Kolloquium vergleichende Ordensgeschichte: Periodisierungen von Provinz- und Kongregationsgeschichten im 19. und 20. Jahrhundert

Kolloquium vergleichende Ordensgeschichte: Periodisierungen von Provinz- und Kongregationsgeschichten im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Kolloquium für vergleichende Ordensgeschichte
Ort
Paderborn
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.06.2010 - 19.06.2010
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Von
Andreas Henkelmann, Lehrstuhl für Kirchengeschichte II, Katholisch-Theologische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum

Die Geschichte der religiösen Gemeinschaften erfreut sich seit einiger Zeit sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Wissenschaft einer großen Aufmerksamkeit. Allerdings wird diese Geschichte für das 19. und 20. Jahrhundert bislang vorrangig aus der Perspektive des einzelnen Ordens betrachtet. Anders als für das Mittelalter, wo entsprechende Impulse etwa von der Forschungsstelle für vergleichende Ordensgeschichte (Katholische Universität Eichstätt) ausgehen, sind thematische Zugriffe mit einer komparativen Betrachtungsweise bislang ein Forschungsdesiderat. Mit dem Kolloquium für vergleichende Ordensgeschichte soll ein Ort dafür auch für das 19. und 20. Jahrhundert geschaffen worden, eine Wiederholung 2011 ist bereits in Planung. Der erste Durchlauf, der sich mit Problemen der Periodisierung befasste, gibt dazu allen Anlass. Im Mittelpunkt des Kolloquiums stand die Frage, ob sich bestimmte Einschnitte ordensübergreifend beobachten lassen und ein sich wiederholendes Muster in den Zäsuren der einzelnen Ordensgeschichten erkennbar wird.

Das Eröffnungsreferat von HANS-GEORG ASCHOFF führte grundsätzlich in die Problematik der Periodisierung ein. Aschoff erläuterte darin zunächst, wie mit der Entstehung einer ‚pragmatischen Geschichtsschreibung‘ im Rahmen von Humanismus und Reformation die Dreiteilung der Geschichte aufkam und der heilsgeschichtlichen Perspektive den Rang ablief. Christoph Cellarius, 1694 zum Professor an der neu gegründeten Universität Halle berufen, sprach 1685 in einem Lehrbuch erstmals von der Trias Altertum-Mittelalter-Neuzeit für die Universalgeschichte und führte damit ein Schema ein, das bis heute Bestand hat, wie Aschoff anschließend an verschiedenen aktuellen Modellen aufzeigte.

Auf die allgemeinen Ausführungen von Hans-Georg Aschoff zur Geschichte und zum aktuellen Stand der Periodisierung in der allgemeinen Geschichte sowie der Kirchengeschichte folgten Referate zu einzelnen religiösen Gemeinschaften. Den Anfang machte DAMIAN BIEGER OFM für die deutschen Franziskanerprovinzen. Im Hintergrund seiner Ausführungen stand die Zusammenlegung der vier Franziskanerprovinzen Bavaria, Colonia, Saxonia und Thuringia am 1. Juli 2010. Bieger sprach sich in seinem Beitrag für eine Dreiteilung der Geschichte der Franziskaner im 20. Jahrhundert aus. Der erste Abschnitt umfasst bei ihm die Zeit bis zur Revolution und dem Ende des Kaiserreichs. In dieser Phase partizipierte der Franziskanerorden ebenso wie andere religiöse Gemeinschaften in Deutschland an dem enormen Wachstum der Gesellschaft, allerdings unter vergleichsweise restriktiven Rahmenbedingungen. Die zweite Periode setzt für ihn mit der Weimarer Reichsverfassung ein, die dem franziskanischen Orden zu einem ungeahnten Aufschwung verhalf. Hohe Eintrittszahlen und neue Klostergründungen spiegeln diese Entwicklung wider, die auch in der nationalsozialistischen Diktatur anhielt und erst zu Beginn des Zweiten Weltkrieges endete. Die Zeit nach 1945 lasse sich wesentlich schwerer periodisieren. Bieger schlug für die dritte Phase zwischen 1945 und 2010 den Arbeitstitel „Im Zwiespalt zwischen Modernisierung und Traditionsbewahrung“ vor.

