Socialist InterNationalism. Envisioning and Experiencing Nationalism and Internationalism in the Soviet Union, 1945-1990

Socialist InterNationalism. Envisioning and Experiencing Nationalism and Internationalism in the Soviet Union, 1945-1990

Organisatoren
Jörg Baberowski, Maike Lehmann, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.07.2008 - 11.07.2008
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Von
Tobias Rupprecht, Universität Tübingen

Völkerfreundschaft und sozialistischer Internationalismus galten als Prinzipien des Zusammenlebens der Vielzahl von Ethnien und Kulturen innerhalb der Sowjetunion, wie auch als Ausdruck des sowjetischen Selbstverständnisses als Vorhut im Kampf um nationale Unabhängigkeit und soziale Gleichheit auf globaler Ebene. Mit Fragen nach der Umsetzung und den Auswirkungen nach innen wie nach außen sowie zu den Folgen bis heute beschäftigte sich ein – passend zum Thema – internationaler Workshop an der Humboldt-Universität in Berlin. Die Übertragung transnationaler Ansätze auch auf die Geschichte der Sowjetunion erlaubte so neue Einsichten über Zusammenhalt und Reibungen im sozialistischen Lager des Kalten Kriegs. Im Mittelpunkt stand dabei weniger die gängige Frage nach den Gründen für den Zerfall der Sowjetunion, wie Mitorganisator Jörg Baberowski (Berlin) in seiner kurzen Eröffnung anmerkte, sondern eher eine Suche nach stabilisierenden Faktoren und integrativen Momenten, die das jahrzehntelange Zusammenleben jenseits der ebenso präsenten Gewalt und Unterdrückung gewährleisteten.

Den Anfang machte die Organisatorin MAIKE LEHMANN (Berlin) selbst. Am Beispiel der armenischen Sowjetrepublik zeigte sie, mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen Menschen die Schlagworte der Völkerfreundschaft und des Sozialistischen Internationalismus füllten. Bei allen Restriktionen sei das Alltagsleben der Sowjetunion tatsächlich von transnationalen Phänomenen geprägt gewesen – Menschen verschiedenster Kulturen interagierten auf vielfältige Weise, und wenn auch Reisen ins kapitalistische Ausland kaum möglich waren, wirkte der Westen über seine Populärkultur auch bis in die Peripherie der Sowjetunion. Nationale armenische Interessen gegenüber anderen Gruppen der Sowjetunion wurden stets im Vokabular des sowjetischen Internationalismus artikuliert – oft auch mit Verweis auf das Bild der Sowjetunion im westlichen Ausland, indem man beispielsweise den Konflikt um Berg-Karabach mit dem Befreiungskampf der Völker in Vietnam oder Palästina verglich. Dies geschah nicht aus reinem Opportunismus, so Lehmann, sondern auf Grundlage einer kreativen Aneignung des internationalistischen Wertekanons. In einem ähnlichen globalen Kontext stand die sowjetische Haltung zur interethnischen Heirat. Zu Zeiten, in denen europäische Staaten in ihren Kolonien und die USA in ihren Südstaaten aus einem biologischen Rassismus heraus gemischtrassische Ehen verboten oder wenigstens zu verhindern suchte, wurden sie in der Sowjetunion von offizieller Seite sogar propagiert. ADRIENNE LYNN EDGAR (Santa Barbara) machte in ihrem Beitrag deutlich, wie russisch-zentralasiatische Mischehen als Beschleuniger des Modernisierungsprozesses gefeiert wurden, allerdings auch nur begrenzt Anklang fanden.

PETER BLITSTEIN (Appelton, Wisc.) schlussfolgerte aus seiner Analyse sowjetischer Geschichtsbücher der 1930er Jahre, dass die UdSSR unabhängig von anderslautender offizieller Rhetorik versuchte, den verschiedenen Ethnien und Kulturen eine gemeinsame Geschichte zu verpassen und damit eine sowjetische Nation zu generieren, die nur nicht so genannt wurde – bekanntermaßen sprach man stets vom Sowjet_volk_. Diese Ansätze seien aber im Lauf der 1940er Jahre zugunsten einer russozentrischen Historiographie aufgegeben worden. Wie komplex darausfolgend die erwünschte wie die tatsächliche Identifikation der Menschen auf lokaler, nationaler und Unionsebene vonstatten ging, zeigte IULIIA KYSLA (Kiew) anhand des literarischen Werks des ukrainischen Schriftstellers Oles Honchar.

