Vom Nachschlagewerk zum Informationssystem / From Reference Work to Information System

Vom Nachschlagewerk zum Informationssystem / From Reference Work to Information System

Organisatoren
Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bayerische Staatsbibliothek München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.02.2010 - 27.02.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Heidrun Siller, Neue Deutsche Biographie, München

Die internationale Fachtagung „Vom Nachschlagewerk zum Informationssystem / From Reference Work to Information System“ fand vom 25. bis 27. Februar 2010 im Historischen Kolleg und in der Bayerischen Staatsbibliothek, München statt. Zentrale Ziele der Konferenz waren, 1) einen Austausch über inhaltliche und strukturelle Voraussetzungen für Kooperationen zwischen biographischen Lexikonprojekten auf nationaler wie internationaler Ebene anzuregen, 2) technische Lösungen für funktionale Internetpräsenzen und Vernetzungen zu erläutern, 3) das Mittel der Personennormdatei (PND) als Möglichkeit für die Zusammenführung biographisch-bibliographischer Informationen zu diskutieren und 4) sich über wissenschaftliche Qualitätsstandards von Veröffentlichungen in digitalen Medien auszutauschen. Als aktueller Anlass der Veranstaltung diente die Präsentation des jüngst erschienenen 24. Bandes der „Neuen Deutschen Biographie“ und die Freischaltung des Portals <http://www.deutsche-biographie.de>, in dem die historisch-biographischen Artikel aus der „Neuen Deutschen Biographie“ (NDB) und der „Allgemeinen Deutschen Biographie“ (ADB) kostenlos, frei zugänglich und volltextrecherchierbar zur Verfügung stehen.

Nach der Begrüßung durch den Präsidenten der Historischen Kommission, LOTHAR GALL, eröffneten FLORIAN R. SIMON (Verlag Duncker & Humblot) und der Herausgeber der NDB, HANS GÜNTER HOCKERTS, die Tagung mit der Präsentation des 24. Bandes der NDB (Schwarz-Stader). Simon wies auf die fortschreitende Entwicklung der digitalen Medien hin, die sein Verlag durch die Zustimmung zur Online-Publikation wohlwollend unterstütze, betonte zugleich aber die besonderen Qualitäten des analogen Mediums „Buch“. Hockerts stellte die wissenschaftliche Tradition und die Standards vor, auf denen der Rang der NDB und der ADB als Grundlagenwerke enzyklopädischer Biographik beruhen. Der Sprung in das digitale Zeitalter sei nunmehr mit dem Portal <http://www.deutsche-biographie.de> gelungen, in dem mehr als 46.000 biographische Artikel aus NDB und ADB sowie Informationen über weitere 45.000 bedeutende Persönlichkeiten des deutschsprachigen Raums zu finden sind. Eine Besonderheit stelle die PND-Identifizierung des Datenmaterials dar, die eine direkte und eindeutige Vernetzung zwischen dem jeweiligen Artikel über eine bestimmte Person und der Literatur von dieser oder über sie in Bibliothekskatalogen, weiteren Internetnachschlagewerken und Onlineeditionen ermöglicht.

Ein erster Themenblock widmete sich den „Kooperationen biographischer Lexika in Europa“. MARCO JORIO stellte das internationale Biographie Portal <http://www.biographie-portal.eu> vor, das seit Juli 2009 über eine gemeinsame Suchmaske Zugriff auf über 120.000 kostenfreie Artikel aus NDB, ADB, Historischem Lexikon der Schweiz (HLS) und Österreichischem Biographischen Lexikon (ÖBL) gewährt. Daran anschließend wurden in einem von BERNHARD EBNETH geleiteten Round-Table-Gespräch, an dem neben Jorio ELS KLOEK, TORSTEN ROEDER und KLAUS BEHRBOHM mitwirkten, Voraussetzungen und Möglichkeiten weiterer Kooperationen auf nationaler wie internationaler Ebene diskutiert. Eine Denationalisierung der großen, dem Geist des 19. Jahrhunderts verpflichteten Nationalbiographien und die Chance einer internationalen Arbeitsteilung, die eine Perfektionierung und Kumulation von Wissen und Kompetenzen realisieren könne, wurde dabei als wünschenswert bezeichnet. Ein öffentlicher Abendvortrag von PETER LONGERICH beschloss den ersten Konferenztag. Gestützt auf seine Erfahrungen als Himmler-Biograph und im Blick auf seine kurz vor dem Abschluss stehende Goebbels-Biographie erörterte Longerich die spezifischen Chancen biographischer Zugänge bei der Erforschung des NS-Regimes.

