Die Luftwaffe der Bundesrepublik Deutschland: Hintergründe – Perzeptionen – Perspektiven

Die Luftwaffe der Bundesrepublik Deutschland: Hintergründe – Perzeptionen – Perspektiven

Organisatoren
Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) Potsdam; Luftwaffenamt, Köln-Wahn
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.05.2008 - 31.05.2008
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Von
Rüdiger von Dehn, Historisches Seminar, Neuere und Neueste Geschichte, Bergische Universität Wuppertal

"Wahrscheinlich werden zukünftige Kriege von der Luftwaffe geführt, einer besonderen Klasse, wie die Ritter des Mittelalters" - so die Worte des Luftkriegsvisionärs General William "Billy" Mitchell in der Zeitschrift "Winged Defense" 1924. Treffender hätte man die Zukunft der im Krieg 1914-1918 entstandenen Teilstreitkraft kaum beschreiben können. Auf allen Seiten der Front stiegen Männer in ihre fliegenden Kisten, um in der dritten Dimension zu kämpfen. Tatsächlich war dies aber nur der Beginn einer nicht mehr aufzuhaltenden Entwicklung eines sich erneuernden Kriegsbildes, das im Zweiten Weltkrieg nochmals adaptiert wurde. Fortan war und ist das Flugzeug nicht mehr aus den Armeen der Welt wegzudenken - auch nicht in der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland, wo ab 1956 eine neue Luftwaffe entstanden war. Wo aber lagen deren historische Wurzeln und wer waren ihre Vorläufer? War nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" wirklich ein sicherheitspolitischer Neuanfang gewagt worden? Oder hatte nur eine neue Phase deutscher Luftrüstung eingesetzt? Wie sieht sich die Luftwaffe und an welchen Vorbildern richtete sie sich aus? Mit welchen Selbstverständnis und Selbstbild zogen junge Männer - und zum Anfang des 21. Jahrhunderts auch Frauen - die dunkelblaue Uniform der neuen deutschen Luftwaffe an, um die Sicherheit des eigenen Landes und die der nächsten Verbündeten zu verteidigen?

Dies sind nur wenige Fragen, die vom 29. bis zum 31. Mai 2008 am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam vor dem Hintergrund "Die Luftwaffe der Bundesrepublik Deutschland: Hintergründe, Perzeptionen, Perspektiven" diskutiert wurden. In enger Kooperation zwischen dem einzigen in Deutschland ansässigen Institut für Militärgeschichte und dem Luftwaffenamt in Köln-Wahn war es umfassend gelungen, eine Vielzahl der genannten Fragen zu beantworten und tiefgründig zu erfassen. Den fachwissenschaftlichen Rahmen schufen die von JOHN ZIMMERMANN und HEINER MÖLLERS verpflichteten Referenten, überwiegend aus den Reihen der zivilen und uniformierten Historiker- und Politikwissenschaftler der Luftwaffe. Bemerkenswert war die Tatsache, dass junge Wissenschaftler sich gleichberechtigt mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen austauschen konnten und auf hohem Niveau einen großen Anteil zum Diskurs beitrugen - die Uniformen übten keinen Zwang aus. Freilich schuf dies eine überaus positive Arbeitsatmosphäre, die bei ähnlich dimensionierten Universitätsveranstaltungen nur noch selten zu finden ist.