Das folgende Referat von CAROLIN WEICHSELGARTNER stand vor einem ähnlichen Hintergrund. Auch die beiden deutschen Kapuzinerprovinzen fusionierten 2010, womit der Endpunkt der Bayerischen Kapuzinerprovinz gesetzt ist, über die Weichselgartner sprach. Für die Periodisierung rekurrierte sie dabei auf die großen Einschnitte der allgemeinen Geschichte sowie der Kirchengeschichte. Für das 19. Jahrhundert und die Zeit nach der Wiederbelebung des Kapuzinerordens in Bayerns verwies sie auf den Kulturkampf sowie die politischen Zäsuren der Weimarer Republik und des ‚Dritten Reiches‘. Die Entwicklung nach 1945 beschrieb sie als Übergangszeit, um anschließend als weitere Einschnitte auf das Zweite Vatikanum und die Papstbesuche Johannes Paul II. im Jahr 1980 und Benedikts XVI. 2006 zu verweisen.

CLEMENS BRODKORB referierte im Anschluss über die Periodisierung der deutschen Jesuitenprovinzen. Dabei unterschied er sechs Phasen. Nach einem Zeitraum des Vorspiels (1810-1848) kam es zwischen 1848 bis 1872 zum Wiederaufbau des Ordens in Deutschland. Diese Entwicklung wurde durch den Ausschluss des Ordens vom Gebiet des Deutschen Reiches 1872 gestoppt. Mit dem Fall des Jesuitengesetzes 1917 setzte ein erneuter Aufschwung ein, der mit der Machtergreifung der NSDAP endete. Die Maßnahmen des NS-Regimes und der Krieg setzten den Provinzen so zu, dass die Jesuiten 1945 vor einem Trümmerhaufen standen. Die letzte Phase von 1945 bis 1965 sei als weitere Aufbauphase zu werten. Mit dem II. Vatikanischen Konzil und der 31. Generalkongregation begann eine Aufbruchs- und Krisenzeit. Wann und in welcher Weise diese Periode ihr Ende finden wird, ist nach Brodkorb noch nicht abzusehen.

In die komplizierte Geschichte der Benediktinerkongregationen führte CYRILL SCHÄFER OSB ein. Schäfer unterschied in einer Typologie der Kongregationen die verschiedenen Männer- und Frauenkongregationen nach ihrem Grad der Zentralisierung bzw. nach dem Selbstverständnis ihrer Mitglieder als Nonnen oder Schwestern. In der Periodisierung unterschied er kongregationsübergreifend externe Faktoren wie dem Kulturkampf, dem Ersten Weltkrieg, dem NS-Regime oder dem Zweiten Vatikanischen Konzil von kongregationsspezifischen internen Faktoren. Dabei verwies er beispielsweise auf Statusänderungen (Kongregationsgründungen, -auflösungen, -vereinigungen) oder Generalkapitel. Abschließend betonte Schäfer, dass die Geschichte der Benediktinerkongregationen sich am besten auf der Ebene der Einzelklöster und weniger als Kongregationsgeschichte fassen lasse. Gleichzeitig plädierte er für mehr problemorientierte Betrachtungsweisen, zum Beispiel zum Umgang mit der Klausur oder den Formen der Initiation.

Die beiden letzten Referate beschäftigten sich mit der Geschichte zweier Frauenkongregationen. Zu Beginn sprach JOHANNES MERTENS über die 1859 bischöflich anerkannte Kongregation der Schwestern von der heiligen Elisabeth. Mertens erläutete drei verschiedene Zugänge zur Periodisierungsfrage. Als erstes führte er in die Spiritualitätsgeschichte ein, die er in verschiedene Phasen unterteilte: Bis 1900 fand eine Orientierung an alten Orden und den Drittorden statt. Nach 1900 habe eine Ergänzung und Fortschreibung der Regeln an den Erfordernissen des Arbeitsalltags stattgefunden. Eine dritte spiritualitätsgeschichtliche Periode sei nach 1965 mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eingeläutet worden. Als zweiten Blickwinkel auf die Periodisierung verwies Mertens auf Wandlungsprozesse in den Tätigkeitsfeldern, also einer Professionalisierung zwischen 1918 bis 1950 sowie einer Abgabe von Aufgabengebieten an weltliche Kräfte nach 1950. Eine dritte Perspektive stellten die politischen Ereignisse dar, wie der bereits mehrfach erwähnte Kulturkampf oder das ‚Dritte Reich‘.

