Typographie und Literatur

Typographie und Literatur

Organisatoren
Rainer Falk, Thomas Rahn und Stefanie Rentsch, SFB 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2008 - 27.09.2008
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Von
Thomas Philip Nehrlich, Berlin

Vom 25. bis zum 27. September 2008 fand an der Freien Universität Berlin die Tagung „Typographie und Literatur“ statt. Sie wurde im Rahmen zweier Teilprojekte des Sonderforschungsbereichs 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ von Rainer Falk, Thomas Rahn und Stefanie Rentsch konzipiert und organisiert.

Die Tagung wurde eröffnet durch einige Grußworte und einführende Bemerkungen der Organisatoren. Insbesondere wurde auf den Status der Typographie als wissenschaftlichem Untersuchungsgegenstand hingewiesen. Dabei ist das Fehlen eines klaren methodischen Zugriffs zu bemerken: Wenn die Typographie überhaupt wissenschaftliche Berücksichtigung findet, dann mischen sich häufig historische, buchwissenschaftliche, linguistische und verschiedene literaturwissenschaftliche Ansätze zu einem diffusen Eklektizismus. Auch deshalb hat die Untersuchung der Typographie für viele Philologen noch etwas von einer zweifelhaften ‚Geheimwissenschaft‘, für die sich nur ohnehin Eingeweihte interessieren. Die Ziele der Tagung bestanden daher unter anderem darin, die Beschäftigung mit der Typographie einem breiteren Publikum nahezubringen, die Typographie als (literatur-)wissenschaftlichen Gegenstand darzustellen und dessen Status zu festigen sowie Ansätze zu einer methodischen Systematisierung vorzustellen. Drei Problemkomplexe sollten dabei im Vordergrund stehen: Erstens ist aus Sicht der Hermeneutik zu fragen, in welchem Verhältnis Deutung und Typographie zueinander stehen: Problematisch ist vor allem, dass die Hermeneutik tendenziell versucht, den Zugriff auf einen Text durch Neutralisierung akzidenteller ‚Sinn-Widerstände‘ zu gewährleisten und dazu neigt, die Typographie als einen dieser Widerstände zu begreifen und daher die Beschäftigung mit diesem vermeintlich nicht zum Text selbst gehörigen Aspekt absichtlich zu vermeiden. Zweitens ist aus rezeptionsästhetischer Perspektive auf die historische Alterität als Schwierigkeit hinzuweisen: Da es unmöglich ist, vollständige Zeitgenossenschaft zu einem historischen Text herzustellen, besteht in der Rezeption grundsätzlich das Problem, dass uns Heutige stets auch diejenigen typographischen Elemente aufmerksam machen und zur Untersuchung anregen, die inzwischen zwar außergewöhnlich scheinen, in ihrer Zeit jedoch völlig gewöhnlich und konventionell waren. Diese Schwierigkeit kann naturgemäß mit dem Alter der Texte zunehmen. Komplementär dazu ergibt sich drittens aus produktionsästhetischer Perspektive die Frage, inwiefern wir Bedeutung bei typographischen Phänomenen annehmen können, die innerhalb des historischen typographischen Systems entweder einem Regelzwang unterlagen oder aber einen Fehler darzustellen scheinen.

Typographie und Kognition

SVEN LIMBECK (Wolfenbüttel) eröffnete die Tagung mit einem Vortrag über den ältesten Text des Tagungsprogramms: Das „Missale romanum“ von 1570 stellt ein Ergebnis des Konzils von Trient dar, durch welches der katholische Ritus vereinheitlicht werden sollte, und ist noch heute maßgeblich für die katholische Messordnung. Limbeck führte vor, welche typographischen Elemente im Druck des Missale zum Einsatz kommen und ging vor allem auf die eingefügten Holzschnitte, die Initialen und die Rubrizierung ein. Allen drei Verfahren kommt eine ordnende Funktion zu, indem sie das Missale auf makro- und mikrostruktureller Ebene gliedern und unterteilen. Diese Funktion ist umso wichtiger, als das Missale aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammengesetzt ist und zuvor geschiedenes Textmaterial in sich versammelt. Die Typographie antwortet daher auf die Notwendigkeit, sich in dem sehr heterogenen Inhalt zurechtzufinden und den Ablauf der Messe auch auf der Ebene des Textes zu strukturieren, der ihr zu Grunde liegt. Besonderes Augenmerk verdient die Rubrizierung, die all jenes Textmaterial hervorhebt, das nicht vorgelesen wird, sondern Handlungen und Gestik des Priesters während der Messe vorschreibt. Durch die typographische Trennung zwischen Inhalt und Form der Messe, zwischen zu lesendem und darzustellendem Text wird das Missale, so Limbeck, zu einem performativen Text, der seine eigenen Organisationsprinzipien offenbart und mithin im Grunde auch von Laien ausgeführt werden könnte.