Den ersten beiden Sektionen zur Geschichte der deutschen Luftstreitkräfte seit 1884 sowie zum Kontext der Bundesluftwaffe in den Anfangsjahren ihres Bestehens folgte die Reflexion der historischen Identität der Teilstreitkraftangehörigen und Fragen zur Zukunft der Luftwaffe im Zeitalter so genannter Neuer Kriege. So fanden sich unzählige inhaltliche Anknüpfungspunkte, um das Werden der Luftwaffe nachzuzeichnen und Entwicklungsprognosen zu wagen. Den Einstieg machte KLAUS A. MAIER, der sich in seinem Einführungsvortrag der westlichen Luftkriegspolitik und -strategie seit 1945 widmete. Besonders unterstrich er bei seinen Ausführungen zum Zweiten Weltkrieg, dass keine der beteiligten Mächte über ein detailliertes und in sich geschlossenes Luftkriegskonzept verfügte. Für die Alliierten sei der Kampf über dem besetzten Europa ein ergänzendes Mittel zum Zweck - sprich: zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland gewesen. Kriegsentscheidend sei dies alleine mitnichten gewesen, so Maier weiter. Geschickt leitete er thematisch über zu den in der Eisenhower-Administration geführten Debatten über das Für und Wider von Atomwaffen ("New Look") in einem möglichen kommenden Krieg gegen die Sowjetunion. Gleichzeitig wusste er dabei darauf hinzuweisen, dass der Luftkrieg als Form der gewaltsamen Auseinandersetzung zu sehen ist, der sich kaum definieren lässt und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer wieder neu vom Völkerrecht abzugrenzen bzw. einzubinden ist, zumal am Anfang des 21. Jahrhunderts auch in den Reihen der Luftwaffe der internationale Terrorismus als neuer Akteur zu bedenken sei.
Daran schloss HARALD POTEMPA mit seiner Darstellung über die Anfänge der deutschen Luftstreitkräfte an, deren Hauptentwicklungsphase er im Ersten Weltkrieg feststellte. Notwendige Grunddaten wurden geliefert, die für die Beschreibung der 1935 noch national und ab 1956 international wirkenden Teilstreitkraft unabdingbar sind. Hervorgehoben wurde die Tatsache, dass aus der in den Jahren zwischen 1884 bis 1887 gegründeten Luftschiffertruppe eine ganz eigene Teilstreitkraft entstanden war, die bis 1918 alles andere als "deutsch" war. Aus Preußen, Bayern oder Sachsen kamen die "tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten", die sich ganz bewusst von den Baubataillonen oder "Trains" abhoben, die gleichermaßen der neuen Luftwaffe angehörten. Gleichzeitig wurde der Mythos zerstört, dass jeder Kriegsflug über der Westfront - nur auf diese blieb der Blick im Vortrag leider beschränkt - mit Luftkämpfen und unzähligen Abschüssen gleichzusetzen sei. Abgerundet wurden die Ausführungen des Potsdamer Historikers mit der zutreffenden Feststellung, dass die in der Entstehung begriffene Luftwaffe ein Abbild der durch technische Dynamik gekennzeichneten Industriegesellschaft wurde. Eine These, die in der einen oder anderen Version immer wieder diskutiert werden sollte. Ebenso sei die Reduzierung der Luftstreitkräfte auf Jagdflieger eine simplifizierte Verkürzung, die der Komplexität von Luftstreitkräften bereits im Ersten Weltkrieg überhaupt nicht entspricht.
Der Frage danach, ob und inwieweit die Führung der nationalsozialistischen Luftmacht als gesellschaftliche Elite wirkte, beantwortete ANDREAS HAGENMILLER. Passgenau war die Argumentation, die deutlich unterstrich, dass es sich bei der Luftwaffe der Jahre 1935 bis 1945 eher um einen personellen Flickenteppich als um eine homogene Personalelite gehandelt hatte. Leistungsbereitschaft hatte das frühere gesellschaftliche Standesdenken abgelöst und die Herausbildung eines allumfassenden Esprit de Corps verhindert. Sein diagnostizierter "Fliegerkegel", also die unerklärliche Anhäufung von Piloten unter der Generalität, ließe sich auch mit Görings Elitedenken erklären. Mit BERND LEMKEs Referat zur Geschichte deutscher fliegender Verbände im Nahen Osten 1941 wurde ein den zeitlichen Rahmen sprengendes - wenngleich exotisches - Thema angesprochen. Vor dem Hintergrund der ersten Siege des Deutschen Afrika-Korps und der antibritischen Politik des Mufti von Jerusalem, Al Husseini, beschrieb Lemke den Einsatz deutscher Messerschmitt-Jagd- und Bomberpiloten, die bisweilen mit italienischen Hoheitsabzeichen in die Aufstände und bürgerkriegsähnlichen