Konfessionelle Ambiguität – Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit

Konfessionelle Ambiguität – Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Excellenzcluster “Religion und Politik”, Westfälische Wilhelms Universität Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2010 - 22.09.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Klaus Jansen, Westfälische Wilhelms Universität Münster; Johannes M. Müller, Universität Leiden

Die Tagung “Konfessionelle Ambiguität – Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit” des Münsteraner Excellenzclusters “Religion und Politik” vom 20. bis 22. September 2010 machte es sich zur Aufgabe, ambiges Handeln im Spannungsfeld von Konfession, Religion und Politik näher zu betrachten. Mehr als Arbeitsgespräch und weniger als Präsentation definitiver Ergebnisse angelegt, beleuchtete die von Barbara Stollberg-Rilinger und Andreas Pietsch (beide Münster) geleitete Veranstaltung das Tagungsthema interdisziplinär: neben vielen historischen bzw. religionsgeschichtlichen Beiträgen reichte das Spektrum der verschiedenen Vortragsthemen von der Kunstgeschichte über die romanistischen und germanistischen Literaturwissenschaften bis hin zur Sprachwissenschaft.

(I.) Begriffliche Klärungen
In ihrem Eröffnungsvortrag charakterisierte BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Münster) die Geschichte der Frühe Neuzeit pointiert als Geschichte des Versuchs, das rigide Lügenverbot der Alten Kirche zu “moderieren”. Im Blick auf die anstehenden Tage formulierte sie sechs vorläufige Fragen: (I.) Welche Praktiken wurden in den Augen der Zeitgenossen als Anzeichen konfessioneller Differenz gesehen? (II.) Unter welchen Umständen wurde konfessionelle Eindeutigkeit eingefordert und wichtig? (III.) Welche Vorstellung über das Außen- und Innenleben der historischen Akteure spielten eine Rolle? (IV.) Wie gingen die Zeitgenossen ganz allgemein mit dem Phänomen religiöser Ambiguität um? (V.) Wie ging man praktisch mit dem Phänomen der Uneindeutigkeit um? (VI.) In welchem Verhältnis standen der theologisch-moralphilosophische Diskurs und der alltägliche Vollzug zueinander?

In seinem Referat setze PHILIPPE BÜTTGEN (Paris) das Begriffsfeld Ambiguität zum Begriff der doctrina in Beziehung. Erst wenn man die Frühe Neuzeit als Zeitalter der mit dem doctrina-Begriff verbundenen Eindeutigkeit betrachte, könne man verstehen, warum Fragen der Ambiguität zur selben Zeit zentral wurden. Selbst das Reden über Verstellung und Zweideutigkeit habe hier nach Regeln stattgefunden. Die Ergebnisse wurden als doctrinae konzipiert. Dies war möglich, da es in der Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht um individuelles Handeln, sondern paradoxerweise um wahrheits- bzw. realitätsadäquates Verhalten optima ratione ging.

JEAN-PIERRE CAVAILLÉ (Paris) lieferte eine Neulektüre von Calvins Schrift “Excuse à messieurs les Nicodémites”. Er charakterisierte die dort genannten Gruppen von Krypto-Protestanten, die Calvin unter dem gemeinsamen Begriff der Nikodemiten zusammenfasste und stellte die These auf, dass die ursprünglich positiv besetzte Bezeichnung ‚Nikodemit’ erst durch Calvins Polemik einen diffamierenden Charakter bekommen habe.

Dem der Uneindeutigkeit und Verstellung verwandte Aspekt der konfessionellen Indifferenz näherte sich KASPAR VON GREYERZ (Basel) in seinem Vortrag. Zwischen konfessioneller Devianz, Toleranz, Ignoranz und Indifferenz sei differenzierter zu unterscheiden, indem die Fragestellung aus einer strikt geistesgeschichtlichen Herangehensweise herausgelöst und stärker durch sozialgeschichtliche Aspekte ergänzt werde, so von Greyerz. Dabei unterschied er zwischen zehn verschiedenen Typen von konfessioneller Indifferenz. Sie reichten von einer religiösen Indifferenz als aufklärerischer Staatsräson bzw. einer preußischen „Toleranzpolitik von oben“ über eine Indifferenz, die schlicht aus der Unkenntnis der Kerninhalte der verschiedenen Konfessionen resultiere, bis hin zum radikalen Pietismus und seiner konsequenten Ablehnung aller konfessionellen Zuordnungen.