STEPHAN KAMMER (Berlin) wandte sich dem Genre der Polemik und ihrer typographischen Gestaltung zu. Er zeichnete zunächst die historische Entwicklung der Streitschriften nach, die noch in der Frühen Neuzeit einen großen gestalterischen und inhaltlichen Spielraum besaßen, ehe die Streitkultur bestimmter in den Universitätsdiskurs verschoben und dort stärker normiert wurde. Auf Kammers Leitfrage, ob sich genuin zu dieser Streitkultur gehörige typographische Formate feststellen lassen, lässt sich jedoch trotz dieses diskurshistorischen Wandels antworten: Allgemein findet die Polemik ihren typographischen Niederschlag zunächst vor allem am Rand von Texten, also etwa in Fußnoten und Marginalien, wo über den eigenen Text hinausweisend kritisch auf andere Texte Bezug genommen werden kann. Doch gilt dies nicht nur für die Ränder, auch die innere Organisation der Texte wird Teil einer spatialen Struktur, die die polemische Ordnung von Rede und Widerrede, Aussage und Kritik widerspiegelt: So wird insbesondere die Aufteilung des Satzspiegels in Spalten und/oder Zeilenblöcke benutzt, um eine graphische Trennung zwischen Zitaten und ihrem Kommentar bzw. These und Gegenthese herzustellen und ihr Verhältnis auf den ersten Blick zu veranschaulichen. Besonders ausgefeilte Polemiken wie etwa in Pierre Bayles „Dictionnaire historique et critique“ kombinieren etliche der genannten Verfahren und entwickeln auf diese Weise eine komplexe Verweisstruktur, die die Reichweite der Polemik auf eine gesamte Wissenskultur erweitert.

CHRISTOF WINDGÄTTER (Berlin) widmete sich dem „Internationalen Psychoanalytischen Verlag“, der, auf Initiative Sigmund Freuds gegründet, zwischen 1919 und 1938 in Wien bestand. Der Verlag veröffentlichte zur Zeit seines Bestehens fast sämtliche psychoanalytische Literatur, darunter mehrere Periodika und die späteren Werke Freuds. Windgätter stellte vor allem die Umschlaggestaltung des Verlages in den Vordergrund, weil sich bei dieser ein großes Maß an Vereinheitlichung feststellen lässt: Insbesondere unter der Leitung Adolf Josef Storfers erscheinen fast alle Publikationen des Verlages in einer einheitlichen Gestaltung: Vor allem in gelber und roter Farbe gehalten (Storfer verwies auf eine wissenschaftliche Untersuchung, die schwarze Schrift auf gelbem Grund als zur Lektüre am besten geeignet erwiesen haben wollte) und häufig in der Cochin gesetzt, prägte dieses Layout nicht nur – wie von anderen Verlagen auch bekannt – einzelne Reihen oder Werkausgaben, sondern annähernd das gesamte Verlagsprogramm; diese Layout-Strategie kann als Vorläufer des ‚corporate design‘ aufgefasst werden. Windgätter brachte sie in einer kulturgeschichtlichen Kontextualisierung mit dem massenhaften Aufkommen des Schaufensters in Zusammenhang, wodurch das bis dahin typographisch und werbetechnisch uninteressante Äußere der Bücher zu einem ökonomischen und gestalterischen Faktor wurde.

RAINER FALK (Berlin) schloss mit seinem Vortrag nahtlos an die beiden vorangehenden an, indem er den dort angeschnittenen Aspekt der typographischen Konvention und Formatierung theoretisch entwickelte. Im Anschluss an Susanne Wehdes Definition des ‚typographischen Dispositivs‘ als „makrotypographische Kompositionsschemata, die als syntagmatische gestalthafte ‚Superzeichen‘ jeweils Textsorten konnotieren“1, führte Falk vor, wie stark eine Textsorte durch ihre typographische Realisierung determiniert sein kann. Dabei wird das typographische Dispositiv zu einem so einheitlichen und stabilen Gestaltungsformat, dass Texte eines bestimmten Genres sofort und eindeutig als solche erkennbar sind. Am Beispiel des Dramas führte Falk die historische Entwicklung eines solchen Dispositivs vor, in deren Verlauf sich die charakteristische konventionelle Aufteilung in Repliken, die Absetzung des Nebentextes (Szenen- und Regieanweisungen) und die Voranstellung der Figurennamen herausgebildet haben. Aus heutiger Sicht erregen dabei vor allem die evolutionären Vorstufen und Varianten Aufmerksamkeit, weil sie die Arbitrarität des konventionalisierten Dispositivs kenntlich machen. Freilich gibt es stets Versuche, diese konventionelle Darstellung typographisch zu unterlaufen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass textsortenspezifische typographische Dispositive wie das des Dramas nicht nur für begrenzte Nationalliteraturen gültig sind, sondern maßgeblich ganze Kulturräume prägen.