Zustände im Irak einzugreifen versuchten. Wenig Zweifel ließ der Referent daran, dass dieser Einsatz ausschließlich im Sinne des sich profilierenden Auswärtigen Amtes in Berlin war. Wenig militärische Bedeutung war den vereinzelten Angriffen auf englische Stellungen abzugewinnen. Ohnehin sei nur mit den Kurden wirklich gegen die Engländer in der Region zu Felde zu ziehen. Von der irakischen Armee sei indes nichts zu erwarten - so das Urteil im Sonderstab "F", verantwortlich für die Einsätze in der nahöstlichen Weltregion. Das, was das kurios wirkende deutsch-arabische Zweckbündnis über weite Strecken zusammenhielt, war nach Lemkes Darstellung einzig der Judenhass. Ein allzu schneller thematischer Wechsel vollzog sich mit den Ausführungen von JULIAN FINKE, der zu den NVA-Luftstreitkräften im Diensthabenden System des Warschauer Paktes sprach. Erfolg ist der aus dieser Thematik zu entwickelnden Dissertationsschrift zu wünschen, mit der erstmals eine Untersuchung zur Geschichte der ostdeutschen Luftwaffe begonnen wird. Augenfällig war der Verweis auf die Bedeutung der arabisch-sowjetischen Erfahrungen in der Luftverteidigung für die Ausrichtung der NVA-Luftstreitkräfte. Daher bleibt abzuwarten, ob es sich dabei um eine ostdeutsche Luftwaffe oder eine sowjetisierte Luftstreitmacht handelte.
Bewusst provozierend fasste OLIVER VON WROCHEM die erste Sektion zusammen, indem er nochmals die Heterogenität der Fragestellungen und Themenfelder unterstrich, die mit der Technisierung des Soldat-Seins in den Luftstreitkräften und einer einsetzenden Verbürgerlichung der Teilstreitkraft einherging. Der matte Glanz einer falschen Glorifizierung einzelner so genannter Helden der Lüfte nach 1918 und 1945 stand damit im Raum, die intensiv diskutiert wurde. Als mögliches weiteres Untersuchungsfeld kam dabei die politische Einbindung fliegender Verbände in der entstehenden Weimarer Republik sowie in der Frühphase der DDR zur Sprache. Gleichzeitig war damit eine weitere, die Tagung fortan dominierende Debatte begonnen worden, die ganz im Kontext der soldatischen Selbstreflexion und Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte geführt wurde.
Die zweite Sektion, "Neuanfang oder neuer Anfang?", wurde von BRUNO THOSS eröffnet, der den Strategiewandel der NATO und die damit verbundene Position der Luftwaffe von 1958 bis 1968 diskutierte. Was hierbei aufeinandertraf, waren die Vorstellungen von nuklearer Abschreckung - die nicht unbedeutend für die Luftwaffe gerade durch deutsche Flieger mitgetragen wurde - und der geplante Einsatz von konventionellen Bodenstreitkräften, um eine atomare Eskalation eines "heißen Krieges" mit den Sowjets möglichst lange hinauszuzögern. Erst zum Anfang der 1960er begann man schließlich, auf beiden Seiten des Atlantiks an einer alles vernichtenden Einsatzdoktrin zu zweifeln. Für die Bundesluftwaffe bedeutete dies einen weiteren Strategiewechsel in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens, bevor ab 1967/68 die Tendenz zu erkennen war, sich möglichst an differenzierten Bedrohungsanalysen zu orientieren.
Die Entwicklung des US-amerikanischen Charakters, der sich bis heute gerade in den fliegenden Einsatzverbänden zeigt, ergründete WOLFGANG SCHMIDT, indem er die nationale Bedeutung der Luftwaffe gegen ihre internationale Wirkung abgrenzte. Im Zuge dessen wurden unter anderem auch die Haltung der einstigen "Asse" der Reichsluftwaffe - und die Perspektive eines Teils der Gründergeneration der neuen deutschen Luftstreitkräfte - zur Sprache gebracht, die sich auf die fliegerischen Möglichkeiten stützte, welche ihnen durch die Amerikaner geboten wurden. So seien es schließlich auch die US-Waffensysteme und deren Ausbildungsgrundsätze gewesen, die zu Determinanten der neuen - amerikanisierten - Identität wurden. Leider war in der Bewertung Schmitts Bemerkung etwas zu kurz gekommen, inwieweit gesellschaftliche und kulturelle Komponenten für die persönliche Entwicklung der deutschen Piloten, die zur Flugausbildung in die USA gekommen waren, weitere Bedeutung trugen. Anwesende Generale widersprachen dabei Schmidts Bewertung der Amerikanisierung, es sei eher eine Internationalisierung, die sich vor allem durch die enge Einbindung in die NATO entwickelt habe.
