Autobiographie und Zeitgeschichte

Autobiographie und Zeitgeschichte

Organisatoren
Arthur Schlegelmilch, Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität Hagen; Carsten Heinze, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg
Ort
Lüdenscheid
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2010 - 26.06.2010
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Von
Julia Sydow, FernUniversität Hagen

Am 25. und 26. Juni 2010 fand im Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität Hagen in Lüdenscheid eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderte, interdisziplinär ausgerichtete Tagung zum Thema „Autobiographie und Zeitgeschichte“ statt. Fachvertreter aus der Geschichtswissenschaft, der Literaturwissenschaft sowie der Soziologie hatten sich zusammengefunden, um über Stand und Perspektiven der Autobiographieforschung aus ihren disziplinären Perspektiven zu berichten.1

Eröffnet wurde die Tagung von PETER BRANDT (Hagen), der in einem einleitenden Vortrag die Referenten der unterschiedlichen Disziplinen sowie die leitenden Themenstellungen der Tagung vorstellte; darunter die Fragen nach dem Stellenwert autobiographischer Schriften innerhalb kommunikativer Gedächtnisbildungsprozesse, nach den Beziehungen und Wechselwirkungen von autobiographischer Selbstpräsentation und zeitgeschichtlicher Selbsthistorisierung sowie nach dem Verhältnis zwischen kollektiver und individuell-autographischer Sinnkonstruktion.

Die folgenden drei Vorträge lieferten einen Überblick über Stand und Perspektiven der Autobiographieforschung aus Sicht der Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie der Soziologie. Kritik am Stand der historischen Quellenkunde übte zunächst VOLKER DEPKAT (Regensburg). Diese sei nicht mehr zeitgemäß und verfüge namentlich über keine hinreichenden Instrumentarien zur Erfassung narrativer Strukturen. Hieran anschließend lieferte Depkat Ansätze zu einer text- und kommunikationspragmatisch erneuerten Quellenkunde der Autobiographie, bei der er neben der Textualität den Charakter der Autobiographie als Akt der sozialen Kommunikation besonders hervorhob.

Den zweiten Vortrag hielt die Literaturwissenschaftlerin MARTINA WAGNER-EGELHAAF (Münster). Ihren Ausgangspunkt bildete der unterschiedliche Erkenntnishorizont der Geschichts- und Literaturwissenschaft. Beide Fächer hätten zwar nicht dasselbe Primärmotiv, könnten sich aber gut ergänzen. Der Geschichtswissenschaft legte sie nahe, sich der subjektiven Seite der Erinnerung als einer Form der Erkenntnisbildung zu öffnen und sich auch den gattungsspezifischen Formungen von Texten zuzuwenden. Als spezifisches und sozusagen neu entdecktes Gestaltungselement benannte die Referentin den räumlichen Bezug der autobiographischen Erinnerung und stellte die Frage nach der Relevanz räumlicher Wahrnehmung und Darstellung für das autobiographische „Ich“, das sich im Übrigen auch durch fiktionale Elemente konstituieren würde.

Zum Abschluss der Theoriesektion referierte CARSTEN HEINZE (Hamburg) über die Autobiographieforschung in der Soziologie und äußerte sich zu den interdisziplinären Perspektiven. Schreiben werde in der Soziologie als soziales Handeln aufgefasst, demnach handele es sich bei der Autobiographie um eine spezifische Kommunikationsform, für die die Soziologie allerdings noch kein subjekttheoretisches Konzept aufzuweisen habe. Im Hinblick auf den Austausch mit der Geschichts- und Literaturwissenschaft konstatierte Heinze für die Soziologie einen erheblichen Nachholbedarf. Im zweiten Vortragsabschnitt stand der Ansatz der „Sozialkommunikation“ im Vordergrund, von dem ausgehend Schnittstellen zu den Nachbardisziplinen gefunden werden könnten – unter anderem im Hinblick auf die Rezeptionsforschung sowie hinsichtlich der Kontextualisierung von Schreibgegenwart und beschriebener Vergangenheit.

Die darauf folgende Diskussion der drei Vorträge wurde vom Moderator ULRICH SCHÖDLBAUER (Hagen) mit der Provokation des autobiographischen Schreibens als „Angeberei“ eingeleitet. „Angeberei“ sei, so Depkat in seiner Replik, als Variante der sozialen Kommunikation analysier- und nutzbar. Im weiteren Verlauf ging es um den – fachlich unterschiedlichen – Nutzen von Gattungsbegriffen, um den Beitrag der Autobiographie zur Generationsforschung (Autobiographie als kollektiver Text) sowie um das Verhältnis von Zusammenarbeit und Abgrenzung zwischen den Fächern.

Zum Abschluss des ersten Sitzungstags stellte der Journalist und Autor HANS-DIETER SCHÜTT (Berlin) im Rahmen der „Lüdenscheider Gespräche“ seine Autobiographie „Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR“ vor. Schütt war langjähriger Chefredakteur bei der FDJ-Zeitung „Junge Welt“ und galt bis zum Ende der DDR als unversöhnlicher Hardliner. Mit seiner damaligen Position und Haltung setzte er sich ungewöhnlich schonungslos auseinander und lieferte zahlreiche Erklärungsgründe für karrieristisches Verhalten im System.

Der Frage des autobiographischen Schreibens professioneller Historiker widmete sich zu Beginn des zweiten Tages EDGAR LIEBMANN (Hagen) anhand der Lebenserinnerungen des Zeithistorikers Hans Herzfeld. Wiewohl Liebmann empirische Nutzungsmöglichkeiten des Herzfeld-Manuskripts namentlich im regionalgeschichtlichen Rahmen aufzuzeigen vermochte, äußerte er sich im Hinblick auf die gelegentlich behauptete größere Distanz und Objektivität der Historiker-Autobiographie im konkreten Fall skeptisch.

