Preußens Weg in die politische Moderne. Verfassung - Verwaltung - politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade.

Preußens Weg in die politische Moderne. Verfassung - Verwaltung - politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade.

Organisatoren
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
Ort
Trebbin (OT Blankensee)
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.11.2000 - 02.12.2000
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Von
Hartwin Spenkuch, Akademievorhaben Preußen als Kulturstaat, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Als Kontrapunkt zum Medienereignis 300 Jahre preussische Koenigskroenung 1701 erinnerte vom 30. November bis 2. Dezember 2000 ein Kolloquium an das - sonst offenbar unbeachtet gebliebene - 150-jaehrige Jubilaeum der preussischen Verfassungs-Urkunde vom 31. Januar 1850. Die Veranstaltung des an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) angesiedelten Vorhabens zur Edition der Protokolle des Preussischen Staatsministeriums (1817-1934/38) fand in der Tagungsstaette der BBAW, dem frueher von dem Schriftsteller Hermann Sudermann bewohnten Schloss Blankensee (bei Trebbin) statt, und wandte sich der Entwicklung Preussens zum Verfassungs- und Rechtsstaat zwischen Restaurationszeit und der Weimarer Republik zu. Zum Auftakt hielt der international renommierte Historiker Rudolf von Thadden (Goettingen) im Schlosstheater des Neuen Palais (Potsdam) den Festvortrag "Kirchen und Politik in Preussen: Die Krise des Jahres 1933". Vortrag wie die anschliessende Diskussion (Leitung: Juergen Kocka/FU Berlin) machten deutlich, dass Hitlers Politik auch von der Spaltung der beiden grossen Konfessionskirchen profitieren und somit ein gemeinsamer Widerstand von Protestanten und Katholiken weithin verhindert werden konnte.

Beim zweitaegigen Kolloquium in Schloss Blankensee diskutierten juengere Historiker, Juristen und Politologen aus Polen, Oesterreich, den USA und der Bundesrepublik ueber den Weg des preussischen Staates von der altstaendischen hin zur modernen buergerlichen Gesellschaft und ueber dabei wirkende Reformpotentiale und Reformblockaden.

Sektion 1 zur Restauration und zum Vormaerz (1815-48), moderiert von David E. Barclay (Kalamazoo College), pruefte in fuenf Beitraegen vor allem die Validitaet der Thesen Kosellecks ueber die Interaktion von Verwaltung und gesellschaftlichem Verfassungsstreben. Ins Blickfeld rueckte dabei zunaechst die damals als Zentrum des Liberalismus bekannte Provinz (Ost-) Preussen. So wurde durch Ursula Fuhrich-Grubert (FU Berlin) der langjaehrige Oberpraesident Theodor von Schoen auf die ihm zugeschriebenen Kategorien als Reformer und Liberaler untersucht und diese mit exemplarischen Bereichen seiner Verwaltungspraxis in Beziehung gesetzt. Der von ihm wiederholt praktizierte administrative Ungehorsam gegenueber der Berliner Zentrale wird dabei zu schnell mit Reformpolitik und Liberalitaet gleichgesetzt; ein Mythos, den Schoen bereits waehrend seiner Amtszeit selbst stilisiert hatte.

Den Zusammenhang von wirtschaftlichem Liberalismus und Verfassungsstreben sowie bislang unbeachtete Verfassungsmodelle ost- und westpreussischer Beamter stellte Magdalena Niedzielska (Univ. Torun) zur Eroerterung. Zudem zeigte sie interessante Analogien zwischen dem traditionellen polnischen Wahlkoenigtum und dem preussischen Huldigungslandtag von 1840 auf, wobei aber ein direkter Einfluss der polnischen Konstitution von 1815 auf die politische Diskussion in Ostpreussen nicht erkennbar ist.

Die diskontinuierliche Entwicklung Preussens zum Rechtsstaat zwischen 1828 und 1847 verdeutlichte Christina Rathgeber (BBAW) anhand der Auseinandersetzungen zwischen Verwaltungs- und Justizbehoerden ueber Kompetenzkonflikte. Rechtswegestaat wie Autoritaet des Justizministers wurden beschaedigt, die konservativ-restaurative Fraktion innerhalb des Staatsministeriums erstarkte. Im Publikum blieb der Suprematie-Anspruch der Exekutive wie das behauptete Majestaetsrecht als juristische Rechtfertigung aber nicht mehr unstrittig.

