Übertragungsräume – Medienarchäologische Perspektiven auf die Raumvorstellungen der Moderne

Übertragungsräume – Medienarchäologische Perspektiven auf die Raumvorstellungen der Moderne

Organisatoren
Eva Johach, Trier; Diethard Sawicki, Paderborn; Historisch-kulturwissenschaftliches Forschungszentrum (HKFZ) der Universität Trier
Ort
Trier
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.06.2010 - 26.06.2010
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Von
Ulrich van Loyen, München; Ehler Voss, Leipzig

Was führte zur seit dem späten 19. Jahrhundert verlorenen Anschaulichkeit des Raums und wie wurde sie kompensiert? Dieser Frage widmete sich ein großer Teil der Beiträge zur obengenannten Tagung am Historisch-Kulturwissenschaftlichen-Forschungs-Zentrum der Universität Trier. Wie die Organisatoren EVA JOHACH (Trier) und DIETHARD SAWICKI (Paderborn) in ihrer programmatischen Einführung zur Diskussion stellten, waren zur Überwindung des Raums zweierlei Schritte notwendig : (1) seine Anthropologisierung in Gestalt der Kantischen Anschauungsformen, (2) die dadurch ermöglichte enge epistemologische Verschränkung von physiologischen, spirituellen und technischen Formen der Medialität. Der anthropologisierte Raum in der Moderne ist als solcher nicht mehr erfahrbar, sondern existiert lediglich in Gestalt der in ihm stattfindenden „Übertragungen“, das heißt: als Medium. Die Übertragung selbst dachte man sich bis ins 20. Jahrhundert vermittels eines sowohl räumliche als auch zeitliche Entferntheiten erreichenden „Universalmediums“ (Fluidum, Äther, Aura), das ebenso den Verkehr der Geister als auch den der Radioanstalten bewirkt. Das Szenario der sympathethischen Allverbundenheit, von dem der schweizerische Arzt Mesmer schrieb, fungierte de facto als Arbeitsanweisung an ganz prosaische Übertragungskünste.

MARTIN HENSE (Berlin) stellte in seinem Vortrag eine frühe ‚Systemtheorie‘ der Medien vor: Herders Schriften zum „Verbindungskanal der Geister“ beantworten die Frage, wie Wissen intersubjektiv prozediert werden kann, durch eine Emergenztheorie, in der die kollektiven Kommunikationsräume von den Einzelindividuen unabhängig sind. Das eigentliche Medium – und wohl auch das eigentliche Problem – ist hier noch die Zeit.

ERHARD SCHÜTTPELZ (Siegen) widmete sich sodann dem Verhältnis von „Mediumismus und modernen Medien“ und griff die neuralgischen Punkte der Forschung auf. Die Konzeptualisierung von „Medien“ und Massenmedien sei demnach ohne die Prägung des (personalen) „Mediums“ und der fokussierenden Debatte um dessen Passivität gegenüber einer Größe, deren Macht sie herbeiruft und interpretierbar werden lässt, nicht zu denken. „Der aktuelle Medienbegriff hat nicht nur eine Vorgeschichte in der alten metaphysischen Tradition des Medienbegriffs besessen, sondern er ist zugleich in erstaunlichem Maße an seine Nachgeschichte gebunden, an eine Erbschaft der Praktiken und Theorien des Medienbegriffs im langen 19. Jahrhundert, aus der seinerzeitigen Überschneidung zwischen Trancemedien und imponderabilen Medien.“ Zu den Imponderabilien zählten der Äther, die Elektrizität, ebenso das Unbewusste, die sich in personalen Medien verdichteten und aus der Deckung wagten, eine Reihe von Überprüfungsfeldzügen hervorriefen und ihrerseits diese Überprüfungen anleiteten. Der Vortrag plädierte für eine „symmetrische“ Betrachtung der Geschichte des Mediumismus, die es vermeidet, in eine „teleologische Schieflage“ zu geraten, welche darin bestehe, die sich historisch erfolgreich konsolidierenden Entwicklungen „einem kognitiven Gewinn zuzuschreiben“.