Danach hielt ALEXANDER STRELAU der Bundeswehr den veröffentlichten Spiegel vor, der das Werden der deutschen Armee und Streitkräfte in den Medien von 1956 bis 1962 zeigte. Aus der Untersuchung von bisher 300 gesichteten Artikeln der Süddeutschen Zeitung und der Münchener Abendzeitung illustrierte er, inwieweit die Armee nicht mehr als ein Fremdkörper in der Gesellschaft wahrgenommen werden sollte. In Kooperation mit den jeweiligen Adenauer-treuen Redakteuren habe sich die Bundeswehr um ein positives Image, in dem Waffen - gar Krieg oder Zerstörung - keinen Platz fanden, bemüht. Um die Angst in der Bevölkerung vor den möglichen Folgen der Wiederbewaffnung zu bekämpfen, standen Journalisten und Soldaten Schulter an Schulter, so dass deutsche Uniformen im Lichte einer friedlichen Internationalität glänzen konnten. Dass die Daten und Fakten nur allzu gerne nach den Vorstellungen aus Bonn zusammengeschneidert wurden, hob Strelau immer wieder deutlich hervor. Es bleibt zu hoffen, dass Themen, wie beispielsweise die so genannte Starfighter-Krise, noch in den Untersuchungen berücksichtigt werden und so zum Erfolg dieses zukünftigen Dissertationsvorhabens beitragen werden.
Chronologisch genau dazu passend und an die Ausführungen von Strelau anknüpfend, war die von HEINER MÖLLERS fundierte Beschreibung des soldatischen Werdegangs von Johannes Steinhoff in den Gründerjahren der Bundesluftwaffe. Als Moderator eines sich anbahnenden Generationenkonflikts zwischen den Veteranen des Zweiten Weltkrieges, den neu ausgebildeten Piloten und den politischen Instanzen in Bonn gelang es diesem alsbald, die Luftwaffe - trotz der aus Mangel an qualifiziertem Personal und Struktur- und Planungsfehlern entstandenen "Starfigther-Krise" - zukunftsfähig zu machen. Mit großen Erwartungen ist der von Möllers begonnenen Biographie über diesen Mann der ersten Stunde entgegenzusehen.
Mit einem über die Ufer kommentierter Zusammenfassungen hinausgehendem Koreferat beschloss MARTIN RINK die zweite Sektion und konstatierte dabei, dass die Luftstreitkräfte seit den 1960er-Jahren mehr und mehr zu einem Abbild der Modernität und Reflexionsfläche des allgemeinen Lebensstils geworden waren. Unscharf blieb dabei jedoch der Begriff des Modernen. Folglich konnten diese amüsanten Ausführungen von "Atombomben und Atombusen" nur zu einem Teil als weitere Diskussionsgrundlage genutzt werden.