Dass der Austausch auf globaler Ebene nicht nur diskursiv stattfand, sondern auch in handfesten Begegnungen, schilderten CONSTANTIN KATSAKIORIS (Paris) und MAXIM MATUSEVITCH (Seton Hall). Im Zentrum ihrer Ausführungen standen afrikanische und asiatische Intellektuelle und Studenten. Mit dem Kurswechsel nach 1953/56 galten, so Matusevitch, bürgerliche Nationalisten in (post-)kolonialen Gebieten nicht mehr als Klassenfeinde, sondern konnten wie schon in den frühen 1920er Jahren auf die Unterstützung der UdSSR setzen. Die darausfolgende Präsenz von Studenten und Intellektuellen der Dritten Welt in der Sowjetunion hatte jedoch ihre unkalkulierte Rückwirkungen: Besonders afrikanische Besucher hätten sich oft als sehr kritische Gäste erwiesen, und afrikanische Studenten als Repräsentanten westlicher Vorstellungen. Die Bevölkerung reagierte auf diese direkte Variante der Völkerfreundschaft ambivalent. Eine große Faszination für die Studenten und rassistische Übergriffe gingen nebeneinander einher. Etwas im Kontrast zur Bedeutung von Ethnie und Nation in der sowjetischen Doktrin auf Unions- und globaler Ebene stand laut NIKOLAI MITROCHIN (Berlin/Moskau) der Begriff von Ethnie innerhalb des Zentralkomitees der KPdSU – dort wurden entsprechende Zuschreibungen um den eigenen Regeln gerecht zu werden sehr pragmatisch gehandhabt.
Über die integrative und identifikationsstiftende Funktion des Fußballs in der Sowjetunion sprach MANFRED ZELLER (Hamburg). Auf der einen Seite übernahmen Fußballanhänger in der UdSSR Ausdrucksformen und Praktiken von englischen und lateinamerikanischen Fans. Gleichzeitig verkörperte ein Verein wie Dynamo Kiew den sozialistischen Internationalismus und war so anschlussfähig für eine Anhängerschaft aus allen Teilen der Union. Auffällig aber, so Zeller, dass sich ein Großteil seiner Fans aus der nicht-russischen Peripherie rekrutierte, und sich so über das Medium des Internationalismus gegen den Moskauer Zentralismus stellte.

ISABELLE DE KEGHEL (Konstanz) analysierte fotographische Repräsentationen von Staatsmännern der UdSSR und der DDR in sowjetischen Zeitschriften. Gerade das Beispiel des ehemaligen Kriegsgegners Deutschland gewährte so Einblicke in die mediale Konstruktion von Völkerfreundschaft. Wie sehr das hehre Ideal des Internationalismus oft auf harsche Realitäten stieß, erzählte mit viel Empathie ELIZABETH MCGUIRE (Berkeley). Viele chinesische Kommunisten ließen ihre Kinder in der Sowjetunion der Vorkriegszeit in Kinderheimen aufwachsen. Diese Kinder des Internationalismus, aber eben doch russisch sozialisiert, hatten massive Schwierigkeiten, sich nach ihrer „Rückkehr“ nach China dort zu akkulturalisieren.

Das letzte Panel des Workshops beschäftige sich mit Erinnerung und Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit. THEODORE WEEKS (Carbondale, Ill.) für Litauens Hauptstadt Vilnius, TARIK CYRIL AMAR (Lemberg) am Beispiel Lembergs, zeigten, wie Kontinuitätslinien konstruiert und Ambiguitäten des sowjetischen nation buildings geglättet oder ganz beseitigt wurden. Für beide Städte gelte, dass eine kommunistische Minderheit aus der folgenden Titularnation die nationale Karte spielte, vor allem um nationalistische, aber politisch indifferente Kreise der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Religiöse Traditionen und die Präsenz (und Vertreibung) anderer Völker oder Kulturen seien dagegen gezielt „vergessen“ worden. Auch wenn heutige Nationalisten es gerne anders sähen: Die Ukraine wie Litauen (und andere ehemalige Unionsrepubliken) sind in ihrer Grenzziehung, mit ihren Hauptstädten und ihrer Bevölkerung sowjetische Kreationen.