In seinem Abendvortrag gewährte der einzige zur Tagung geladene Typograph FRIEDRICH FORSSMAN (Kassel) einen Einblick in seine Tätigkeit als Gestalter mehrerer wissenschaftlicher Editionen. Forssman, der über die gesamte Tagung hinweg mit typographischem Fachwissen lehrreich zur Seite stand bzw. Ungenauigkeiten berichtigte, berichtete, dass er oft auch in den Editionsprojekten, an denen er beteiligt ist, einen Sonderstatus bezüglich der Typographie innehat: Er berichtete, dass die Editoren, die ihn beauftragten, nicht selten keine klaren Vorstellungen von der typographischen Realisierung der Ausgaben hätten, was ihm als Typographen zwar viel Freiraum ließe, zugleich aber angesichts der Bedeutung der Gestaltung, in der die Edition dem Rezipienten schließlich entgegentritt, beinahe zu viel Verantwortung mit sich bringe. An zahlreichen Beispielen, unter anderem der Manuskript-Edition von Arno Schmidts „Leviathan“, der neuen Suhrkamp-Gesamtausgabe Walter Benjamins sowie der Oßmannstedter Wieland-Ausgabe, führte Forssman verschiedene in unterschiedlichem Maße augenscheinliche typographische Möglichkeiten vor, die Gestaltung der Edition auf Zeit, Person und Werk des Autors abzustimmen und dadurch auf typographischer Ebene Bezüge zum Gegenstand der Edition und dem Inhalt herzustellen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Arno Schmidt notierte seinen Romanerstling kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf zweckentfremdeten Formularblättern des englischen Militärs; diese waren in der Gill gesetzt. Forssman greift diese Eigenheit auf, indem er in der „Leviathan“-Edition die Gill für autorfremdes Textmaterial einsetzt: Auf diese Weise ist sowohl in den Manuskripten als in der Edition die Gill das Kennzeichen der Texte, die nicht von Schmidt selbst stammen.

Literatur im typographischen System

ULRICH JOOST (Darmstadt) behandelte in seinem kulturgeschichtlichen Vortrag das deutsche Spezifikum der Zweischriftigkeit und den damit verbundenen Antiqua-Fraktur-Streit und zeichnete den Verlauf der Schriftentwicklung in Deutschland seit Gutenberg bis in die Gegenwart nach. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstand, im Zusammenhang mit Publikationsprojekten Kaiser Maximilians I. und mit Rückgriff auf Formen der Textura, die Fraktur. Bereits in frühester Zeit wurde die Differenz zwischen älterer Antiqua und Fraktur ideologisiert und nationalisiert, sodass etwa die Reformation die Fraktur für ihre Zwecke vereinnahmte. Um 1700 sprach sich hingegen Leibniz für die allgemeiner verbreitete und internationalere Antiqua auch für den Druck deutschsprachiger Texte aus, eine Position, die fast folgenlos bleiben sollte, bis ab 1750 wieder deutsche Dichter aus Distinktionsgründen zur Antiqua griffen. Einflüsse aus der Schweiz, in der die Antiqua seit Bodmer und Breitinger akzeptierter und häufiger angewandt war, wirkten dann etwa auf Wieland, Goethe und Schiller ein. Nach der napoleonischen Besatzung jedoch wurde die Antiqua als Schrift des Feindes wiederum fast vollständig verdrängt und die Fraktur erneut nationalisiert. Dennoch setzten sich Germanisten wie die Grimms im Laufe des 19. Jahrhunderts erneut für die Antiqua ein. Die Nazis übernahmen später zunächst gern den national-ideologischen Gehalt der Fraktur; auf ‚Führerbefehl‘ wurde jedoch im Januar 1941 der „Normalschrifterlass“ ausgegeben, demzufolge die in völliger historischer und sachlicher Unkenntnis als „Schwabacher Judenlettern“ bezeichnete Fraktur zunächst im offiziellen Schriftgebrauch und schließlich generell abgeschafft werden sollte. Möglicher Hintergrund dieses Erlasses ist laut Joost der Umstand gewesen, dass Gesetzesverstöße in besetzten Gebieten dadurch gerechtfertigt worden seien, dass die Regelungen von den Fraktur-Unkundigen nicht hätten gelesen werden können, was aus heutiger Sicht nicht verwundert angesichts erheblicher Mängel in der Lesefähigkeit von Fraktur selbst bei Studierenden der Germanistik.

GERRIT BRÜNING (Berlin) stellte ein Editionsprojekt vor, an dem er selbst beteiligt ist. Der Roman „Die Asiatische Banise“ von Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen erschien 1689 und wurde einer der meistgelesenen Barockromane. Die Berliner Edition möchte den Text nun wieder zugänglich machen und eine wissenschaftliche Erschließung ermöglichen. Deshalb haben sich die Editoren dazu entschlossen, die Texttreue nicht nur auf Ebene der Orthographie zu gewährleisten, sondern auch auf Aspekte der Typographie auszudehnen. Brüning plädierte dafür, Orthographie und Typographie nicht als getrennte, sondern voneinander abhängige Elemente eines Textes zu betrachten, und sprach sich dafür aus, die beabsichtigte Herstellung einer historisch getreuen und angemessenen Textfassung nicht nur auf Inhalt und Schreibung zu beschränken. Gegen die heutige, nahezu ausnahmslose Translitterierung von ehemals in Fraktur erschienen Texten in Antiqua argumentierte Brüning ex negativo: Für jeden Eingriff in Wort- oder Lautstand muss sich ein Herausgeber rechtfertigen, warum gelte dies nicht auch für die Typographie? Indem er erklärte, es gebe zwar kaum zwingende Gründe für die Beibehaltung der Fraktur, jedoch wohl noch weniger für die Umschrift in Antiqua, strebte Brüning die Umkehr der Beweislast an, sodass nicht mehr die Konservierung, sondern die Emendation der Typographie rechtfertigungspflichtig würde. In der anschließenden Diskussion wurde diese Argumentation einerseits anerkannt, andererseits äußerten sich mehrere Tagungsteilnehmer skeptisch in Hinblick auf den Nutzen und die Durchführbarkeit des Ansatzes. Fraglich war unter anderem, welche typographischen Elemente übernommen werden sollten und welche, auch unter ökonomischen Zwängen, entfallen müssten (etwa der geringe, in heutigen Maßstäben unrentable Satzspiegel der Barock-Oktavdrucke); problematisiert wurde auch das Konzept der typographischen Treue, das zwischen Quasi-Faksimile und loser Anlehnung einen großen Spielraum lässt. An der teils emotional geführten Debatte ließ sich, so Forssman, noch immer das ideologische Potenzial des „F-Wortes“ (Fraktur) ablesen.