Als Zwischensequenz von der Bedeutung der Medien hin zur Frage nach dem museal Machbaren in der Reflexion der allgemein jüngsten aller Teilstreitkräfte verfolgte OLIVER FREI in der dritten Sektion die Bildästhetik und Ikonographie der Luftwaffe in der Selbstdarstellung. Ganz unmissverständlich trat dabei hervor, dass es möglichst Piloten sein sollten, die den Kern der Luftstreitkräfte repräsentieren sollten. "Schneller, höher, weiter", das olympische Motto spiegelt sich immer wieder in der Fotokunst wie der Nachwuchswerbung wider. In der Luftwaffe spielte man - und dies ist bis heute noch so - mit dem Reiz der Technik und dem Traum vom Fliegen. In die durch Sachzeugnisse greifbar werdende Geschichte der neuen deutschen Luftwaffe führten JÜRGEN RUBY und INES SCHÖBEL weiter. Ruby, der als Historiker bereits lange Jahre am Luftwaffenmuseum der Bundeswehr in Berlin tätig ist, wusste sehr genau zu vermitteln, dass sich die dem Militär unterstehenden Museen genau den gleichen Problemen gegenübersehen, wie sie in den meisten zivilen Institutionen alltäglich sind. So messen sich auch hier die Grenzen einer jeden neuen Ausstellung an den freigegebenen Finanzmitteln. Umso bemerkenswerter sind dann die dargestellten Pläne für den Um- und Ausbau des Luftwaffenmuseums, die zwangsläufig mit eigenen Kräften umzusetzen sein werden. Weit sei man von den fast unbegrenzten Mitteln entfernt, die beispielsweise dem Haus der Geschichte in Bonn zur Verfügung stünden, so Ruby. Inhaltlich sei aber auch zu bedauern, dass sowohl für die Luftwaffe als auch die Besucher gerade das, was fliegt, immer im Vordergrund zu stehen scheint.
Anschließend begann Schöbel ihre hoffentlich als Dissertation geplante Suche nach den "Lieux de mémoires", den Erinnerungsorten in der Luftwaffe. Mit dem Ziel, eine mentalitätsgeschichtliche Untersuchung einmal vorlegen zu können, führte sie durch die Rahmenbedingungen einer in der Luftwaffe längst überfälligen Diskussion über die kollektive Identität und damit verbundene Formen des Erinnerns an ausgewählten Orten im Bundesgebiet. Freilich ist dies - im Hinblick auf die Pläne zum Bau eines Bundeswehrehrenmals in Berlin - ein höchst aktuelles Projekt, das Elemente der Geschichts- und Sozialwissenschaften in interessanter Form vereint.
Nach einem thematisch wiederum sehr großen Sprung referierte JOHN ZIMMERMANN über die erkannte Dynamik in der von Wolf Graf von Baudissin begründeten Konzeption der "Inneren Führung". In gekonnter Schärfe wurden so Elemente der Bundeswehrgeschichte mit der Fortentwicklung der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verbunden. Nur so seien letztlich die Ansprüche Baudissins, eine Armee von "Staatsbürgern in Uniform" zu schaffen, sachgerecht zu verstehen. Besonders spürbar sei die dünne Forschungslage gerade im Zusammenhang mit den laufenden Debatten über das Jahr 1968. Eben dieser Riss in der Geschichte scheint bis heute weiterhin genug Potenzial für ein ganz eigenes Desiderat zu beinhalten. Schlüssel zur Aufarbeitung der Entwicklung von Vorbildern hin zu Leitsätzen scheint, folgt man den Ausführungen des Stabsoffiziers, die Personengeschichte, die bei Baudissin begann und weitere Hindernisse beim späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann oder dem nachmaligen Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner zu überwinden hatte. Allen Widrigkeiten zum Trotz, die der Grad der Heterogenität der Sektion mit sich brachte, wagte STEFANIE VAN DE KERKHOF einen fokussierten Kommentar, in dem sämtliche in den Vorträgen angedeuteten Typen der Erinnerungsformen in der Luftwaffe selbst thematisiert wurden. Problematisch schien dabei die Divergenz zwischen diesen und einer vom Bundesministerium der Verteidigung "verordneten" Erinnerungskultur zu sein. Letztlich vermisste auch sie die Frage nach einer ehrlichen und wissenschaftlichen Diskussion um die Traditionen der Luftwaffe. Vor diesem Hintergrund führte letztlich kein Weg an einer kontroversen Diskussion der Frage nach dem Vorhandensein einer Gedächtnisgemeinschaft in der fliegenden Teilstreitkraft vorbei. Ohne Zweifel sind dies Elemente gewesen, die nach der Notwendigkeit und Reichweite von Politischer und Historischer Bildung in den Reihen der Bundeswehr fragen ließen. MARTIN BREHL informierte in eben diesem Kontext über das Traditionsverständnis und über die, durch Personalknappheit bedingt, weiter um sich greifende mangelnde Geschichtskenntnis im Unteroffizierskorps der Luftwaffe. Fachliche Wunder sind freilich nicht zu erwarten, wenn so bisweilen nur runde 90 Minuten für historisch-politische Unterrichtseinheiten zur Verfügung stehen können. Faktisch heißt dies aber nicht, dass in den unteren Führungsebenen kein Interesse an einem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn vorhanden ist.