ARTHUR SCHLEGELMILCH (Hagen) referierte sodann über die autobiographischen Umbruchdarstellungen von Politikern, die nach Kriegsende in der Viersektorenstadt Berlin in führender Stellung tätig gewesen waren, ohne sich mit ihren damaligen politischen Zielen durchsetzen zu können. Weder das Kriegsende noch das persönliche politische Scheitern führten bei den Betreffenden zu Konversionserzählungen – vielmehr erklärten sie sich in abgestuftem Maße durch die Schreibgegenwart der ausgehenden sechziger und frühen siebziger Jahre gleichsam rehabilitiert und bestätigt. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Diskussion standen vor allem die von den Referenten herausgearbeiteten sozialkommunikativen Elemente (Herzfeld-Widmung: „an meinen Sohn“) sowie die zum Teil in wörtlichen Dialogwiedergaben gipfelnde Dramaturgie der Darstellung, einschließlich des räumlichen Bezugs der Erinnerungspräsentation.

Die Literaturwissenschaftlerin VALESKA STEINIG (Schwalbach) befasste sich mit Mechanismen der legitimatorischen Selbstbehauptung in Autobiographien ehemaliger Kunstschaffender der DDR nach 1990. Im Mittelpunkt stand die Wende als literarische Krise und Herausforderung. In den von ihr ausgewählten Beispielen (namentlich Hermann Kant, Günter de Bruyn, Heiner Müller) erwies sich das poetisch-literarische Gestaltungselement als bedeutsamer Faktor für die Darstellung von Krisenbewusstsein und -bewältigung respektive des jeweils individuellen Abschiednehmens aus der untergegangenen DDR.

CHRISTIANE LAHUSEN (Potsdam) widmete sich der Umbrucherzählung der Nachwendezeit im Ausschnitt von Autobiographien aus der Feder von Geisteswissenschaftlern der DDR. Auffallend sei hier vor allem das Bemühen um empirische Beweisführung und um Differenzierung zwischen öffentlicher Geschichte und privatem Lebensverlauf. Generell sei die Differenzierungsabsicht gegenüber der westdeutschen „Meistererzählung“ als zentrale Schreibmotivation und als bedeutsames narratives Gestaltungselement erkennbar.

Im Mittelpunkt des abschließenden Vortrags von ILSE FISCHER (Bonn) standen Umbrucherfahrungen ostdeutscher Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Die von ihr vorgestellten autobiographischen Berichte und Äußerungen hinterließen in sachlicher Hinsicht einen äußerst vielschichtigen Eindruck, während sich die Texte in ihrer literarischen Gestaltung und narrativen Struktur durchaus ähnelten.

Die abschließende Diskussion bezog sich unter anderem auf das Phänomen der Aufspaltung des autobiographischen Subjekts in ein poetisches und politisches. Als gemeinsames Gestaltungsmerkmal wurde das „Urlaubsmotiv“ thematisiert, das offenbar die Marginalisierung und Ausblendung aus unerwünschten Ereigniszusammenhängen zum Ziel hat. Christiane Lahusen vertrat die Ansicht, dass auch die Darstellung familiengeschichtlicher Ereignisse der „Neutralisierung“ öffentlicher Ereignisse dienen kann.

Als Veranstalter der Tagung zogen Arthur Schlegelmilch und Carsten Heinze eine positive Bilanz und betonten, dass es vor allem gelungen sei, die Fächer miteinander ins Gespräch zu bringen. Unter den anwesenden Vertretern der Soziologie, Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft habe Einigkeit im Hinblick auf das Verständnis der Autobiographie als sozialkommunikativem Akt bestanden. Für eine Quellenkritik der Autobiographie habe die Tagung wichtige Hinweise erbracht – hierzu gehöre auch die Berücksichtigung autofiktionaler und offen narrativer Gestaltungselemente, ebenso der Paratexte und der räumlichen Strukturierung von Erinnerung. Diese Elemente und andere würden auch das Verhältnis von Autor und Leser betreffen und könnten zu einer Neubeschreibung des „autobiographischen Pakts“ anregen.

Konferenzübersicht:

Peter Brandt (Hagen): Tagungseröffnung

Sektion I: Fachperspektiven

Volker Depkat (Regensburg): Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft

Martina Wagner-Egelhaaf (Münster): Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft

Carsten Heinze (Hamburg): Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Soziologie

Hans-Dieter Schütt (Berlin): Lüdenscheider Gespräch: Biographiebruch als Aufbruch – Erfahrungen eines glücklich beschädigten DDR-Bürgers

Sektion II: Umbrucherfahrung als Gegenstand autobiographischer Darstellung und als Faktor kommunikativer Erinnerung und wissenschaftlicher Aufarbeitung

A „1945“

Edgar Liebmann (Hagen): Hans Herzfeld „Geschichte gestalten in schwierigen Zeiten“: Ein deutsches Historikerleben im 20. Jahrhundert

Arthur Schlegelmilch (Hagen): Umbrucherfahrung 1945 – autobiographische Erinnerung aus historischer Perspektive

B „1989“

Valeska Steinig (Schwalbach): Die Wende als (literarische) Krise? Legitimatorische Selbstbehauptungen in „Künstlerbiographien“ nach 1990

Christiane Lahusen (Potsdam): Umbrucherzählungen in Nachwende-Autobiographien

Ilse Fischer (Bonn): Umbrucherfahrungen von Sozialdemokraten

Carsten Heinze (Hamburg); Arthur Schlegelmilch (Hagen): Diskussion/Schluss

Anmerkung:
1<http://www.fernuni-hagen.de/geschichteundbiographie/forschung/tagungen.shtml> (28.07.2010)


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