RÜDIGER NUTT-KOFOTH (Wuppertal/Hamburg) zeichnete in einem editionswissenschaftlichen Vortrag die Herausbildung eines immer komplexeren typgraphischen Informationssystems in neugermanistischen Ausgaben nach. Spätestens seit der Sattlerschen Hölderlin-Ausgabe ab 1975 wird der Bedeutung von Handschriften als maßgeblicher Textträger durch faksimilierten Abdruck entsprochen. Doch schon davor, etwa in Goedekes Schiller-Ausgabe, wird der fundamentale Charakter der Manuskripte erkannt; in der Zeit bis zu den Faksimile-Ausgaben und auch in diesen wird deshalb durch eine typographische Nachbildung versucht, die Gestalt des Autographen auch im Druck kenntlich und durch die Edition zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck wurden verschiedene typographische Verfahren und Merkmale eingesetzt, so z.B. verschiedene Drucktypen, Auszeichnungsweisen und diakritische Zeichen. Nutt-Kofoth führte aus, dass die typographische Verfasstheit dieses Bestandteils der modernen Editionen noch kaum selbst reflektiert worden ist, und hob ihre pragmatisch-funktionale Vermittlungsrolle im gesamten editorischen Informationssystem hervor. Anhand von verschiedenen Editionen (Goedekes Schiller-Ausgabe, der Weimarer Goethe-Ausgabe, der Zellerschen Meyer-Ausgabe etc.) führte Nutt-Kofoth abschließend vor, dass die moderne Edition mit der spatialen Aufteilung in Autor- und Editorentext, der Nutzung von Fußnoten, Lesarten-Abteilungen und Einzelstellenapparaten, der räumlichen Darstellung von textgenetischen Prozessen bzw. Korrekturphasen in Stufenapparaten und synoptischen Apparaten usw. das Repertoire typographischer Darstellungsmöglichkeiten weidlich ausgeschöpft und damit immer wieder Antworten auf editorische Herausforderungen gefunden hat.

THOMAS NEHRLICH (Berlin) ging von der theoretische Debatte auf die Untersuchung konkreter Texte und deren typographischer Semantik über. Nach einer allgemeinen Einführung, in der er die Differenzen zwischen lexikalischen und typographischen Bedeutungsträgern unter anderem am unterschiedlichen Grad konventioneller Determiniertheit festmachte, ging Nehrlich auf die schriftbildlichen Aspekte dreier Prosatexte Heinrich von Kleists ein: Am Beispiel des Sperrsatzes in der Erzählung „Der Findling“ lässt sich zeigen, dass ein typographisches Verfahren wichtige semantische Aspekte der Figurencharakterisierung und selbst der Handlung transportieren kann. Dass gerade der Name des „Findlings“, Nicolo, entgegen der Regel anfangs nicht gesperrt wird und erst in der Mitte der Erzählung nachträglich diese Hervorhebung erfährt, hat erheblichen Einfluss auf das Verständnis des Textes. So wird kenntlich, dass ein typographisches Mittel zentrale semantische Elemente mitbestimmen kann. Am Beispiel der „Anekdote aus dem letzten Kriege“, in welcher die Worte eines wackeren Tambours durch Auslassungspunkte zensiert sind, führte Nehrlich vor, dass das Deutungsproblem, wie diese Auslassungen wörtlich zu ergänzen sind, ein typographisches Bewusstsein erfordert: Denn bei der Ersetzung von Auslassungspunkten durch Lettern muss das typographische Spezifikum der Ligatur berücksichtigt werden, die unter Umständen aus zwei Buchstaben eine Type macht. Eine Stelle aus einem Brief von Kleists Würzburger Reise 1800, wo Kleist selbst in der Handschrift eine Ligatur anwendet, zeigt außerdem, dass Kleist bereits in jungen Jahren ein ausgeprägtes typographisches Schriftverständnis aufwies.

