mennonitischen Familien verblieben. Durch Kontakte zu den Niederländern, die mit Hilfe von Reisetätigkeiten, Kanzeltausch und Wissensvermittlung immer wieder erneuert wurden, ließen sich diese Wirtschaftssysteme innovativ regieren.

MARGARETE WAGNER-BRAUN (Bamberg) stellte in ihrem Beitrag über „Jüdische Unternehmer“ den typischen Regensburger Unternehmer auf der definitorischen Basis Joseph Alois Schumpeters als Imitator in den Darstellungsfokus, der prinzipiell anerkannte Innovationen im eigenen Arbeitsbereich beziehungsweise in der Region einführte. Gerade für Regensburg sei der relativ hohe Anteil jüdischer Unternehmer auffällig, von denen die Referentin den Holzhändler, Triftherr und Sägewerkbesitzer Simon Meier Loewi und den Kalkwerksbesitzer David Funk genauer vorstellte. Deutlich wurde hier das Zusammenspiel von Innovation, regionaler Infrastruktur und gegenseitiger Unterstützung herausgearbeitet. Beide Unternehmerpersönlichkeiten können als bedeutende Pionierunternehmer bezeichnet werden, die wesentlich zur Entwicklung einer schwachen Wirtschaftsregion beigetragen haben.

Auch der Beitrag von VOLKHARD HUTH (Bensheim) über „Milieukonstitution und Intellektualität jüdischen Großbürgertums im Fokus prosopographischer Forschung“ rückte unter anderem jüdische Unternehmer in den Referatsmittelpunkt und stellte damit ein längerfristiges Forschungsprojekt dar, denn mit ihm stecke das „Institut für Personengeschichte“ in Bensheim ein neues Kernarbeitsfeld ab: jüdisches Großbürgertum und Intellektualität im Raum Frankfurt, Mainz, Darmstadt und Heidelberg im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Elitenbildung, Milieukonstitution und Verflechtung jüdischer Familien bilden die Untersuchungskategorien für dieses Projekt, so dass sich Prosopographie und Ideengeschichte sinnvoll verknüpfen lassen.

Es schloss sich die Abschlussdiskussion an, in der insbesondere unterstrichen wurde, dass „Minderheiten“ aufgrund ihres hier fokussierten konfessionellen Charakters nicht nur für die Frühneuzeitforschung relevant sind, sondern die Referenten konnten eindrücklich zeigen, dass Konfessionalität auch für die Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts eine wichtige Untersuchungskategorie darstellt. Insgesamt sind die 44. und 45. Büdinger Gespräche als wichtige Schritte in der Eliten- und Minderheitenforschung zu werten, die sich im Jahre 2008 in der Veröffentlichung im Scripta Mercaturae Verlag (St. Katharinen) in der Reihe „Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte“ manifestieren werden. Die nächste Tagung (46. Büdinger Gespräche) ist für den 27. bis zum 29. März 2008 geplant und steht unter der Fragestellung, ob Künstler als Elite interpretiert werden können.

Konferenzübersicht:

Religiöse Minderheiten als wirtschaftliche und geistige Eliten

44. Büdinger Gespräche (Frühe Neuzeit)
Matthias Asche (Tübingen): Religiöse und konfessionelle Minderheiten als Eliten in der Frühen Neuzeit – ein Widerspruch?
Arno Herzig (Hamburg): Die Hamburger Sephardim als Wirtschaftselite im 17. Jahrhundert
Stefi Jersch-Wenzel (Berlin): Lebensbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten von Minderheiten in Brandenburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert – Versuch einer Typologie
Hans-Georg Aschoff (Hannover): Katholiken im Dienst welfischer Höfe zwischen 1665 und 1715
Klaus-Peter Decker (Büdingen): Die Herrnhuter in der Grafschaft Ysenburg-Büdingen – eine Gegenelite als „Staat im Staate“
Anton Schindling (Tübingen): Priester und Gelehrte, Baumeister und Kaufleute – Italiener als Elite im Reich der Frühen Neuzeit
Hans-Jürgen Goertz (Hamburg): Religiöser Nonkonformismus und wirtschaftlicher Erfolg – die Gütergemeinschaft der Täufer in Mähren
Ulrich Niggemann (Marburg): Hugenotten als wirtschaftliche Elite. Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung in den immigrationspolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland und England 1680-1700
Wilfried Reininghaus (Münster): Westfälische Wanderhändler im 17. bis 19. Jahrhundert

45. Büdinger Gespräche (19. Und beginnendes 20. Jahrhundert)
Matthias Stickler (Würzburg): Religiöse und konfessionelle Minderheiten im langen 19. Jahrhundert. Einführende Überlegungen zu einem scheinbar randständigen Thema
Lupold von Lehsten (Bensheim): Die Familie Savigny und ihr Umfeld: reformierte Exulanten, Regierungsbeamte und Juristen in landesherrlichen Diensten bis 1806
Christopher Dowe (Karlsruhe): Katholische Studentenverbindungen im Kaiserreich
Beate Gödde-Baumanns (Duisburg): Die Rolle protestantischer Historiker in der französischen Geschichtsschreibung nach 1871 über Preußen und Deutschland
Andreas Kossert (Warschau / Berlin): Protestantische „Leitkultur“ im Manchester des Ostens? Religion und Wirtschaftselite in Lodz 1820-1914
Ulrich von Hehl (Leipzig): Die Diskussion um Parität und katholische Inferiorität im späten Kaiserreich
Sabine Todt (Hamburg): Mennoniten in Hamburg und Altona vom 16. bis zum 20. Jahrhundert
Margarete Wagner-Braun (Bamberg): Jüdische Unternehmer in Regensburg im 19. Jahrhundert
Volkhard Huth (Bensheim): „volle Wirklichkeit und durchaus Idee“ – Milieukonstitution und Intellektualität jüdische Großbürgertums im Fokus prosopographischer Forschung