MAURUS REINKOWSKI (Basel) fragte in seinem Vortrag nach der Tragfähigkeit des Begriffes “Kryptoreligiösität“ in der Analyse von konfessionell ambigen Gruppen in der islamischen Welt. Anhand der Besprechung von verschiedenen christlichen und jüdischen Volksgruppen, die nach außen eine islamische Identität angenommen hatten, erläuterte er, dass der Begriff sich kaum für die Beschreibung der Situation dieser Gruppen eigne. Vielmehr sei bei den Strategien dieser Minderheiten zwischen religiöser Unentschiedenheit, Synkretismus und bewusster Verstellung zu differenzieren. Mit europäischen Phänomenen der konfessionellen Ambiguität lasse sich viel eher der Graubereich parallelisieren, der teils zwischen Sunna und Schia oder auch zwischen einzelnen Individuen und Gruppen bestanden habe.

(II.) Annäherungen an soziale Gruppen
Einer doctrina besonderer Art näherte sich ANDREAS PIETSCH (Münster) in seiner Behandlung der vielschichtigen Bewertung von liturgischer Praxis durch prominente Vertreter der Familisten. Diese vor allen in den Niederlanden und England vertretene Strömung relativierte die Bedeutung der Sakramente so sehr, dass an die Stelle einer Reform dieser Handlungen eine äußerliche Teilnahme treten konnte. Am Beispiel des Justus Lipsius und der reformierten Polemik gegen diesen zeigte Pietsch, wie die Familisten die Möglichkeiten der Überprüfung ihrer Orthodoxie unterhöhlten, indem sie jeden liturgischen Vollzug dem Bereich der adiaphora zuordneten und sich dementsprechend den konfessionellen Gegebenheiten ihrer Umgebung problemlos anpassten. Inwiefern die Familisten eine 'Sekte' gewesen seien, stellte Pietsch dabei in Frage: Da sie in der Tradition mittelalterlicher Frömmigkeitspraktiken standen, hätten ihre Ansichten in den Niederlanden wohl teils recht weite Verbreitung.

Dem Phänomen des Geheimprotestantismus in den habsburgischen Erbländern widmete sich MARTIN SCHEUTZ (Wien). Da der öffentliche Raum des Hörens, des Sehens und des Agierens ganz durch den von der Zentralverwaltung unterstützten Katholizismus dominiert war, spielte sich das Aufrechterhalten einer protestantischen Identität im rein privaten Bereich ab. Einer öffentlichen Teilnahme an Pflichtritualen wie Osterbeichte und Kommunion standen im privaten Konventikeltreffen mit Schrift- und Devotionalienlesungen sowie der gelegentliche Besuch von protestantischen Territorien wie Augsburg und Nürnberg gegenüber. Auch das Entstehen von Ersatzritualen lasse sich nachweisen, beispielsweise für den katholischen Versehgang.

Die 1615 an der Nürnberger Altdorfina aufgedeckte sozinianische Gruppierung um die Schüler Ernst Sohners war der Gegenstand der Ausführungen von FRIEDRICH VOLLHARDT (München). Vor allem an der medizinischen und philosophischen Fakultät beheimatet, fand ihr Austausch vor allem in der Form von Tischgesprächen und privaten Vorlesungen statt. Sie entwickelten zudem ein ausgeklügeltes System von Geheimcodes für ihre briefliche Kommunikation. Laut Vollhardt zeige sich bei der Altdorfer Gruppe eine Figur, die sich von Servetus bis zu Sohner hin konstatieren lasse, nämlich das Ineinandergreifen medizinischer, naturphilosophischer und theologischer Diskurse, die mit der Verbreitung antitrinitarischer Ideen einhergehe.

JÜRGEN MACHA (Münster) fragte in seinem Vortrag nach dem veränderten Schreibverhalten von Stadtschreibern in der bayerisch katholisch gewordenen, ehemals lutherischen Reichsstadt Donauwörth. Es sei schon nach dem ersten Durchsehen von Ratsprotokollen und ähnlichem städtischen Schrifttum möglich, eine Reihe von eher oberdeutsch geprägten bairischen Sprachmerkmalen festzustellen, die die alte städtische Rechtssprache, die sich zuvor am ostmitteldeutschen “Luther-Deutsch“ orientiert habe, modifiziere. Darüber hinaus zeigte Macha, wie bestimmte konfessionsabhängige Sprachbestände in der Frühen Neuzeit auch allgemein als solche erkennbar waren, wie zum Beispiel das katholische Vater Unser gegenüber dem reformierten Unser Vater.