Den Abschluss einer langen, aber sehr ergiebigen Sektion bestritt BERNHARD CHIARI, der die praktische Bedeutung historischer Bildung für in den Auslandseinsatz gehende Soldaten beschrieb. Anhand der Reihe "Wegweiser zur Geschichte" stellte er anschaulich die einzelnen Facetten und Arbeitsweisen des MGFA vor, die, über die wissenschaftliche Grundlagenarbeit hinaus, einsatzbegleitend in die Planung und Umsetzung einer jeden Mission hinein wirken. Mit den einzelnen Bänden der Reihe, die thematisch vom Sudan über den Nahen Osten bis nach Afghanistan reichen, ist eine Erfolgsgeschichte 2005 begonnen worden, die vom MGFA oder aber auch von Kolleginnen und Kollegen getragen wird, die selbst vor Ort gewesen sind. Als schneller Einstieg in den historischen Grundrahmen eines Landes sind diese Veröffentlichungen - besonders für Vorträge - in unterschiedlichsten Sachfeldern der Geschichtswissenschaft zu empfehlen. Reizvoll ist die Tatsache, dass ein großer Teil des Inhaltes und die Karten direkt über die Homepage des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes abrufbar sind. 1
Mit dem vierten und letzten Teil begann letztendlich ein politikwissenschaftlicher Diskurs über die Bedeutung der deutschen Luftstreitkräfte im Zeitalter "Neuer Kriege" und durch internationalen Terrorismus geprägte Bedrohungslagen. SANDRA PILLATH gab vor diesem Hintergrund Aufschluss über das Prinzip der so genannten "vernetzten Sicherheit", welche als sicherheitspolitisches Prinzip nach den Zäsuren von 1989/90 und vom September 2001 etabliert worden ist. Um sich in diesem Network zurechtzufinden, bedürfe es der genauen Definition von dem, was eigentlich nationale Interessen in der Bundesrepublik ausmachen würden, so Pillath. Die Politik schweigt sich dazu weitgehend aus oder veröffentlicht dazu Weißbücher, die wenig präzise sind. - Die unübersichtlichen Strukturen der internationalen Organisationen, die sich als Akteure auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik im multinationalen Rahmen versuchen, erschwert die Standortbestimmung. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte dabei die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates sein, den so oder anders zahlreiche Länder haben. JOSEF KARL weitete die Perspektive aus, indem er Stellung zur Bedeutung der Luftwaffe in der durch die NATO-Osterweiterung veränderten Sicherheitslage bezog. Recht provozierend wirkte dabei die Frage, ob nicht bereits mit der Zusammenführung staatlicher Strukturen der DDR und der Bundesrepublik das Atlantische Bündnis seine Grenzen erstmals nach Osten hin ausgeweitet habe. Damit wurde bereits auf das Hauptproblem nicht weiter formulierter Beitrittskriterien verwiesen, das seit 1990 unbehandelt geblieben ist. Karl deckte dabei Entwicklungen auf, die zeigten, dass die Ausweitung der NATO nicht mehr nur durch sicherheitspolitische Aspekte bestimmt wird. Zunehmend kommen Elemente der Wirtschaft mit hinzu, die damit eine neue Bewertungsebene der NATO am Anfang des 21. Jahrhunderts eröffnet und die Grundparameter euro-atlantischer Kooperation verschieben. Das auf beiden Seiten des Atlantiks unterschiedliche Interessen das außen- und sicherheitspolitische Handeln leiten, bleibt da nicht verborgen.