Schließlich standen die Teilnehmer vor dem üblichen Problem, viele angeschnittene Themen unter einen Hut zu bekommen. Nur umrissen wurde die Frage nach dem Zusammenhang der Konstruktion von Nationen innerhalb der UdSSR und den in der Phase der Dekolonisierung nach außen getragenen Konzepten. Feststeht, dass das westliche Konzept der Nation, laut klassischem Marxismus ja eine dem Untergang geweihte Kategorie, nicht im Gegensatz zum realsozialistischen Weltentwurf stand. Der sozialistische Internationalismus hatte weiter die Nation als Ausgangspunkt, auf dem sowjetische Werte wie Antiimperialismus, Antifaschismus und die Überwindung von vermeintlicher Rückständigkeit aufbauten. Diese Werte waren nicht nur Ausdruck imperialen Machtstrebens einer politischen Elite, sondern wurden auch von der sowjetischen Bevölkerung – in kreativen Aneignungsprozessen – internalisiert. Am Ende des Workshops wurde einerseits die These geäußert, dass Völkerfreundschaft und sozialistischer Internationalismus Versuche waren, den europäisch-russischen Rassismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Dies gelang zeitweise durchaus erfolgreich, scheiterte letztlich aber doch, wie die überbordende Fremdenfeindlichkeit im Russland der 1990er Jahre zeigen sollte. Die meisten Beiträger betonten jedoch eher die integrativen Faktoren, die die Koexistenz zahlreicher Völker, Kulturen, Ethnien und Identitäten über einen so langen Zeitraum ermöglichten. Grundsätzlich standen zwei Erklärungsansätze zur Debatte, von denen der eine eher Herrschaft und Empire ins Zentrum rückte, der andere gemeinsame Visionen und Werte, auch wenn diese im Einzelfall unterschiedlich ausgelegt wurden. Die transnationale Erweiterung der sowjetischen Gesellschaftsgeschichte, wie auf diesem Workshop eindrucksvoll gezeigt, bietet einen produktiven Ansatz, diesen grundlegenden Fragen nach dem Zusammenhalt der Sowjetunion nach 1945 und ihrer Bedeutung für die Dritte Welt weiter auf den Grund zu gehen.

Konferenzübersicht:

Welcome – Jörg Baberowski (Humboldt-Universität zu Berlin)

POLICIES & POLITICS

Chair: Maxim Matusevich (Seton Hall University/Harvard University)

Maike Lehmann (Humboldt-Universität zu Berlin)
Peripheral Politics? Nationalism and Internationalism in Armenia after 1945

Adrienne Lynn Edgar (University of California at Santa Barbara)
Marriage, Modernity, and the ‘Friendship of Nations’: Interethnic Intimacy
in Postwar Soviet Central Asia in Comparative Perspective

VIEWS & VISIONS I

Chair: Maike Lehmann (Humboldt-Universität zu Berlin)
Peter Blitstein (Lawrence University)
Imagining a Soviet Nation? ‘The History of the USSR’ as a National
Discourse, 1934-1950

Iuliia Kysla (Central European University, Budapest)
Soviet Patriotism: the Case of Oles Honchar

Discussant: Nikolaus Katzer (Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg)

VIEWS & VISIONS II

Chair: Christian Teichmann (Humboldt-Universität zu Berlin)

Constantin Katsakirois (EHEES, Paris)
Soviet Ideology and the Afro-Asian Intellectuals: East-South ‘Solidarity’,
Internationalism and Nationalism in the Postcolonial World

Nikolai Mitrokhin (Memorial Moscow/Humboldt-Universität zu Berlin)
Understandings of Ethnicity within the Central Committee Apparatus, 1953-1985

Discussant: Thomas Mergel (Humboldt-Universität zu Berlin)

ENCOUNTERS

Chair: Tobias Rupprecht (Eberhard-Karls-Universität Tübingen)

Isabelle de Keghel (Universität Konstanz)
Unequal Friends? Visual Representations of Soviet-East German relations,
1945-1964

Manfred Zeller (Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg)
Cultured and Polite: Dynamo Kiev’s Fan Culture between Local Identity and
Multinational Imagination

Discussant: Maike Lehmann (Humboldt-Universität zu Berlin)

COMMON PLACES

Chair: Robert Kindler (Humboldt-Universität zu Berlin)

Maxim Matusevich (Seton Hall University/Harvard University)
‘Education under the Ocean’: African Students, Blackness, and the Subversion
of Soviet Values

Elizabeth McGuire (University of California at Berkeley)
A Homecoming: The Chinese Children of the Russian Revolution “Return” to
China, 1950

Discussant: Adrienne Lynn Edgar (University of California at Santa Barbara)

MEMORIES & MEMORALIZATION

Chair: Alexandra Oberländer (Humboldt-Universität zu Berlin)

Theodore Weeks (Southern Illinois University)
From Multiethnic City to Lithuanian Socialist Capital: Erasing the Polish
and Jewish Past in Vilnius, 1945-1955

Tarik Cyril Amar (Centre for Urban History, Lviv)
The Past as a Conquered Country: Reconstructing pre-Soviet Communism and a pro-Soviet Underground in Lviv, 1944 - 1968

Discussant: Jan Behrends (Wissenschaftszentrum Berlin)