Anschließend stellte MICHAELA SOHN-KRONTHALER die Franziskanerinnen von der unbefleckten Empfängnis, besser bekannt als Grazer Schulschwestern, vor. Die 1843 gegründete Kongregation ist heute weltweit in zehn Staaten tätig und hat gegenwärtig noch circa 500 Schwestern. Sohn-Kronthaler zeigte auf, dass die rasche Aufwärtsentwicklung der Gründungsphase (1843–1851) aufgrund von internen Auseinandersetzungen abgeschwächt wurde. Trotzdem folgte eine erste Periode des Ausbaus in der Habsburgermonarchie bis 1918 und dann in einer zweiten Phase in der Zwischenkriegszeit auch der Schritt nach Brasilien und damit in einen anderen Kontinent, der sich in den folgenden Jahrzehnten wiederholte. Die NS-Diktatur schränkte dann die Wirkungsmöglichkeiten ein. Es folgte eine Ära (1945–1970) der Auf- und Umbrüche mit einem starken Rückgang an Eintrittszahlen. Sohn-Kronthaler legte dar, dass damit ganz unterschiedliche Faktoren wie etwa politischer oder kirchenrechtlicher Art (Satzungsänderung) die Geschichte der Kongregation beeinflussten und zu Zäsuren führten.

Die Fülle an Periodisierungsvorschlägen fasste JOACHIM SCHMIEDL in einem letzten Redebeitrag zusammen. Er unterschied drei Periodisierungskategorien, die denen von Cyrillus Schäfer ähnelten:

1. Periodisierungen der allgemeinen Geschichte: Darunter fasste er die in allen Beiträgen genannten Einschnitte, also den Kulturkampf, die beiden Weltkriege sowie die politischen Systemwechsel im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Schmiedl betonte, dass diese Zäsuren auch länderspezifisch zu betrachten seien.
2. Kirchenhistorische Einschnitte: Hier verwies Schmiedl unter anderem auf die innerkirchlichen Positionierungen, wie sie sich etwa an den Auseinandersetzungen um den Modernismus aufzeigen ließen, und auf das in allen Referaten genannte Zweite Vatikanische Konzil.
3. Ordensspezifische Einschnitte: Darunter verstand Schmiedl Einschnitte, wie sie der Tod des Gründers oder seine Selig- oder Heiligsprechungen hervorrufen konnte.

In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die Herausforderung darin besteht, die verschiedenen Einflussfaktoren nicht isoliert, sondern in ihren gegenseitigen Wechselwirkungen zu verstehen. Weitere im Gespräch mehrfach angesprochene Probleme sind Ungleichzeitigkeiten und Übergangsphasen – exogene Faktoren wirkten nicht immer sofort und riefen auch nicht in allen religiösen Gemeinschaften die gleichen Wirkungen hervor. Damit eng verbunden ist die Frage nach Kontinuitätslinien, etwa im Bereich der Spiritualitätsgeschichte, die sich unbeeindruckt von politischen Ereignissen und Systemwechseln durchziehen können. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich im Verlauf der Diskussion eine Präferenz für das Periodisierungsmodell von Johannes Mertens heraus. Da es die verschiedenen Zugänge – Spiritualitätsgeschichte, Tätigkeits- und Wirkungsgeschichte sowie politische Geschichte – miteinander verbindet, könnte es auf alle Orden übertragen werden.

Schließlich musste konstatiert werden, dass vergleichende Ordensgeschichte keine leichte Aufgabe ist, zeigte es sich doch, dass selbst die Ausbalancierung von exogenen und endogenen Faktoren für Einzelgeschichten ein komplexes Unterfangen ist. Der mögliche Ertrag einer solchen komparativen Herangehensweise schimmerte allerdings deutlich auf, so dass eine Fortsetzung des Kolloquiums für das Jahr 2011 geplant ist.

Konferenzübersicht:

Hans-Georg Aschoff (Hannover), Periodisierungen in der Säkular- und Kirchengeschichtsschreibung

Periodisierungen von Kongregations- und Provinzgeschichten:

Damian Bieger OFM, Deutsche Franziskanerprovinzen

Carolin Weichselgartner, Bayerische Kapuzinerprovinz

Clemens Brodkorb, Jesuiten

Cyrill Schäfer OSB, Benediktiner und Benediktinerkongregationen

Johannes Mertens, Frauenkongregationen I: Die Schwestern von der heiligen Elisabeth

Michaela Sohn-Kronthaler, Frauenkongregationen II: Die Franziskanerinnen von der unbefleckten Empfängnis (Grazer Schulschwestern)


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