Typographie der Moderne

STEPHAN KURZ (Wien) wandte sich verschiedenen Produktionsstadien in Stefan Georges Lyrik zu. Zunächst ist zwischen Georges handschriftlicher Textproduktion und seinen Vorgaben für die Typographie seiner Texte zu unterscheiden, wobei beide freilich in engem Zusammenhang stehen. Georges Manuskripte sind je nach Status in unterschiedlichen Handschriften verfasst; Entwürfe, Rein- und Abschriften weisen unterschiedliche Grade an quasi-typographischer Stilisierung auf und deuten dadurch bereits auf die gewünschte Druckgestalt hin. Allerdings finden sich vor allem in den zu „Handschriftenproben“ ästhetisierten Reinschriften vielfach Inkonsistenzen: Die stilisierten Formen der Buchstaben sind innerhalb eines Manuskriptes uneinheitlich und verändern sich über die Zeit: Insgesamt ergibt sich ein von Uneinheitlichkeit geprägtes Bild von der chirographischen Praxis Georges. Ähnlich verhält es sich mit der von George für seine Veröffentlichungen entworfenen Drucktype, seiner „Stilschrift“. Die Stefan-George-Type erfuhr von ihrer Entwicklung ab 1904 an bis 1909 zahlreiche erhebliche Veränderungen, sodass die verschiedenen Stadien fast mehr durch Stilisierungswillen als durch typographische Kontinuität miteinander verbunden sind. Auch im Falle der berühmten George-Druckschrift kann also von Einheitlichkeit keine Rede sein.

ROLF BULANG (Marburg) befasste sich in seinem Vortrag ebenfalls mit Stefan George und berichtete über dessen Verhältnis zu Rudolf Borchardt. George hat ab 1900 mit Karl Wolfskehl mehrere Dichtungsanthologien herausgegeben, die, zunächst in Privatdrucken, später öffentlich bei Georg Bondi, in derselben typographischen Gestaltung erschienen wie Georges eigene Veröffentlichungen, inklusive der konsequenten Kleinschreibung und des Satzes in der Stefan-George-Type. Die Ziele dieser typographisch anspruchsvollen Publikationen waren, so Bulang, explizit ästhetizistisch und dienten George zur Einordnung in eine Tradition, die er freilich gleichsam retrospektiv selbst organisierte. Ab 1916 folgten diesen poetischen Veröffentlichungen dann die, ebenfalls wohlausgestatteten, „Blätter für die Kunst“, die den Anhängern Georges ein einheitliches Publikationsmedium schufen und den literarischen Produktionen des George-Kreises eine würdige typographische Gestalt boten. Nicht zu diesem Kreis, sondern zu Georges erklärten Feinden, gehörte Rudolf Borchardt, der sich ab 1912, gemeinsam u.a. mit Hofmannsthal, mit der Publikation der „Bremer Presse Bücher“ selbst als Autor und Herausgeber positionierte. Erst nach einiger Zeit jedoch gewann die Bremer Presse ein eigenständiges Profil, das sie von anderen bibliophilen Privatpressen, namentlich der Georgeschen Unternehmung, unterschied: Ab 1921 wandelte sich die Verlagsstrategie der Bremer Presse von handverlesenen Kleinstauflagen hin zu erschwinglichen, breiteren Käuferschichten zugänglichen Ausgaben, die gleichwohl höchsten typographischen und, im Gegensatz zu Georges Veröffentlichungen, auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollten. Unter anderem war für den Satz der Bücher jeweils nur ein einziger Schriftgrad vorgesehen. So zeigt sich insgesamt am Beispiel Georges und Borchardts, dass literarische und persönliche Feindschaft auf dem Wege buchgestalterischer Distinktionsstrategien auch typographischen Niederschlag finden können.

THOMAS RAHN (Berlin) hielt seinen Vortrag über die typographische Gestaltung einiger Gedichtbände Rilkes, die zu Lebzeiten und unter Aufsicht des Autors veröffentlicht wurden. Rahn ging von der Beobachtung aus, dass die Auflagen des „Buchs der Bilder“ in ihrer typographischen Gestaltung teils sehr stark differieren, wobei jeweils den expliziten Vorgaben des Autors gefolgt worden war: Rilke hatte die Ausstattung seiner Bücher von der Umschlaggestaltung und den verwendeten Materialien bis hin zu typographischen Details sehr genau bestimmt und ästhetisch begründet. Die zweite Auflage des „Buches der Bilder“ zeigt ein im Vergleich zur Erstausgabe stark verändertes Druckbild (ungewöhnlicher Versalsatz der Gedichte in Antiqua mit Gedichttiteln in Grotesk und keine Paginierung in der Erstauflage 1902, 1906 hingegen eine dunkle Fraktur und Seitenzahlen): Die Fraktur sollte den zu ästhetizistischen, ablenkenden Charakter der monumentalen Versalien in der Erstausgabe revidieren. 1913 ergibt sich ein abermals gewandeltes Bild: Rilkes Skepsis gegen die hermeneutisch bestimmende, die Lektüre lenkende Wirkung von Gedichttiteln führte in Abstimmung mit dem Verleger Kippenberger dazu, dass – wie bereits in den „neuen Gedichten“ – auch in der fünften Auflage des „Buches der Bilder“ die Titel der Gedichte in einem blassem Grün gedruckt wurden und gegenüber den im üblichen Schwarz gedruckten Gedichttexten optisch zurücktraten. Rahn hob außerdem besondere semantische Effekte hervor, die immer wieder bei im Rahmen der drucktechnischen Akkordierung von Satzspiegel und Zeilenlänge notwendigen Zeilenumbrüchen auftreten: Wenn etwa in dem Gedicht „Aus einem April“, in der Zweitauflage des „Buchs der Bilder“, die Zeile „Zwar sah man noch zwischen den Aesten den Tag, wie er leer war“ vor dem „wie“ umgebrochen werden muss, so erhält die „Leere“ des Tags in dem auf der Zeile entstehenden Leerraum tatsächlich eine (typo-)graphische Entsprechung. Auf diese Weise wird der materiale Textträger, auf dem das Gedicht typographisch realisiert ist, untrennbar mit der Lektüre und Interpretation verbunden und gibt ihnen unter Umständen sein eigenes Gepräge.