Gleichfalls programmatisch verstand sich der Vortrag von STEPHAN GÜNZEL (Trier), der einen Überblick über die Entwicklung der theoretischen Beschäftigung mit Raum sowie die jeweiligen Konsequenzen für eine sozial- und kulturwissenschaftliche Herangehensweise an dieses Thema gab: Der so genannte „spatial turn“ stehe für eine generelle Hinwendung zum Thema Raum. Im so genannten „topographical turn“ interessiere weniger die Frage nach einem adäquaten Raumbegriff als vielmehr der Zusammenhang von Raumauffassung und anderer kultureller Hervorbringungen. Als Folge aus einem mit diesen „turns“ einhergehenden Reflexivwerden der Raumdebatte stehe eine „topologische Wende“ für den Versuch, sich auch von den letzten Verhaftungen in einem mit substantiellen Vorstellungen verbundenen „Containerdenken“ zu verabschieden und eine konsequent relationale Analyse in verschiedensten Fachrichtungen zu erproben. Der Vortrag spürte dabei den historischen Ursprüngen der Topologie (unter anderem bei Euler) nach und stellte auch künstlerische Verfahren der Topologie (wie bei Beckett) vor.

CHRISTINA VAGT (Berlin) erörterte die unterschiedlichen Konzeptionen des Äthers. Als europäische Erfindung tauchte der Äther bereits bei Aristoteles als die fünfte, Feuer und Luft vermittelnde Substanz auf. Bei Kant wurde er sogar zur Bedingung der Möglichkeit einer eigentlichen, weil systematischen Wissenschaft der Natur. „Im 19. Jahrhundert erlebte der Äther seinen wissenschaftsgeschichtlichen Höhepunkt als flüchtiges aber äußerst effektives Betäubungsmittel der Medizin und als raumfüllendes Weltmedium der Physik. In Europa und Nordamerika wurde sich erst in der Gegenwart elektromagnetischer Übertragungsmedien vom alten Weltmedium Äther als einer alles durchdringenden aber selbst unwägbaren Substanz verabschiedet. Die Frage seiner experimentellen Beweisbarkeit stellte sich überhaupt erst im 19. Jahrhundert. Sein physikalisches Ende findet das Ätherkonzept durch Einsteins spezielle Relativitätstheorie von 1905.“ Anhand einer peripheren Auseinandersetzung zwischen Bergson und Einstein führte Vagt exemplarisch vor, wie sich Physik und Philosophie im 20. Jahrhundert von einem einheitsstiftenden Medium verabschieden, und zugleich neue ontologische Medien den Diskurs über das Sein der Dinge und Menschen stiften.

Eine Archäologie der „Interferenz personaler und technischer Medien“ um 1900 unternahm MARCUS HAHN (Siegen). Er begann mit der Geburt moderner Medien aus dem Wunsch nach Überprüfbarkeit vagierender Trancemedien und spiritistischer Séancen. Die Re-Integration der Trance in die moderne Wissenschaft erfolgte im Zuge eines empiristischen Programms, das sich vier Disziplinen bediente (Psychiatrie, Ethnologie, Pharmakologie, Parapsychologie), deren diskursive Strategien die Trennung von personalen und technischen Medien vornahmen. Ausgehend von einer illustren „Gründungsurkunde der deutschen Medientheorie“, nämlich Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz, demonstrierte Hahn ein signifikantes Moment der Scheidung von personalen und technischen Medien, das retrospektiv zugleich die Bedingungen ihrer Verschränkung beleuchtet: Es ist der Begriff der Aura, der zum einen die Extension der jeweiligen Körpersphäre, zum anderen – im Dingbereich - die quasi animistisch gedachte Teilhabe am Lebensstoff verbürgt, die durch den Menschen aktiviert zu werden vermag. Die „Aura“ wirke als Zentralbegriff einer archaisierenden Medientheorie, und zwar genau dort, wo ihr Verschwinden mit der Entindividualisierung dieses Blickes zusammengezogen wird - im reproduzierten Kunstwerk. Die Interferenz von personalem und technischem Medium kann in Benjamins Verschränkung von Primitivismus und bürgerlicher Ästhetik nachträglich betrachtet werden.

Einen weiten Zeitraum überlickend behandelte BRITTA HERMANN (München) „Raumtötung und Raumerzeugung“ vor allem anhand von Geschwindigkeitsdiskursen. Die Telegraphie widerlegte gewissermaßen Kant, indem der Raum quasi nachträglich zum Ereignis hinzuerklärt werden musste. Seither gelte: der Stoff, der den Raum durchquert, definiert ihn – beispielsweise vernichte ihn die ‚militärische‘ SMS, während die qualitativ hochwertige Nachricht des Briefes ihn bestätige (bzw. erzeuge, um ihn als Bedingung der eigenen Hochwertigkeit hervortreten zu lassen). Dies wurde für die Frühromantik an Novalis exemplifiziert, der den Raum durch die Zeichen hervorgebracht sah.

