Vor Google – Suchmaschinen im analogen Zeitalter

Vor Google – Suchmaschinen im analogen Zeitalter

Organisatoren
Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK), Wienbibliothek im Rathaus; Thomas Brandstetter, Thomas Hübel, Anton Tantner, Universität Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
09.10.2008 - 11.10.2008
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Von
Thomas Brandstetter / Anton Tantner, Universität Wien

Das Symposion „Vor Google – Suchmaschinen im analogen Zeitalter“ versammelte vom 9.-11. Oktober 2008 Historiker/innen sowie Kultur- und Medienwissenschaftler/innen in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus zu einer Diskussion über Formen und Strategien des Suchens im vordigitalen Zeitalter. Organisiert vom IWK (Institut für Wissenschaft und Kunst) sowie der Wienbibliothek, unter Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, ging das Symposion auf einen call for papers zurück, mit dem die Veranstalter Thomas Brandstetter, Thomas Hübel und Anton Tantner zur Behandlung unter anderem folgender Fragen eingeladen hatten: Welche strukturellen Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt es zwischen vergangenen und heutigen Suchmaschinen? Welche Utopien knüpften sich an die Suchmaschinen des analogen Zeitalters? Welche Formen von Kontrolle ermöglichten sie?
Die von den Organisatoren eingenommene Perspektive war damit die eines bewusst gewählten, produktiven Anachronismus, der unter dem Begriff der "Suchmaschine" so unterschiedliche Einrichtungen und Personen wie Bibliothekskataloge, Buchindizes, Fragebögen, Diener, Zeitungskomptoire und Staatskalender in den Blick zu bekommen versuchte.

An Stelle des aus beruflichen Gründen verhinderten Claus Pias bestritt STEFAN RIEGER (Institut für Medienwissenschaften, Ruhr-Universität Bochum) den Eröffnungsvortrag unter dem Titel „Ordnung ist das halbe Leben. Zur Ökonomie von Benamung und Suche“. Im Zentrum standen dabei Utopien zur Vermeidung der Suche, also Klassifikationssysteme, bei denen sich der Ort eines Dings von selbst verstehen sollte. Ausgehend von Gedanken Arno Schmidts stellte er am Beispiel Adalbert Stifters und Lorenz Okens eine restaurativ-erhaltende und eine programmatisch-erneuernde Heransgehensweise an Ordnungssysteme einander gegenüber. Dabei konnte er zeigen, wie Ordnungsentwürfe an fragile Zeichenökonomien gebunden sind, die sich, wie er schließlich am Sprachreformator Christian Wolke nachwies, bis zur phantasmatischen Gleichsetzung von Buchstaben und Geld steigern können.

DANIEL WEIDNER (Zentrum für Literaturforschung, Berlin) bot in seinem Vortrag einen Überblick über Strategien des Suchens in biblischen Texten. Ausgehend von einer Stelle des Neuen Testaments (der Versuchung Jesu durch den Satan) präsentierte er verschiedene Arten, Verweiszusammenhänge innerhalb des heiligen Textes herzustellen. Damit wurde einerseits die Bibel als universaler Speicher allen Wissens konstituiert, andererseits aber begannen spätestens bei Ausgaben, in denen mehrere Textversionen nebeneinander angeordnet waren, die intratextuellen Bezüge die kanonische Geschlossenheit des Textkorpus zu unterminieren.

Mit VOLKER BAUER (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) referierte anschließend ein ausgewiesener Experte zu den frühneuzeitlichen Staatskalendern. Sein mit "Herrschaftsordnung, Datenordnung, Suchoptionen: Recherchemöglichkeiten in Staatskalendern und -handbüchern des 18. Jahrhunderts" betitelter Vortrag stellte klar, dass Staatskalender im Gegensatz zu den Stadtadressbüchern mehr Repräsentationsmedien als Informationsmedien waren: Die in ihnen verzeichneten Personen wurden systematisch nach Behörden angeordnet; eine "offene Personensuche" mittels alphabetischer Register war nicht von vornherein vorgesehen. Diese systematische Anordnung entsprach zum einen der Technik der Datenerhebung, zum anderen wäre eine rein alphabetische Anordnung ein Verstoß gegen die Standesordnung gewesen. Bauer hob jedoch auch die nichtintendierte Aneignung der Staatskalender hervor, die nicht zuletzt von aufklärerischen Statistikern wie August Ludwig Schlözer oder dessen Schüler Joachim von Schwarzkopf betrieben wurde. So wertete Schwarzkopf – im übrigen auch Verfertiger mehrerer Studien zum Genre der Staatskalender – die auch am Buchmarkt erhältlichen Staatskalender quantitativ aus und nützte die dadurch gewonnenen Angaben über das Verhältnis der arbeitenden Bevölkerung zu den Staatsdienern zur Herrschaftskritik.