MARKUS BAUER (Berlin) setzte sich in seinem Vortrag mit dem Stellenwert der Typographie bei Walter Benjamin auseinander. Bei allen zu Benjamins Lebzeiten erschienenen Publikationen lassen sich mehr oder weniger ausgeprägte und detaillierte Ansätze Benjamins verzeichnen, Einfluss auf die typographische Gestaltung zu nehmen: Für seine Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ etwa wünschte sich Benjamin die Fraktur; bei seiner Baudelaire-Übersetzung sprach er sich hingegen für eine Antiqua aus. Für die projektierte Zeitschrift „Angelus Novus“ fertigte Benjamin sogar eine Skizze des Einbandes mit ausführlichen Angaben an. Bauer setzte dieses typographische Bewusstsein mit Benjamins Sprach- und Schrifttheorie ins Verhältnis: Für Benjamin besteht ein entscheidendes Merkmal der Schrift in der „unsinnlichen Ähnlichkeit“, d.h. der magischen Korrespondenz, die Schrift zwischen den Dingen herstellt, über die sie etwas aussagt. Nach Benjamins Vorstellung sind solcherart längst vergessene, metaphysische Prozesse, die aus der frühzeitlichen Entwicklung der Schrift stammen, noch heute wirksame Grundlage für die Übersetzung von Welt in Schrift. Es verwundert also nicht, dass Benjamin der Schrift und Typographie, die Verstehen und Mitteilen erst ermöglichen, besondere Aufmerksamkeit widmet. Ausführlich ging Bauer auf Benjamins gescheiterte Habilitationsschrift „Ursprung des Deutschen Trauerspiels“ ein, die 1928 bei Rowohlt erschien und etliche typographische Eigenheiten aufweist: Mit der Wahl der Schwabacher als Hauptschrift wird ein Bezug zwischen der historisierenden typographischen Gestaltung und der historischen Situierung des behandelten Trauerspiels im Humanismus hergestellt, sodass Schrift und Gegenstand des Buches auf dieselbe frühneuzeitliche Epoche verweisen. Der Umschlag, in der erst Anfang der 1920er-Jahre entworfenen „Neuland“ gesetzt, weist hingegen auf eine zeitgenössisch-moderne Ästhetik, die wiederum dem Avantgarde-Status Benjamins gerecht wurde.

Typographie der Postmoderne

BRIGITTE OBERMAYR (Berlin) hielt ihren Vortrag über einen Text des russischen Autors und Konzeptkünstlers Dmitrij Aleksandrovič Prigov. Prigov, der unter anderem 36.000 Gedichte verfasste, bearbeitete 1998 Puschkins „Eugen Onegin“. Diese Bearbeitung bestand vor allem in einer Ab- und Umschrift, die Prigov mit der Schreibmaschine vornahm. Er verlieh der Abschrift dadurch das Aussehen der Samizdat-Publikationen: Der Samizdat war eine im sowjetischen Untergrund praktizierte Form des Selbstverlags, durch den offiziell nicht anerkannte Literaten ihre Werke in selbst angefertigten Typoskript-Ausgaben immerhin einem kleinen Kreis von Kunstkennern zugänglich machen konnten. Da die Samizdat-Autoren über nahezu keine Ausstattung verfügten, waren ihre Veröffentlichung von ökonomischem Zwang geprägt: Papier und Tinte waren rar und mussten so effizient wie möglich genutzt werden; dementsprechend konnte auf ästhetische Aspekte kaum Rücksicht genommen werden. Dadurch waren allerdings fast alle Samizdat-Texte in einer relativ einheitlichen, durch typographische Akzidenz und Spärlichkeit geprägten Gestaltung gehalten, die sie auf den ersten Blick als Texte des Untergrunds kennzeichnete. In der Folge wurde die Samizdat-Typographie zu einer Art Markenzeichen, das, auch weil es Widerstand zur Staatsideologie anzeigte, für kulturellen Wert stand. Mit dieser Konnotation, so führte Obermayer aus, spielt Prigov, wenn er Puschkins Klassiker in diesem typographischen Gewand reproduziert, obwohl an Puschkin-Ausgaben bereits in sowjetischen Zeiten kein Mangel bestand und ihm Ende der 1990er-Jahre auch die technischen Mittel für eine andere Textbearbeitung zur Verfügung gestanden hätten. Im Zusammenhang mit den verfremdenden Veränderungen, die er am Wortlaut selbst vornimmt, wird Prigovs Intention jedoch kenntlich: Puschkins omnipräsentes Versepos ist allen bekannt, doch kaum einer liest es; durch die Camouflage als scheinbare Untergrund-Publikation und den veränderten Text soll das Werk wieder die gebührende Aufmerksamkeit erhalten und zur Lektüre auch des Originals angeregt werden.