Dass der innere Körperraum die Voraussetzung sei für die Wahrnehmung einer res extensa, legte KIRSTEN WAGNER (Berlin) in ihrem Referat zur „Topologie der Sinne“ dar. Historisch führte sie dies anhand der durchaus riskanten Selbstexperimente von unter anderem Johannes P. Müller durch, dessen physiologischer Idealismus die vorgeblich wahrgenommene Welt als Konstrukt aus idiosynkratisch verfahrenden Sinnesorganen zu verstehen lehrt. Genau hier stelle sich die Frage, wie sich eine an sich unräumliche Wahrnehmung lokalisiere, wenn weder die Sinne noch die Dinge räumlich sind, sondern Raum eine Anschauungsform bedeutet.

Anschließend stellte KARL BAIER (Wien) die Kritik an der objektivierten Raumerfahrung – und am Versuch, eine solche deduzieren zu können – in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, widerspreche sie doch der Ganzheit des menschlichen Handelns. Statt der Analyse idealistisch-intellektualistischer Herleitungen ging es hier um die insbesondere von der Phänomenologie analysierte, von lebensreformerischen Bewegungen demonstrierte Leiblichkeit des Raumbezugs und die durch die jeweiligen „Sinnzusammenhänge“ der Bewegung aufgegebene Pluralisierung der Räume, wie sie Erwin Strauss für den tanzenden, Karlfried Graf Dürkheim für den meditierenden Leib als Medien veränderter Räumlichkeit während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchdeklinierten.

MARTIN REINHARDT (Wien) beschäftigte sich mit der 1893 von Nicola Tesla formulierten Vision des Fernsehens, bei der mittels einer künstlichen Retina Gedankenbilder übertragen werden. Im Jahr darauf entdeckte Tesla eine unbekannte Strahlung, mit der sich Objekte durchdringen und so ihr Inneres abbilden ließen. Mithilfe einer drahtlosen Glühbirne bewies Tesla schließlich, dass der menschliche Körper auch zur Übertragung elektromagnetischer Energie tauge. Dieser Ideenkosmos erweckte enormes öffentliches Interesse und beflügelte mit dem Postulat des Körpers als Empfangsmedium und Strahlungsquelle auch die Anhänger der Fluidallehre. Vor allem die Röntgen-Fotografie schien jenen die Existenz des animalischen Magnetismus beweisen zu können. In der Folge wurden unter anderem von Majewski, Fukurai und Darget Experimente zur Fluidal- und Gedankenfotografie vorgenommen, welche ebenso wie die zeitgleich von Schrenck-Notzing beschriebenen Materialisierungsphänomene auf der Idee basieren, der Körper ströme Energie aus, die sich in irgendeiner Form abbilden lasse. Vor diesem Hintergrund kam Edison 1921 die Idee zu einer Maschine, mit deren Hilfe er diese Energie lesen wollte, um so Kontakt mit dem Jenseits aufzunehmen.

Die Geschichte der durch Somnambulismus und Psychedelismus geschaffenen „Übertragungsräume“ sichtete EVA JOHACH (Trier/Zürich). Während im 19. Jahrhundert mesmeristische Ärzte für den Schlafwandler ein Zurücktreten der Sinne hinter dem inneren „Allsinn“ angenommen hatten, wurde die Aufhebung der normalen Wahrnehmungsbeschränkung im psychedelischen „anderen Zustand“ im 20. Jahrhundert mit der Hypothese eines chemischen „Informationsstroms“ erörtert, der an Stelle des vorherigen Leitmediums Äther trat. Der Eingriff in die chemisch konfigurierte Psyche ging darum mit ausladenden Spekulationen über Kosmos und Evolution einher, Psychedelika wurden von Terence McKenna als weitere Evolutionsstufen ausgerufen: dadurch würden nicht bloß innerpsychische, sondern auch Räume außerhalb des jeweiligen Bewusstseins begehbar, nämlich das Gedächtnis unserer Ahnen. Psychdelik, so Johach, erscheine hier als „archaic revival“, als experimenteller Primitivismus und als experimentelle Ethnologie.