Der aus den Reihen des fliegenden Personals stammende HANS-JÜRGEN KNITTLMEIER brach die bisher theoretische Diskussion dadurch auf, indem er die in Afghanistan gemachten Erfahrungen der Luftwaffe analysierte. Der Bedeutung der Thematik wenig entsprechend, folgte ein für Nichtstreitkräfteangehörige schwer verständlicher Vortrag über neue militärische Profile und nationale Zielvorgaben, die sich aus einer Vielzahl ungewohnter Abkürzungen ergaben. Allzu schematisch wurden mögliche Modernisierungsmöglichkeiten in der Luftwaffe abgearbeitet und ohne weitere Kontextuierung referiert. - Gleichwohl war der Vortrag auch sprachlich ein sicherer Beleg für bereits angesprochene Internationalisierung. "Denglisch" nennt es der Fachmann.
Als Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik sprach ALEXANDER BITTER über das Für und Wider der so genannten "Ballistic Missle Defense". Israel, Brückenkopf der westlichen Wertegemeinschaft im Nahen Osten, habe ein besonderes Interesse an einem solchen System, das ansonsten auf allen Seiten des Atlantiks die politischen Gemüter erhitzt. Jerusalem käme gerade Washingtons Zielen entgegen, wo man sehr darauf aus wäre, sich über die Stationierung solcher Raketensysteme neue Handlungsfreiheiten und Schutz für die im Nahen und Mittleren Osten aufgebaute militärische Infrastruktur zu schaffen. In Stichworten wie "Meads" und "Patriot" ließ sich die Bedeutung des Aspekts für die Zukunft der Bundesluftwaffe schließlich zusammenfassen. Berechtigt schien der Hinweis in der folgenden Diskussion zu sein, dass bei allen angesprochenen Konzepttheorien nicht der Mensch aus dem Blick verloren werden dürfe. Immerhin habe dieser doch seit Jahr und Tag den eigentlichen Charakter der Luftwaffe ausgemacht und versucht, die Öffentlichkeit davon abzubringen zu glauben, die Bundeswehr sei nur ein bewaffnetes THW.

Durch die zivile Brille des Historikers gesehen zeigte sich ein Gesicht der Luftwaffe, wie es in der Gesellschaft kaum bekannt sein dürfte. Im selbstkritischen Umgang miteinander offenbarte die Tagung die Suche der Bundesluftwaffe nach einer eigenen und vor allem tragfähigen Identität, die national legitimierbar und international bündnistauglich ist. Zu hoffen bleibt, dass diese Zusammenkunft nicht die letzte ihrer Art gewesen ist. Wünschenswert wäre, dass dies der Anfang eines offenen Diskurses, vielleicht gar einer Tagungsreihe gewesen ist, und die militärische-zivile Aussprache auf Fragen zum Fortbestand von Tradition - ein Thema das die älteren Gemüter erhitzt und vermutlich eher für emotionale als für sachliche Diskussionen zu taugen scheint - der Bedeutung des Eides auf die Verfassung und Gender-Aspekte ausgeweitet werden kann. Insgesamt war es eine fokussierte Grundlagenarbeit, die in Vorbereitung und Umsetzung in großer Konkurrenz zum interdisziplinären Austausch ziviler Fachvertreter steht. Ein Sammelband der Beiträge wäre ein guter nächster Schritt hin zu einem ähnlichen Kolloquium. Dass die Luftwaffe sich im Bereich der Erforschung des eigenen Werdens auf einen hohen wissenschaftlichen Standard berufen kann und nicht bloß auf die Wirkung ihrer Uniformen vertrauen muss, hat diese substanzreiche Tagung sehr erfolgreich gezeigt.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch den Amtschef MGFA, Oberst Dr. Hans Ehlert

Einführungsvortrag: Dr. Klaus A. Maier, Oberst a.D. (ehem. MGFA), Luftkriegskonzeptionen nach dem 2. Weltkrieg und ihre Auswirkungen auf das strategische und politische Denken

Sektion 1: Wurzeln und historische Vorläufer, Ltg.: Dr. Wolfgang Schmidt (MGFA)
Dr. Harald Potempa, Oberstleutnant, (MGFA): Von den Luftschiffern zur Auflösung der Fliegertruppe nach dem Ersten Weltkrieg
Andreas Haggenmiller, Dipl. StaatsWiss, Oberleutnant, (Luftwaffenausbildungsregiment, Mengen): Das Offizierkorps der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg - eine nationalsozialistische Elite?