(III.) Annäherungen an Einzelpersonen
Dass konfessionelle Ambiguität sich nicht notwendig als Indifferenz oder Verstellung darstellen müsse, zeigte ULRICH HEINEN (Wuppertal) am Beispiel des niederländischen Künstlers Hendrick Goltzius, einem Schüler des streitbaren Irenikers D.V. Coornhert, der sich lebenslang den konfessionellen Schablonen seiner Zeit zu verweigern versuchte. In Goltzius’ Apostelcredo, einer Kupferstichserie, in der jedem der Apostel ein Satz des apostolischen Glaubensbekenntnisses zugeordnet ist, zeige die Physiognomie der dargestellten Personen durchweg einen Ausdruck des Ringens und Grübelns. Indem Christus untypischerweise in der Mitte der Serie zu sehen sei, werde ihm damit die alleinige Hoheit über den zum Zweifeln und Grübeln herausfordernden Bekenntnistext noch einmal explizit zugesprochen. Die Uneindeutigkeit der Apostel liege fern von aller Verstellung, sondern ringe angestrengt um den Textsinn, der allein durch Christus selber garantiert sei.

KARIN WESTERWELLE (Münster) ging in ihrem Vortrag auf die Beziehung der liberté de confession und der liberté de conscience bei Montaigne ein. In dessen “Essais“ stelle sich auch das Christentum als eine historisch kontingente Gegebenheit dar, und Religion werde somit in letzter Konsequenz kulturalistisch begründet. Montaigne, in dessen Werk sich ein “innerlich-privat“ gedachter Gewissensbegriff herausbilde, sehe in der religiösen Verstellung ein Krisenphänomen seiner Zeit. Diese neuartige Dimension der Innerlichkeit, so stellte Westerwelle in der Diskussion fest, lasse sich im zeitgenössischen Denken über Wissen und Gewissen anderswo noch nicht feststellen, und ihre Genese und Weiterentwicklung verdiene deswegen besondere Beachtung.

JAN-FRIEDRICH MIßFELDER (Zürich) plädierte mit Bezugnahme auf den Übertritt zum Katholizismus des Duc de Lesdeguiéres für eine Abkehr von der aporetischen Frage nach etwaigen persönlichen Motiven für derartige “politische“ Konversionen. Stattdessen gelte es, die diskursiven Möglichkeitsbedingungen des Redens über Aufrichtigkeit und Verstellung hinreichend zu untersuchen. Indem Mißfelder diesen Fragehorizont mittels zentraler Begriffe aus der Luhmannschen Systemtheorie eröffnete, machte er deutlich, dass die Codierung “Aufrichtigkeit/Verstellung“ mit dem Präferenzcode “Aufrichtigkeit“ nur unter den Bedingungen einer fortschreitenden Ausdifferenzierung der Funktionssysteme Religion und Politik möglich werde. Eine “Authentizitätserwartung“ sei also nur vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Weltlichem und Religiösen plausibel. Dabei gehe diese Ausdifferenzierung jedoch mit einer im konfessionellen Zeitalter notwendigen “Entdifferenzierung“ einher.

Ein bekannter Fall (vermeintlicher) konfessioneller dissimulatio wurde von MATTHIAS POHLIG (Münster) neu dargestellt. Pohlig beleuchtete die Haltung Friedrichs III. von Pfalz auf dem Augsburger Reichstag 1566 und plädierte für deren Neubewertung unter stärkerer Berücksichtigung der jeweiligen Akteursperspektiven. Unterstelle man Friedrich III. konfessionelle dissimulatio, habe dies zwangsläufig zur Konsequenz, dass auch das Auftreten aller anderen beteiligten Fürsten, den Kaiser ausgenommen, als Verstellung erscheine. Doch die konfessionelle Ausdifferenzierung innerhalb des Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts im Reich, so Pohlig, sei noch nicht so weit fortgeschritten gewesen: Eine Berufung auf das Augsburger Bekenntnis durch Reichsfürsten, die dem Reformiertentum zugeneigt waren, müsse nicht zwangsläufig als Verstellung gesehen werden. Vielmehr, so argumentierte Pohlig, habe die zunehmende konfessionelle Polarisierung die Interpretation verbindlicher Texte wie der confessio Augustana gesteuert und damit konfessionelle dissimulatio erst konstituiert.