DIETHARD SAWICKI (Paderborn) stellte Wilhelm Reichs auf die Idee des Lichtäthers zurückgehende Idee des universalen Refraktionsmediums „Orgon“ vor. Spiralförmige Bewegungsmuster, die Reich mikro- wie makroskopisch nachweisen zu können glaubte, galten ihm als Strukturen der Welt: von der Planetenzeugung bis zur Zellteilung. Extraterrestrische Intelligenzen bedienten sich der „Orgonenergieströme“, um auf der Erde vorbeizuschauen. Reichs Interesse dabei war mindestens ebenso kosmologisch wie therapeutisch – zumal er glaubte, den Beitrag des Einzelnen vor dem Aufgehen in Abstraktionen zu bewahren: Die Allgegenwart des Orgons sorge dafür, dass sich Störungen der „orgonotischen“ Atmosphäre als Störungen des Organischen, seelische Eintrübungen als physische, gleichsam transsomatische Ereignisse präsentierten („Die Wüste wächst.“). Und die kreativen, emotionalen und sensorischen Erkenntnisformen des Individuums, wie sie sich nicht nur in der ‚objektiven‘ Photographie, sondern auch im Spielfilm ausdrückten, seien gewissermaßen Teil der Selbstbeobachtung des Orgons und dienten daher der Wahrheitsfindung.

Im Rahmen der Abendvorträge zu den historischen Kulturwissenschaften am HKFZ der Universität Trier sprach IRIS DÄRMANN (Berlin) über die Internalisierung der „Opferräume“. Während das blutige Opfer den Raum gliederte und die Kommunikation mit den Göttern herstellte, habe die im Christentum geforderte Abkehr vom rituellen Opfer und die Forderung an das dem Religionsgründer nacheifernde Leben als moralisches Selbstopfer die (kultur-) protestantische Verinnerlichung der Passion vorbereitet, die in Kants Ethik auftritt. Dort sorge das Selbstopfer des moralischen Subjekts für eine erneute Raumaufteilung, jetzt zwischen tierisch, menschlich und wahrhaft moralisch. Der Vortrag endete mit der Frage: Gibt es eine Möglichkeit anthropologischer Grenzziehung ohne wirkliches Opfer?

Nicht zuletzt verdeutlichte die Tagung einmal mehr, wie sehr man es im langen 19. Jahrhundert mit einer – um mit Latour zu sprechen – „ungereinigten“ Moderne zu tun hat und wie sehr der eigene Blick aus einer „gereinigten“, das heißt entmischten Perspektive heraus erfolgt. Die heutige Verwunderung über die Interferenzen zwischen „okkultistischen“ und „wissenschaftlichen“ Konzeptionen sowie die Überschneidungen von technischen und personalen Medien wird verständlich, wenn man den eigenen – von einem Fortschrittsnarrativ vereinnahmten – Standpunkt reflektiert. Auch wenn die Einnahme einer ethnologischen Haltung mit einer entsprechenden Infragestellung der eigenen Sozialisation und der Verabschiedung dadurch bedingter vertrauter Interpretationsmuster nicht immer leicht fällt, so eröffnet sie doch auch den Kultur- und Geschichtswissenschaften inspirierende Perspektiven – beim Teilnehmen und beim Beobachten.

Konferenzübersicht:

Martin Przybilski (Leiter des HKFZ): Begrüßung

Eva Johach, Diethard Sawicki: Thematische Einführung

Martin Hense (Berlin): Der physiologische „Verbindungskanal der Geister“. Zum Phantasma raumzeitübergreifender Übermittlungswege im späten 18. Jahrhundert

Erhard Schüttpelz (Siegen): Mediumismus und moderne Medien

Stephan Günzel (Trier): Topologie und topologische Wende

Christina Vagt (Berlin): Im Äther. Bergson, Einstein und die Uhren der Mikrobe

Marcus Hahn (Siegen): Die Interferenz personaler und technischer Medien in der deutschsprachigen Medientheorie der Zwischenkriegszeit

Britta Hermann (München): Bombenpost, Postschnecke, Literatur: Raumtötung und Raumerzeugung

Kirsten Wagner (Berlin): Topologie der Sinne. Experimentelle Raumerzeugung am Körper

Karl Baier (Wien): Der tanzende und der meditierende Leib als Medium veränderter Räumlichkeit: Erwin Straus und Karlfried Graf Dürckheim

Martin Reinhart (Wien): The Ghost in the Machine

Eva Johach (Trier): Mind Spaces. Veränderte mediale Reichweiten zwischen romantischem Somnambulismus und psychedelischer Revolution

Diethard Sawicki (Paderborn): Weltraum, Orgon, Mensch. Wilhelm Reichs energetische Kosmologie


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