BERNHARD METZ (Berlin) widmete seinen Vortrag einer Entwicklung, die erst seit jüngster Zeit Einfluss auf die Literatur hat: computergestützte Textverarbeitung. Freilich wird der Computer schon seit seiner Entwicklung zum Verfassen von Texten genutzt; noch immer ungewöhnlich ist es jedoch, wenn die auf diese Weise entstehenden digitalen Typoskripte ohne größere typographische Eingriffe veröffentlicht werden. Metz bezog seine Ausführungen unter anderem auf Renaud Camus und Mark Z. Danielewski. Beide Autoren haben Texte veröffentlicht, die zuvor schon in Internetprojekten zugänglich waren und an deren dortiger Gestalt sich die Buchpublikationen orientieren. Bei dieser Publikationsweise entfällt also der Zwischenschritt, bei dem Setzer und Verleger aus einem Text ein Buch fertigen; so ist der Computer nicht mehr nur ein Aufschreibesystem, sondern wird zum Satzsystem, mit dessen Hilfe der Autor die Gestalt seines Buches in wesentlichen Teilen bestimmen und fixieren kann. Das jahrhundertelang gültige Diktum, dass Autoren keine Bücher, sondern nur Texte schreiben, und dass Bücher erst in einem arbeitsteiligen Produktionsprozess Gestalt gewinnen, wird durch dieses Verfahren zunehmend in Frage gestellt. Die äußere Gestalt und die Typographie lassen sich also nicht mehr kategorial vom Text, d.h. dem Erzeugnis des Autors loslösen, bilden damit vielmehr eine produktive Einheit. In der anschließenden Diskussion kam die Frage nach der ästhetischen Überzeugungskraft der von den Autoren selbst gesetzten Veröffentlichung auf; der typographische Dilettantismus drohe, die Aufnahme des Inhalts zu stören und diesem nicht gerecht zu werden. Formexperimente, die auch die graphische Gestalt einschließen, seien, so die Gegenmeinung, jedoch schon seit langem bekannt und anerkannt (man denke an Bildgedichte und Konkrete Poesie) und die Ausweitung auf die Prosa unter den gegebenen technologischen Umständen ein konsequenter Schritt.

MARTIN ENDRES (Heidelberg) ging in seinem Vortrag auf die typographische Dimension in einigen Texten Jacques Derridas ein. In der „Grammatologie“ hat Derrida seine Auffassung von Schrift erläutert und dabei behauptet, die Zeit der linearen Schrift sei vorüber, verlangt werde heute eine „zeilenlose“ Schrift. Damit proklamiert Derrida ein neues spatiales Organisationsprinzip von Schrift, welches sich unter anderem in dem Druck des Textes „Glas“ aus dem Jahre 1974 verwirklicht findet. Dieser Druck besteht aus zwei nebeneinander gesetzten Kolumnen, die untereinander noch durch verschiedene Schriftarten und Schriftgrade diversifiziert sind. Die linke Textsäule ist Derridas Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Konzept der „Aufhebung“ vorbehalten, die rechte hingegen setzt sich mit dem literarischen Werk Jean Genets auseinander. Endres stellte heraus, dass der Bezug zwischen beiden Textteilen keineswegs eindeutig sei und zu jedem Moment vom Leser neu konstituiert werden müsse, ohne dass er dafür vom Text eine Hilfestellung erhält. Mehr noch, die eingefügten, durch Groteskschrift abgesetzten Lexikonartikel, die rational-wissenschaftliche Erläuterungen vortäuschen, steigern die inter- und intratextuelle Verwirrung zusätzlich. Die Typographie wird dabei zur Topographie und der Text lässt sich nicht mehr linear, sondern nur noch spatial erschließen. Im 1972 erschienenen Text „Tympan“ findet sich ebenfalls die Doppelkolumnen-Struktur: Hier dient sie dazu, Derridas Beitrag von dem des Ko-Autoren Michel Leiris abzusetzen. Obwohl Leiris’ Kolumne weniger breit ist als die Derridas, soll dadurch kein Dominanz-Verhältnis ausgedrückt werden; vielmehr hat Leiris’ Beitrag explizit das Thema der Marginalität zum Gegenstand, das durch die unterschiedlich breiten Spalten auch typographisch zum Ausdruck kommt. Zudem ist die typographische Anordnung stets mit einer topographischen Relationierung verbunden: Die Kolumne des einen Autors ist stets das Draußen, der Rahmen für die des jeweils anderen. Durch das typographische Bewusstsein seiner Texte stellt Derrida die Differenz zwischen Materialität und Idealität der Schrift heraus und fordert einen hermeneutischen Zugriff, der weniger auf Kontinuität und Linearität als auf die graphemische Ordnung abzielt.