Einer Form der Wissensorganisation, die Philipp Melanchthon im protestantischen Deutschland des 16. Jahrhunderts populär gemacht hatte, widmete sich der Vortrag von HARALD BOLLBUCK (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel). Die loci communes waren ein mnemotechnisches Verfahren, das als Exzerpiertechnik die Lektüre steuerte und als Ordnungssystem Indizes von Werken wie etwa den kirchenhistorischen Magdeburger Zenturien strukturierte. Bereits in Konrad Gessners Bibliotheca universalis jedoch wurden sie durch das scheinbar voraussetzunglose Klassifikationsprinzip des Alphabets supplementiert, das die vielfältigen assoziativen Bezüge, welche die loci communes ermöglichten, verknappte, dafür aber eine von moralischen, theologischen und fachlichen Kriterien losgelöste Ordnung installierte.

ALIX COOPER (State University of New York at Stony Brook) spannte zunächst unter Verweis auf Justin Stagls Arbeiten einen weiten Bogen von den antiken Orakeln und den sokratischen Dialogen über die im Mittelalter eingeführte Praxis der Inquisition bis hin zu den von ihr behandelten Erhebungen der wissenschaftlichen Akademien im 17. und 18. Jahrhundert. Der Titel ihres Referats "Fragen ohne Antworten. Die Suche nach lokalen Informationen in der frühen Aufklärung" nahm Coopers Befund schon vorweg: Nur zu oft blieben die von den Angehörigen wissenschaftlicher Akademien wie unter anderem von Henry Oldenburg, Sekretär der Royal Society, an ihre Korrespondenten per Brief ausgesandten Fragelisten unbeantwortet, was unter anderem darin begründet lag, dass die Adressaten der Fragen durch deren große Anzahl und thematische Breite überfordert waren. Cooper machte auch auf einen Umstand aufmerksam, der das Einsammeln von Informationen begleitet: Die an Fragebogenaktionen beteiligten Wissenschafter wurden zuweilen der Spionage bezichtigt.

Mit einer spezifisch frühneuzeitlichen Institution der Informationsvermittlung – dem Zeitungskomptoir – beschäftigte sich ANDREAS GOLOB (Archiv der Universität Graz) in seinem Vortrag "Das Zeitungskomptoir als Informationsdrehscheibe. Michael Hermann Ambros und seine Grazer Anzeigenblätter". Golobs Ausführungen beruhten auf einer umfassenden statistischen Auswertung des Anzeigenteils der von Michael Hermann Ambros (1750-1809) in Graz begründeten "Grazer Bauernzeitung". Ambros beließ es nicht nur dabei, in diesem Periodikum mittels Anzeigen Waren auf Papier zu vermitteln, sondern installierte darüber hinaus noch ein allgemeines Kommissionskomptoir zum Verkauf von Waren, dessen Leitung einer eigenen Person überlassen wurde. Als Konkurrenten des Zeitungskomptoirs nannte Golob das ebenfalls in Graz bestehende Fragamt, das auch Kreditvermittlung anbietende öffentliche Schreibkabinett, Wirts- und Kaffeehäuser sowie die Handelskomptoire. Weiters unterstrich der Referent, dass die Ambros'schen Publikationen auch Heiratsanzeigen veröffentlichten, was zeitgenössisch auch damit begründet wurde, dass auf diese Weise geheimen Kupplerinnen das Handwerk gelegt werden könnte.