Zur internen Verfassungsdiskussion in den vierziger Jahren formulierte Baerbel Holtz (BBAW) eine modifizierte Standortbestimmung der Regierung. Diese ergibt sich vorrangig aus neuen Quellenfunden, v. a. der durchgaengigen Auswertung von ueber hundert Sitzungsprotokollen des Staatsministeriums mit der Immediat-Staende-Kommission sowie von bislang unbekannten konzeptionellen Entwuerfen des Innenministers Arnim- Boitzenburg. Demnach war das Staatsministerium bestaendig zur Beratung des Monarchen in der Verfassungsfrage aufgefordert, brachte es neue Kommunikationsformen in seinen Reihen wie gegenueber dem Koenig hervor und wurde von diesem auch vielfach um Aeusserung zu anderen Bereichen der Verwaltung und Gesetzgebung ersucht. Angesichts all dieser bisher nicht gelaeufigen Faktoren ist die gaengige Auffassung ueber den vormaerzlichen Regierungsstil Friedrich Wilhelms IV. in Frage zu stellen.

Die zeitgleich dazu in Preussen gefuehrten Kontroversen ueber die Kirchenverfassung, so wurde von Martin Friedrich (Univ. Bochum) herausgearbeitet, liessen eine brisante Parallelitaet zur politischen Verfassungsfrage sowie das Modernisierungspotential in Kirchen- wie in Regierungskreisen zutage treten, waehrend in der kirchlichen Verwaltungspraxis keine Ansaetze zur Selbstsorganisation realisiert wurden. Epochenuebergreifend scheint die These vom 19. Jahrhundert als einem "zweiten konfessionellen Zeitalter" nicht stimmig, vielmehr sollte vom Zeitalter einer "neuen Kirchwerdung" gesprochen werden.

Sektion 2 widmete sich unter der Moderation von Bernd Soesemann (FU Berlin) mit vier Beitraegen innenpolitischen Weichenstellungen zur Reichsgruendungszeit (1850-1880). Dabei wurde die Bedeutung der Neuen Aera Preussens (1858-62) in zweifacher Hinsicht beleuchtet: Einerseits, so Rainer Paetau (BBAW), scheiterte das (verfassungs-)politische Projekt des altliberalen Staatsministeriums, die zahlreichen materiell offenen Artikel der konstitutionellen Verfassung mit liberalen Reformgesetzen auszubauen im - schon vor dem eskalierenden Heereskonflikt - polarisierten Dreieck Koenig- Landtag-Oeffentlichkeit. Problemakkumulation hatte die Regierung auch ueberfordert.

Parallel zum verfassungspolitischen Scheitern brachte die Neue Aera nach Ansicht des amerikanischen Historikers James M. Brophy (Univ. of Delaware) aber doch eine weiterwirkende Praegung. Denn die reiche Bourgeoisie, zumal die rheinisch-westliche, akzeptierte damals sukzessive den monarchisch- buerokratischen Staat, weil ihren oekonomischen Interessen mit Reformschritten im Wirtschaftsbereich Rechnung getragen wurde. So schien eine grundsaetzliche liberale Opposition selbst zur 1862 eingesetzten konservativen Regierung Bismarck unnoetig; Staat und Buerokratie wurden im Wirtschaftsbuergertum als beeinflussbares Gegenueber, nicht als repressive Gegner begriffen.

Die Modernisierung Preussen-Deutschlands ab 1867 wurde nach Meinung von Volker Stalmann (Berlin) von den Freikonservativen, einer Abspaltung vom desorientierten Altkonservatismus mitgetragen. Diese adelig-buergerliche Honoratiorenpartei wirkte als Scharnier zwischen der Regierung Bismarck und den Liberalen und orientierte sich an Realpolitik, konstitutioneller Verfassung sowie an der Nation als hoechstem Wert. Die drei Werte mutierten aber im Zuge von Bismarcks konservativem Schwenk ab 1876/78 gutenteils zu Status quo Denken und nationalistisch aufgeladenem Kampf gegen Sozialdemokratie und (polnische) Minderheiten.

In den 1870er Jahren, so Patrick Wagner (Univ. Freiburg) aufgrund einer Laengsschnitt-Studie aus lokal-regionaler Perspektive, wurden auch die keineswegs statischen Herrschaftsverhaeltnisse auf dem Lande Ostelbiens modernisiert. Die laendliche Elite wurde verbreitert und neu definiert, allerdings unter Oberaufsicht der Buerokratie. Der effektivere Staatsapparat vor Ort, zumal der als Patron seines Kreises zu begreifende Landrat, sollte bald aber auch konservative Landtagsmehrheiten gewinnen helfen.

Sektion 3, moderiert von Wolfgang Neugebauer (Univ. Wuerzburg), behandelte Strukturprobleme Preussens im Zeitalter des politischen Massenmarktes (1880- 1925). Einen auch im internationalen Vergleich grossen Erfolg bildete Andreas Thier (Univ. Muenchen) zufolge die Finanzreform Miquels 1891/93. Denn sie bewirkte neben Staatseinnahmenvermehrung sogar positive verteilungspolitische Effekte fuer Unterschichten. Das in dieser Frage erfolgreiche Zusammenwirken von Staatsministerium und den Abgeordnetenhaus- Parteien kann als Indiz fuer die Handlungsfaehigkeit im "beweglichen System" Konstitutionalismus interpretiert werden.