Ausblick

Im Verlauf der Diskussionen bildeten sich u.a. zwei thematische Schwerpunkte heraus, in deren weiterer Entwicklung und Perspektivierung die Untersuchung und Berücksichtigung der Typographie vermutlich eine gesteigerte Bedeutung erhalten wird.

Erstens: Die Editionswissenschaft ist mit dem Problem der Typographie konfrontiert, insofern die wissenschaftliche Berücksichtigung und Wiedergabe der textlichen Materialität sich von der Abbildung und Transkription der Handschriften auch auf Drucke und, künftig, digitale Dateien ausweitet. Dabei stellt sich vor allem das Problem der Übertragung: Während es, wenn auch unter Aufbietung komplexer typographischer Differenzierungssysteme, recht umstandslos möglich ist, die Hand- in die Ordnung der Druckschrift zu übertragen, fällt der medieninterne Transfer ungleich schwieriger aus: Wie wäre, mit den Mitteln der Druckschrift, Druckschrift darzustellen? Die Entwicklung eines Meta-Repräsentationssystems scheint unwahrscheinlich; eher zu erwarten steht womöglich der mediale Wandel der Edition, die das Darstellungspotential des Internets für sich nutzen könnte: Wird der Variantenapparat bald in Pop-up-Fenstern seine Nachfolger finden, wird die Bewegung zwischen Autortext und Editorenanmerkungen nicht mehr durch Blättern, sondern durch Verlinkung erfolgen?

Zweitens: Literaturwissenschaft und literarische Ästhetik beginnen, die Typographie als semantischen und ästhetischen Bestandteil nicht des Buches, sondern des Textes aufzufassen. Dadurch ergibt sich theoretischer Klärungsbedarf nach zwei Richtungen: Zum einen müsste buchwissenschaftlich erhellt werden, in welchem Maße die Typographie eines Textes produktionstechnischen Zwängen unterliegt und ob unter Umständen gewisse typographische Erscheinungen vor allem vom typographischen Regelsystem abhängen, andere hingegen dem Autor einen größeren Gestaltungsspielraum lassen, ob also eine Differenzierung der typographischen Merkmale zwischen Text (als dem Autor unterstehend) und Buch (als vom Autor unabhängig) notwendig und möglich ist. Zum anderen wäre, unter semiologischer Perspektive, zu fragen, in welchem Verhältnis Semiose und Semantisierung von Typographie zu anderen sprachlichen oder schriftlichen Bedeutungsträgern stehen und wie typographische Dispositive sich zum typographischen Einzelfall verhalten; der Grad der semiotischen Alterität könnte zugleich die Entwicklung einer Hermeneutik der Typographie erforderlich machen.

Kurzübersicht:

Sven Limbeck (Wolfenbüttel): Funktionale Ästhetik. Zur Typographie des ‚Missale romanum‘

Stephan Kammer (Berlin): Polemik in Zeilen und Spalten. Zur Typographie des gelehrten Streits

Christof Windgätter (Berlin): „eine Art von offizieller Aichung“. Die Layout-Strategien des Internationalen Psychoanalytischen Verlages (1919-1938)

Rainer Falk (Berlin): Textsortentypographie

Friedrich Forssman (Kassel): Editionstypographie

Literatur im typographischen System

Ulrich Joost (Darmstadt): Die deutsche Zweischriftigkeit. Umrisse ihrer Geschichte, ihrer Ideologie und der editorischen Probleme ihrer Transgraphierung

Gerrit Brüning (Berlin): „Antiqua – nicht wahr, das ginge nicht.“ Ziele und Probleme kritischer Editionen in Fraktur am Beispiel der „Asiatischen Banise“

Rüdiger Nutt-Kofoth (Wuppertal/Hamburg): Typographie als Informationssystem. Zum Layout der literaturwissenschaftlichen Edition

Thomas Nehrlich (Berlin): Typographie bei Kleist

Typographie der Moderne

Stephan Kurz (Wien): ‚Handschriftenproben‘ und ‚Stilschrift‘: Typographische Produktionsästhetik in Stefan Georges Lyrik

Rolf Bulang (Marburg): Typographischer Niederschlag einer literarischen Feindschaft: Rudolf Borchardt vs. Stefan George. Die „Bremer Presse Bücher“ als Gegenentwurf zu den „Werken aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“

Thomas Rahn (Berlin): Typographie als Interpretament: Das Beispiel Rilke

Markus Bauer (Berlin): Typographie bei Walter Benjamin

Typographie der Postmoderne

Brigitte Obermayr (Berlin): Prigovs ‚Eugen Onegin‘. Thesen zur Ökonomie des ‚Samizdat‘ in der Postmoderne

Bernhard Metz (Berlin): Vom Aufschreibe- zum Satzsystem: Computergestützte Textverarbeitung bei Umberto Eco, Max Goldt, Renaud Camus, Jeanette Winterson, John Barth und Mark Z. Danielewski

Martin Endres (Heidelberg): Der Ausdruck des Anzeichens. Die typographische Dimension der Drucktexte Jacques Derridas

(Der angekündigte Vortrag von Stefanie Rentsch musste leider entfallen.)

Anmerkung:
1 Susanne Wehde, Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000, S. 119.