Ausgehend von der nach einer literarischen Figur benannten Suchmaschine AskJeeves (mittlerweile in Ask umbenannt) ging MARKUS KRAJEWSKI (Bauhaus Universität Weimar) in seinem Vortrag „Ask Jeeves. Der Diener als Informationszentrale“ dem Status des Dieners innerhalb einer Ökonomie der Information nach. Seine These, wonach Diener als Vermittler zwischen verschiedenen Sphären aktiv an der Produktion von Herrschaftswissen beteiligt waren und dieses gelegentlich auch subvertierten bzw. zu ihrem eigenen Vorteil nutzen konnten, untermauerte er mit einer Vielzahl von historischen und literarischen Quellen. So zeigte er beispielsweise, wie sich Diener Wissen, das sie bei ihren Dienstgebern aufgeschnappt hatten, für Börsenspekulationen zu Nutze machten. Die Auslagerung von Aufgaben des Informationsmanagements auf technische Geräte, so Krajewski, sollte schließlich auch dazu dienen, eine solche vom Diener ausgehende Subversion zu unterbinden.

Der für die erkrankte Catarina Caetano da Rosa eingesprungene Referent HANS PETSCHAR (Österreichische Nationalbibliothek) behandelte in seinem Vortrag "Der Zettelkatalog. Ein historisches System geistiger Ordnung" die Geschichte der Verzeichnung von Büchern an der einstigen Wiener Hofbibliothek. Es war Gottfried van Swieten, der dort im Jahr 1780 die Anlage eines Katalogs initiierte, bei dessen Erstellung erstmals lose Zettel zum Einsatz kamen. Mit deren Hilfe sollte ein gedruckter systematischer Katalog – Traum der Bibliothekare bis ins 20. Jahrhundert hinein – geschaffen werden, doch kam es dazu nie, womit allein der Zettelkatalog als Hilfsmittel zum Auffinden der Bücher übrig blieb. Am Verfertigen der 300.000 Zettel war übrigens eine Reihe Wiener Schriftsteller beteiligt, unter ihnen Aloys Blumauer; auch der Wien-Reisende Nicolai berichtete darüber.

PETER HABER (Universität Basel) lieferte in seinem Referat "Das Google-Syndrom in historischer Perspektive. Zu einigen medialen Bedingtheiten des phantasmatischen Allwissens" einen Aufriss der Geschichte des Allwissenheitsphantasmas, beginnend mit der Bibliothek von Alexandria, über die bibliographischen Unternehmungen Konrad Gessners, Melvil Deweys Dezimalklassifikation hin zu Paul Otlets Mundaneum. Die nach Haber bemerkenswerteste Epoche sei aber die von ihm als "Sattelzeit der Wissensgeschichte" bezeichnete Periode zwischen Vannevar Bushs Memex-Utopie von 1945 und der Gründung von Google 1998. Insbesondere der als Antwort auf den Sputnik-Schock entstandene Weinbergbericht von 1963 habe den Ausbau des Informations- und Dokumentationswesens stark vorangetrieben.

An dieser Stelle setzte der Vortrag von MARTIN SCHREIBER, „Vannevar Bush und die Technikutopie Memex. Visionen einer effizienten Speicherung und Verfügbarmachung von Information“ an. Schreiber rekonstruierte die von Bush erdachte und in mehreren Aufsätzen beschriebene Apparatur und verortete sie in ihrem zeitgenössischen Kontext. Bushs Projekt, das auf dem Medium Mikrofilm basierte, war technologisch noch im analogen Zeitalter angesiedelt; seine Überlegungen waren jedoch seiner Zeit insofern voraus, als sie nicht nur ein originelles, assoziationsbasiertes System der Wissensordnung entwarfen, das am Modell des Gedächtnisses orientiert war, sondern weil sie auch eine Fülle innovativer Ansätze zum Interface Design beinhalteten. Obwohl diese Utopie unmittelbar kaum Folgen hatte, war sie über Leser wie Douglas Engelbart mittelfristig doch eine entscheidende Inspiration für den Beginn des Personal Computing.

Eine Archäologie des berühmt-berüchtigten page-rank-Algorithmus von Google bot BERNHARD RIEDER (Département Hypermédias, Université de Paris 8) in seinem Vortrag „Zentralität und Sichtbarkeit. Mathematik als Hierarchisierungsinstrument am Beispiel der frühen Bibliometrie“. Er zeigte, wie sich die Quantifizierungswerkzeuge der Bibliometrie, vor allem der Zitationsindex und dessen graphische Darstellungsmöglichkeiten, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verselbstständigten und von wissenssoziologischen Hilfmitteln schließlich zu universitätspolitischen Evaluierungsmethoden wurden. An dieser Stelle zeigte sich auch ein möglicher Paradigmenwechsel: Denn Google, so Rieder, sei keine Suchmaschine, sondern eine Sichtbarkeitsmaschine – das Problem sei nicht, etwas zu finden, sondern aus der Fülle des Vorgefundenen die relevantesten Daten auszuwählen.