Besonders in Hinblick auf Begriffsklärungen, so zeigte sich in der Abschlussdiskussion, erwies sich die Tagung als fruchtbar. Dass konfessionelle Uneindeutigkeit sowohl ein Zeichen von Unentschiedenheit als auch von bewusster Verstellung sein könne, zeigte sich schon im Anschluss an die ersten Vorträge. Vor allem Philippe Büttgen, der eine systematische Geschichte des confessio-Begriffs forderte, betonte, dass für das Verständnis der vorgestellten Phänomene ein heuristisch klarer Zugriff nötig sei.

Der deutliche Frageüberhang in der Schlussdiskussion zeigte das Potential, das sich trotz einer bereits dichten Forschungslage noch aus dem Thema gewinnen ließ: Was impliziert Ambiguität im Bereich des Religiösen, der nach der Reformation immer weniger imstande ist, solche Uneindeutigkeiten auszuhalten, da diese zwangsläufig als Bekenntnis zum Dissens bzw. zu einer konkurrierenden Gruppe aufgefasst werden? Gibt es in der Frühen Neuzeit neben einem veritistischen auch einen “caritistischen“ Typ von Religion (oder muss nicht auch eine irenische Postion letztlich veritas für den eigenen Standpunkt in Anspruch nehmen)? Wie wird Uneindeutigkeit im Diskurs gerechtfertigt? Was bedeutet schließlich das für die Zeitgenossen immer offenkundigere Auseinanderklaffen von Performanz und Authentizität für die historische Ritualforschung?

Barbara Stollberg-Rilinger fasste die diskutierten Fragekomplexe prägnant zusammen, indem sie die im konfessionellen Zeitalter stattfindenden Entwicklungen als konstitutiv für die “Produktion von Differenz“ charakterisierte. Die zunehmende konfessionelle Ausdifferenzierung sorge für immer neue Entwürfe von Orthodoxie, die ihrerseits jedoch erst möglich seien durch die Gegebenheit ihrer anderen Seite, nämlich den entsprechenden Heterodoxien. Dass die Beantwortung der Fragen nach dem Verhältnis zwischen Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit nur in einem systematisch verknüpften und intensivierten Dialog zwischen theologie- und kulturgeschichtlichen Zugängen erfolgen kann, lässt sich allgemein als Fazit aus dieser Tagung ziehen.

Konferenzübersicht:

BARBARA STOLLBERG-RILLINGER (Münster): Einführung in die Tagung

PHILLIPPE BÜTTGEN (Paris): Was heißt konfessionelle Eindeutigkeit? Konzeptionelle Überlegungen zum frühneuzeitlichen Begriff der doctrina

JEAN-PIERRE CAVAILLÉ (Paris): Nicodemism and Deconfessionalization in early modern Europe

KASPAR VON GREYERZ (Basel): Konfessionelle Indifferenz in der Frühen Neuzeit

ANDREAS PIETSCH (Münster): Die Causa Lipsius oder Messbesuch für Anfänger und Fortgeschrittene

ULRICH HEINEN (Wuppertal): Das Apostelcredo des Hendrick Goltzius und der Streit um Öffentlichkeit und Privatheit der Konfession im niederländischen Universalkatholizismus

FRIEDRICH VOLLHARDT (München): Diskursivierung gefährlichen Wissens. Antitrinitarismus in der Gelehrtenkultur um 1600

KARIN WESTERWELLE (Münster): “Un gentilhomme de bonne façon se contrefaisoit autre”. Gewissen und Dissimulatio in Montaignes “Essais”

JAN-FRIEDRICH MIßFELDER (Zürich): Die allzu politische Konversion des Duc de Lesdiguères. Zur diskursiven Produktion von Aufrichtigkeit

MARTIN SCHEUTZ (Wien): Auf der Suche nach Eindeutigkeit. Die habsburgische Zentralverwaltung und die Vielfalt der geheimprotestantischen Zeichen

MAURUS REINKOWSKI (Basel): ‚Kryptoreligiösität’ im Nahen Osten. Ein tragfähiger Begriff?

JÜRGEN MACHA (Münster): Sprachpraxis und konfessionelle Differenz: Befunde und Mutmaßungen

MATTHIAS POHLIG (Münster): Wahrheit als Lüge. Friedrich III. von der Pfalz auf dem Augsburger Reichstag 1566

THOMAS LENTES (Münster) / SEBASTIAN NEUMEISTER (Berlin) / THOMAS WINKELBAUER (Wien): Abschlussdiskussion


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