Das erste Panel des von KLAUS KEMPF eröffneten zweiten Konferenztags diente der „Präsentation biographischer Lexika und Fachportale“. Auf nationalbiographischer Ebene stellten ELS KLOEK und ANNE-MARIE MREIJEN das Digitaal Vrouwenlexikon und das Biografisch Portaal van Nederland, LAWRENCE GOLDMAN das Oxford Dictionary of National Biography, PER WIDÉN das Svenskt Biografiskt Lexikon und LAWRENCE WHITE das Dictionary of Irish Biography vor. Auf regionalbiographischer Ebene präsentierten MARTINA SCHATTKOWSKY und FRANK METASCH die Sächsische Biografie, MARCUS WEIDNER das Internet-Portal Westfälische Geschichte, OTTO VOLK die Hessische Biografie und STEPHAN KELLNER die Bayerische Landesbibliothek Online. Erkennbar wurde der allgemeine Wunsch nach internationaler wie nationaler Kooperation, wobei die Bindung vor allem internationaler Projekte an Verlage und kommerzielle Anbieter nicht selten deren Einbindung in Netzwerke, die dem Open Access-Gedanken verpflichtet sind, erschwert. Weniger betroffen von diesem Problem sind regionalgeschichtliche Projekte, von denen sich einige derzeit in einer Arbeitsgemeinschaft organisieren. Hier behindern eher begrenzte finanzielle und personelle Ressourcen den Wunsch nach einem raschen Zusammenschluss in einem gemeinsamen Portal.

Die nächste Sektion befasste sich intensiv mit „Normdaten“. WERNER HOLBACH wies auf die für 2011 geplante Zusammenführung der Personennamendatei (PND), der Gemeinsamen Körperschaftsdatei (GKD) und der Schlagwortnormdatei (SWD) zu einer Gemeinsamen Normdatei (GND) hin. EVA-MARIA GULDER und THOMAS BUSCH erläuterten den praktischen Prozess der Erfassung und Identifizierung von Personensätzen durch die PND anhand der Erfahrungen, die die Bayerische Staatsbibliothek seit 2004 mit der Tiefenerschließung digitalisierter biographischer Nachschlagewerke wie der ADB und der NDB gesammelt hat. CHRISTEL HENGEL entwarf nachfolgend eine internationale Perspektive für Personennormdateien und Konkordanzen, die sie nicht in der Zusammenführung nationaler Normdateien zu umfassenden authority files, sondern in der crosswalk Mapping-Datei VIAF realisiert sieht. MATHIAS SCHINDLER von Wikimedia stellte die kollektive Identifizierung von Normdaten-Templates wie PND und LCCN sowie die interne PeEnDe bei Wikipedia vor. Jenen anwesenden Portalen, die noch nach eigenen Lösungen für die oft angemahnten Schnittstellen für Normdaten suchen, schlug er vor, bis dahin die Angebote von Wikipedia als Schnittstelle zu benutzen.

„Technische Standards, Schnittstellen und Formen der Vernetzung von Präsentationen“ waren Gegenstand des vierten Themenblocks. Der Softwareentwickler JELLE GERBRANDY berichtete von dem von ihm technisch betreuten Biografischen Portal der Niederlande, für das er ein spezielles Programm im xml-Format (BioDes 1.0) zur Sammlung und Bearbeitung von Metadaten entwickelt hat, das unterschiedlichen Nutzerprofilen zu entsprechen versucht. CHRISTINE GRUBER und ROLAND FEIGL stellten drei unterschiedliche Versionen des ÖBL vor: Neben der Printversion und der kostenfreien Onlineedition des Registers und der Bilddigitalisate der gedruckten Artikel wird 2010 eine kostenpflichtige Premiumversion ins Netz gehen, die eine Volltextsuche, XML-konvertierte Artikel und aktualisierte Biographien beinhalten werde. MATTHIAS REINERT führte in die technischen Standards für eine digitale Langzeitarchivierung insbesondere geisteswissenschaftlicher Datenbestände ein. Er erläuterte die Vorteile der Extensible Markup Language (XML), der Text Encoding Initiative (TEI) sowie der Benutzung von Unicode und wies auf die Folgen der seit 2002 vom Bund geforderten Barrierefreiheit hin.