Wenig Modernisierungsfaehigkeit konstatierte hingegen Hartwin Spenkuch (BBAW) in einem anderen Teilbereich, der 1909-13 wie 1917/18 praktisch ergebnislosen Verwaltungsreform. Zwar wandten sich fuehrende (liberal- freikonservative) Politiker und Repraesentanten gerade von (kreisangehoerigen) Staedten gegen ministeriell-buerokratische Reglementierung. Der Versuch, staatliche Kompetenzen zu kommunalisieren und buerokratische Eingriffsrechte zu begrenzen, scheiterte aber an der Tradition des "starken Staates", dem Ressortegoismus der Ministerien und polarisierten (partei-)politischen Fronten. Aehnliche Fronten, so machte Markus Llanque (HU Berlin) deutlich, tauchten in der Debatte zur (innen-) politischen Neuorientierung 1914/18 auf. Wissenschaftler wie F. Meinecke oder H. Delbrueck u. a. stellten den reformerischen Gehalt der preussischen Reformen ab 1807 heraus, um im anti- westlich aufgeladenen Meinungskampf ein quasi endogenes Vorbild fuer Veraenderungen in Richtung civil society zu gewinnen. Sie unterlagen im Weltanschauungskrieg aber den konservativen Apologeten des verfestigten Mythos' Preussen.

Im konfliktreichen Uebergang zur Weimarer Republik zeigten nach Meinung von Reinhold Zilch (BBAW) fuehrende Beamte doch Anpassungs- und Lernfaehigkeit. Denn Umrisse der republikanischen Wirtschafts- und Sozial-Verfassung werden schon in kriegszeitlichen Debatten der buerokratischen Spitzen erkennbar. Beamte wie Robert Schulze waren mit diesen Inhalten vertraut und beteiligten sich loyal an der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung 1918/19. Ungeloest liess indessen selbst die Weimarer Verfassung nach Ansicht von Ludwig Richter (Univ. Koeln) das lange prekaere Verhaeltnis von Reich und Preussen, da speziell die sueddeutschen Laender dem Einheitsstaat widerstrebten, in dem sie - wie Preussen - nach der Konzeption von Hugo Preuss haetten aufgehen sollen. Friktionen waren vorprogrammiert, aber erst die unterschiedlichen Koalitionen ab 1921 (Buergerblock im Reich, Koalition unter SPD-Fuehrung in Preussen) gaben dem aelteren Staaten-Foederalismus eine zwar demokratisch legitimierte, aber problematische Wende, gekennzeichnet durch parteipolitisch instrumentalisierte Machtkaempfe.

Ingesamt liess das Kolloquium die Ambivalenzen der politischen Modernisierung in Preussen zwischen Vormaerz und Weimarer Republik erkennen. Die Entwicklung war nicht linear und die Frage nach Reformpotential und Reformblockade ist auf einzelnen Problemfeldern und zu verschiedenen Zeiten (mindestens) unterschiedlich zu akzentuieren, was das eher positive oder eher negative Gesamturteil heutiger Historiker wesentlich mitbestimmt.

Die Bedeutung der Quelle Staatsministerialprotokolle und der Wert der unter dem Titel "Acta Borussica. Neue Folge" erscheinenden, zwoelfbaendigen Edition (vgl. dazu bereits die Rezension von R. Schiller auf H-Soz-U-Kult am 2.7.2000) fuer die weitere Preussenforschung wurden mehrfach anerkannt. Im Laufe der Diskussionen des Kolloquiums wurde aber auch hervorgehoben, dass die Quellenart staatliche Akten vor allem den Blick "von oben" bietet, so dass moderne gesellschaftliche Entwicklungen Preussens wohl erst durch Einbeziehung anderer Quellen und Blickwinkel zureichend zu analysieren sind. Ungeachtet der aktuellen kulturalistischen Fragestellungen in der Geschichtswissenschaft bleiben unter dem Aspekt Staatsapparat und Gesellschaft sowohl die Sozial- und Mentalitaetsgeschichte der Beamtenschaft Preussens wie Arbeiten zur regionalen Verwaltung einschliesslich deren Verhaeltnis zu den Staenden bzw. den Regierten weiterhin untersuchenswert. Preussenforschung hat vielleicht nicht gerade Konjunktur, aber Potential.

Die Beitraege des Kolloquiums werden in einem Tagungsband beim Akademie Verlag publiziert.