Dr. Bernd Lemke, WissORat, (MGFA): Kulturkontakt im Krieg - Der deutsche Luftwaffeneinsatz 1941 im Irak und seine Diskussion nach 1945
Julian Finke M.A., (MGFA): Die NVA-Luftstreitkräfte im Diensthabenden System des Warschauer Paktes
Kommentar: Dr. Oliver von Wrochem (HSU - UniBw, Hamburg)

Sektion 2: Neuer Anfang oder Neuanfang? - Die Luftwaffe in der Aufstellungsphase, Ltg.: Dr. Eberhard Birk (Offizierschule der Luftwaffe, Fürstenfeldbruck)
Dr. Bruno Thoss (ehem. MGFA), Die Luftwaffe und der Strategiewandel der NATO 1958 bis 1968
Dr. Wolfgang Schmidt, Oberstleutnant, (MGFA): Internationalität versus Nationalisierung - Die Amerikanisierung der Bundesluftwaffe
Alexander Strelau, Dipl. StaatsWiss, Leutnant, (Luftwaffenausbildungsregiment, Roth): Die Bundeswehr im Spiegel der Medien 1956 bis 1962
Dr. Heiner Möllers, Oberstleutnant, (Luftwaffenamt, Köln): Ein Mann der ersten Stunde: Johannes Steinhoff
Kommentar: Dr. Martin Rink, (Universität Potsdam)

Sektion 3: Selbstbild und Selbstverständnis, Ltg.: Dr. Heiner Möllers (Luftwaffenamt, Köln)
Oliver Frei, M.A., Hauptmann der Reserve, (Alfter): Die Luftwaffe im Bild - Visualisierung einer technisierten Teilstreitkraft
Dr. Jürgen Ruby, (LwMuseumBw, Berlin-Gatow): Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung der Luftwaffe im Museum
Dr. John Zimmermann, Oberstleutnant, (MGFA): Von Vorbildern zu Leitsätzen - Die Dynamik der Inneren Führung in der Luftwaffe
Ines Schöbel, M.A., Oberleutnant, (Flugabwehrraketengeschwader 2, Bad Sülze): Lieux de mémoires (Erinnerungsorte) der Luftwaffe? - Ein Forschungskonzept
Kommentar: Dr. Stefanie van de Kerkhof (Ruhruniversität Bochum) Martin Brehl, M.A., Hauptmann der Reserve, (Unteroffizierschule der Luftwaffe, Appen): Vom Nutzen der Historischen Bildung in der
Unteroffizierausbildung
Dr. Bernhard Chiari, (MGFA): Die Reihe "Wegweiser zur Geschichte" - Historische Bildung des MGFA im Rahmen der Einsatzvorbereitung

Sektion 4: Perspektiven, Ltg.: Dr. John Zimmermann (MGFA)
Alexander Bitter, Dipl.Päd., Major i.G., (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin): Ballistic Missile Defense: Rahmenbedingungen und Perspektiven für die Luftwaffe
Sandra Pillath, Dipl.Pol., Leutnant, (Flugabwehrraketengruppe 26, Husum): Die Luftwaffe in der Sicherheitsarchitektur des 21. Jahrhunderts
Josef Karl, M.A., Oberleutnant der Reserve, (Universität Regensburg): Die Luftwaffe nach der NATO-Osterweiterung
Hans-Jürgen Knittlmeier, Oberstleutnant i.G., (BMVg, Bonn): Die Luftwaffe im Einsatz, die Luftwaffe der Zukunft
Kommentar: Jörg Zelt, DiplPol, Hauptmann der Reserve, (Karl-Theodor-Molinari-Stiftung, Berlin)

Vorträge der Tagungsbeobachter, Ltg.: Dr. John Zimmermann
Dr. phil Katharina Hoffmann, (Carl-von-Ossietzki-Universität, Oldenburg)
Dr. Gerhard P. Groß, Oberstleutnant, (MGFA)

Anmerkungen:
1 <www.mgfa.de> (01.07.2008)


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