Die letzte Sektion „Usability und Multimedialität lexikographischer Projekte im Internet“ stand im Zeichen der Nutzerfreundlichkeit und Plausibilität von Internetauftritten. Sie begann mit dem Vortrag von ULRIKE SPREE, die ihren „Friends and Family Usability-Test“ für das europäische Biographieportal vorstellte. Sie empfahl, die Ansprüche unterschiedlicher Nutzergruppen schon vor der Erstellung des Layouts zu analysieren, und gab zu bedenken, dass neue Projekte sich an der von weit akzeptierten Internetangeboten wie Google und Wikipedia bestimmten Nutzerpraxis orientieren sollten. Im Anschluss daran präsentierte MICHAEL BUCHKREMER das DFG-Projekt „Digitaler Porträtindex druckgraphischer Bildnisse von 1450-1850“, das das Ziel verfolgt, 200.000 druckgraphische und partiell unpublizierte Porträts hochauflösend zu digitalisieren, zu katalogisieren und durch PND-Identifizierung zum Beispiel mit dem europäischen Biographie-Portal verlinkbar zu machen. TORSTEN REIMER gab einen Ausblick in die Zukunft digitaler Informationssysteme. Seines Erachtens werden singuläre Webseiten oder Datenpools nur mehr als Komponenten vernetzter Datenquellen Beachtung finden, um als Teile der Infrastruktur virtuelle Forschungsumgebungen zu konstruieren.

Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion unter der Leitung von MAXIMILIAN LANZINNER mit KLAUS BEHRBOHM, ERNST BRUCKMÜLLER, KLAUS KEMPF, MARTINA SCHATTKOWSKY und ULRICH JOHANNES SCHNEIDER. Lanzinner konstatierte die Hinwendung zu einer transnationalen Perspektive bei allen großen Nationalbiographien, die trotz geringer EU-Finanzierungsaussichten ein Interesse an einem gemeinsamen europäischen Portal signalisiere. Als drei Hauptanliegen der Tagung könnten Nachhaltigkeit, Übersichtlichkeit und Zertifizierung von Wissen Geltung beanspruchen. Schattkowsky sprach sich für neue Überlegungen zu einer nutzerfreundlichen Internetpräsentationen aus, die von Graphikern und Informatikern entwickelt werden und vorab als Betaversion ihre Reliabilität im World Wide Web beweisen müssten. Auch Bruckmüller betonte die Wichtigkeit eines Nutzerfeedbacks für die Weiterentwicklung digitaler Angebote. Aus bibliothekarischer Sicht unterstrich Kempf, die Funktionen, die Bibliotheken als Langzeitarchiven für die Nachhaltigkeit elektronisch publizierter wissenschaftlicher Forschung zukomme. Schneider akzentuierte die Quellenproblematik und sah in der Zusammenführung unterschiedlicher und zum Teil widersprüchlicher wissenschaftlicher Angaben in einem gemeinsamen Portal einen Gewinn für die historische Forschung. Hockerts beendete die Tagung mit Dankesworten und einem kurzen Resümee. Die Tagung habe Vertreter verschiedener Fachdisziplinen mit technischen Experten zusammengeführt, da Wissensinhalte in digitalen Medien viel stärker als in analogen Medien an die Art der technischen Aufbereitung und der Präsentation gebunden sind. Wie die Tagung gezeigt habe, liege im Ausbau biographischer Nachschlagegewerke zu wissenschaftlichen Informationssystemen, deren Grundstoff nicht mehr das Papier, sondern der Mikrochip sei, eine enorme Chance. Diese gelte es mit dem Doppelziel der Qualitätssicherung („zertifiziertes Wissen“) und der Funktionalitätserweiterungen zu nutzen. Zugleich gehe es darum, dezentrale Ressourcen durch übergeordnete Such-Einstiege zusammenzuführen, um die Vielfalt der neuen Entwicklungen im Sinne einer neuen Übersichtlichkeit zu ordnen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Lothar Gall
Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Organisatorische Hinweise
Karl-Ulrich Gelberg
Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften/Historisches Kolleg