Als letzter Referent trug anstelle der beruflich verhinderten Anke te Heesen HENNING TRÜPER (European University Institute, Florenz) Ergebnisse seiner eben abgeschlossenen Dissertation vor: Sein Referat "Suchen und Finden. Zettel, Fließtext und gelehrte Autorschaft im Fall des Historikers F. L. Ganshof" stellte die Zettelführung und -benützung des belgischen Mediävisten François L. Ganshof, eines Schülers von Henri Pirenne, vor. Damit rückte die Arbeitspraxis eines Gelehrten ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der keine Ausnahmeerscheinung darstellte, sondern der als repräsentativ für seine Zunft betrachtet werden. Ganshof hatte Ende der 1920er-Jahre seine Zettelführung nach den Anleitungen von Charles Seignobos geregelt und verwendete dafür Hochzeits- und Todesannoncen. In seinen Notizen lässt sich ein kontinuierlicher Übergang von der Zettelführung zum Fließtext feststellen, wobei sich in den Texten Ganshofs eine Tendenz zum Fragmentarischen zeige. Laut Trüper gebe es in diesem Fall keine klare Trennung von Nutzer und Werkzeug, eine Bemerkung, die er als Ausgangspunkt dafür nahm, ein Symposion zum Thema der Nutzer von Suchmachinen vorzuschlagen.

Den Teilnehmer/innen und Veranstalter/innen des Symposions war nach dessen Ende klar, dass hier nur erste Schritte in Richtung einer Vorgeschichte der Suchmaschinen unternommen worden waren. Die Vorträge und die lebendige Diskussion halfen aber, begriffliche und konzeptuelle Schwierigkeiten überhaupt einmal zur Sprache zu bringen: So zeigte sich, dass es vor allem für das Zeitalter des Buchdrucks sehr schwierig ist, Suchstrategien von Ordnungssystemen zu trennen – viele der frühneuzeitlichen Projekte waren eher Vorrichtungen zur Vermeidung der Suche. Vielleicht, so eine mögliche Schlussfolgerung aus den Diskussionen, wäre es heuristisch sinnvoller, weniger Suchmaschinen als Suchpraktiken in den Mittelpunkt zu stellen. Das aber wäre das Thema einer anderen Tagung.

Konferenzübersicht:

Stefan Rieger: Ordnung ist das halbe Leben. Zur Ökonomie von Benamung und Suche

Daniel Weidner: "Wende sie um und um, alles ist in ihr" - Über das Suchen in Heiligen Texten

Volker Bauer: Herrschaftsordnung, Datenordnung, Suchoptionen: Recherchemöglichkeiten in Staatskalendern und -handbüchern des 18. Jahrhunderts

Harald Bollbuck: Historische Methode und loci communes als Such- und Ordnungsinstrumente im 16. Jahrhundert

Alix Cooper: Fragen ohne Antworten. Die Suche nach lokalen Informationen in der frühen Aufklärung

Andreas Golob: Das Zeitungskomptoir als Informationsdrehscheibe. Michael Hermann Ambros und seine Grazer Anzeigenblätter

Markus Krajewski: Ask Jeeves. Der Diener als Informationszentrale

Hans Petschar: Der Zettelkatalog. Ein historisches System geistiger Ordnung

Peter Haber: Das Google-Syndrom in historischer Perspektive. Zu einigen medialen Bedingtheiten des phantasmatischen Allwissens

Martin Schreiber: Vannevar Bush und die Technikutopie Memex. Visionen einer effizienten Speicherung und Verfügbarmachung von Information

Bernhard Rieder: Zentralität und Sichtbarkeit. Mathematik als Hierarchisierungsinstrument am Beispiel der frühen Bibliometrie

Henning Trüper: Suchen und Finden. Zettel, Fließtext und gelehrte Autorschaft im Fall des Historikers F. L. Ganshof

http://www.univie.ac.at/iwk/vor-Google/