Die enzyklopädischen Werke Allgemeine Deutsche Biographie und Neue Deutsche Biographie in ihrer Bedeutung für den Wissenschaftsverlag Duncker & Humblot
Florian R. Simon (Berlin)

Im Druck und im Netz: Neues von der Neuen Deutschen Biographie
Hans Günter Hockerts
Herausgeber der Neuen Deutschen Biographie

Ein Portal für Europa: www.biographie-portal.eu
Marco Jorio (Bern)

Themenblock A: Kooperationen biographischer Lexika in Europa

Round-Table-Gespräch und Diskussion:

Els Kloek (Den Haag), Torsten Roeder (Berlin), Klaus Behrbohm (Wien), Marco Jorio (Bern)
unter Leitung von Stefan Jordan (München)

Abendvortrag

Biographische Zugänge zur Erforschung des NS-Regimes: Die Beispiele Heinrich Himmler und Joseph Goebbels
Peter Longerich (London)

Begrüßung
Rolf Griebel, Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek

Themenblock B: Präsentation Biographischer Lexika und Fachportale

1. Internationale Projekte

Het Biografisch Portaal van Nederland und Digitaal Vrouwenlexicon van Nederland
Els Kloek (Den Haag)
Anne-Marie Mreijen (Den Haag)

Oxford Dictionary of National Biography
Lawrence Goldman (Oxford)

Svenskt biografiskt lexicon
Åsa Karlsson (Stockholm)

Dictionary of Irish Biography
Lawrence White (Cambridge)

Diskussion
Kommentar und Moderation
Ulrich Johannes Schneider (Leipzig)

2. Regionale Projekte

Sächsische Biografie
Martina Schattkowsky (Dresden)
Frank Metasch (Dresden)

Westfälische Geschichte
Marcus Weidner (Münster)

Hessische Biografie
Otto Volk (Marburg)

Bayerische Landesbibliothek Online
Stephan Kellner (München)

Diskussion
Kommentar und Moderation
Bernhard Ebneth (München)

Themenblock C: Normdaten

Die Vernetzung der biographischen Angebote in der BSB – die PND als fester Normdatenidentifikator
Eva-Maria Gulder (München)
Thomas Busch (München)

Internationale Personennormdateien und Konkordanzen
Christel Hengel (Frankfurt am Main)

Normdaten in Wikipedia, Normdaten aus Wikipedia
Mathias Schindler (München)

Diskussion
Kommentar und Moderation
Werner Holbach (München)

Themenblock D: Technische Standards, Schnittstellen und Formen der Vernetzung von Präsentationen

Creating metadata and identifying people: experiences from the Dutch Biographical Portal
Jelle Gerbrandy (Turin)

Druckausgabe – Online-Edition – Intranet. Präsentationsformen des Österreichischen Biographischen Lexikons
Christine Gruber (Wien)
Roland Feigl (Wien)

Technische Standards für Editionen und Lexika: XML / TEI / Unicode / Open Access / Barrierefreiheit
Matthias Reinert (München)

„Web 2.0“ – Funktionalitäten und Vernetzungsstrategien
Dirk Scholz (München)

Diskussion
Kommentar und Moderation
Suse Andresen (Bern)

Möglichkeit zur Besichtigung des Münchener Digitalisierungszentrums (MDZ) in der BSB

Themenblock E: Usability und Multimedialität lexikographischer Projekte im Internet

Good sens(e)ations: Joy of use und Usability lexikographischer (Online-)Nachschlagewerke
Ulrike Spree (Hamburg)

Der Digitale Porträtindex (DFG): Bilder für lexikographische Projekte im Internet
Michael Buchkremer (Marburg)

Qualitätskriterien von Online-Nachschlagewerken
Torsten Reimer (London)

Diskussion
Kommentar und Moderation
Gregor Horstkemper (München)

„Auf dem Weg zu einem gemeinsamen europäischen Informationssystem …“
Podiumsdiskussion unter Beteiligung des Fachpublikums

Abschlusskommentar

Moderation und Kommentar:

Maximilian Lanzinner (Bonn)

Podium:

Klaus Behrbohm (Wien),
Ernst Bruckmüller (Wien),
Klaus Kempf (München),
Martina Schattkowsky (Dresden),
Ulrich Johannes Schneider (Leipzig)

Dank
Hans Günter Hockerts (München)


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