HT 2010: Furcht und Liebe. Semantische Grenzen der Affekte und affektuelle Grenzen des Handelns in der europäischen Vormoderne

HT 2010: Furcht und Liebe. Semantische Grenzen der Affekte und affektuelle Grenzen des Handelns in der europäischen Vormoderne

Organisatoren
Leitung: Andreas Bähr / Claudia Jarzebowski, Freie Universität Berlin; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Hanß, Freie Universität Berlin

Die Charakterisierung des Affektes als Gemütserregung, welche die Handlungsfähigkeit mindere, sei eine Definition unserer Zeit, betonte RENATE DÜRR (Kassel) in ihrer Einführung in die Sektion. In der Frühen Neuzeit hätten, in aristotelischer Tradition, eher die körperlichen Ursachen der Affekte als deren Folgen im Mittelpunkt der Affektenlehre gestanden. Die Relativierung der anachronistischen Dichotomie von affectus und ratio sei deshalb ein Anliegen dieser Sektion. Außerdem müsse die moderne Entgegensetzung von Furcht und Liebe für den frühneuzeitlichen Kontext hinterfragt werden. In zeitgenössischen Auffassungen von den Affekten hatten Furcht und Liebe grundlegende Gemeinsamkeiten. Sie seien beide „gewisse Bewegungen des Gemu[e]ths und der Sinnen“, wie in Zedlers ‚Grossem vollständigem Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste‘ zu lesen ist, „dem eingebildeten Guten nachzustreben, und das Bo[e]se zu meiden.“1 Furcht und Liebe, die für die Zeitgenossen für den Aufbau einer göttlichen und gottgewollten Ordnung notwendig gewesen seien, müssten deshalb in ihrem Zusammenspiel als affektuelle Grundlagen menschlichen Handelns thematisiert werden, die in der Vorstellung der historischen Akteure beispielsweise durch Erziehung formbar waren.

LEE PALMER WANDEL (Madison/WI) betrachtete das Verhältnis von Liebe und Furcht in Martin Luthers ‚Großem Katechismus‘ und Peter Canisius’ ‚Summa doctrinae christianae‘. Die Katechismen versammelten, was Christen zu wissen hatten, und durch die Wiederholung der in ihnen gedruckten Sätze äußerten Christen nicht nur ihre Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, sondern wurden dadurch auch geformt und informiert. Diese Katechismen seien aufgrund ihrer teils handlichen Größe (Canisius) auch außerhalb der Kirche oder des Haushaltes konsultiert worden. Luther habe das Verhältnis des Menschen zu Gott mit den Wörtern „Glaube“ und „Vertrauen“ beschrieben, die er in ihrem Zusammenwirken als „Liebe“ charakterisierte. Keinen anderen Gott zu haben stellte er als Gottesfurcht, -liebe und -vertrauen dar. Bei ihm waren Liebe und Furcht eng miteinander verbunden: Liebe hätte ohne Furcht nicht existieren und Furcht keinen Einfluss ohne die Liebe ausüben können. Beide intensivierten sich für Luther gegenseitig, führte die Referentin aus. Dies verdeutlichen auch die ‚Zehn Gebote‘ in Luthers Katechismus, die Gottesgehorsam mit Liebe und Gottvertrauen mit Furcht verbinden. Der Aufbau von Canisius’ ‚Summa‘ unterscheidet sich vom oben behandelten Katechismus: Er ist durch ein Frage-Antwort-Schema strukturiert und die ‚Zehn Gebote‘ werden nicht an erster, sondern an dritter Stelle behandelt, was die Memorierungsprozesse und die Entstehung von Wissen unter den LeserInnen beeinflusst haben dürfte. Die ‚Summa‘ beginnt mit dem ‚Apostolischen Glaubensbekenntnis‘, was eine andere Auffassung von einem christlichen Leben signalisiere. Durch diesen Anfang habe Canisius das aktive Wirken des Heiligen Geistes in der Welt verdeutlichen wollen. In den ‚Zehn Geboten‘ vermittelte er ein Caritas-Konzept, das unter dem Begriff eine Beziehung zu Gott verstanden habe, die jener zwischen den Menschen gleicht. Liebe sei für ihn ein Personen bindendes Konzept gewesen, das alles beinhaltete, was Gott in den Geboten als Liebe definierte. Gott sollte im Willen und Handeln der Gläubigen um seiner selbst willen geliebt werden, und das heißt durch das, was er in den ‚Zehn Geboten‘ als Liebe charakterisiert habe, durch gute Handlungen gegenüber Gott und den Nächsten. Furcht sei deshalb in Canisius’ Caritas-Konzept nicht eingeschrieben gewesen. Liebe manifestiere sich in der ‚Summa‘ letztlich in der Inkarnation Christi als Zeichen der Gottesliebe und des Opfers.

CLAUDIA JARZEBOWSKI (Berlin) untersuchte die Bedeutung von Liebe als (de)legitimierenden Aspekt politisch-gesellschaftlicher Handlungsspielräume, um damit zwei „historiografische Irrtümer“ zu revidieren: dass Gefühle Privatsache seien, und dass die Historische Emotionenforschung ausschließlich untersuche, wie Menschen tatsächlich fühlten. Anhand der ‚Zwölf Artikel‘ verdeutlichte die Referentin, wie sich „aufständische“ Bauern auf „Liebe“ als in der Welt tätige Gottesliebe bezogen, um ihr eigenes Handeln als gerecht und gottgefällig zu legitimieren. Demgegenüber sprach Luther zunächst beiden, Obrigkeiten und Bauern, die Deutungshoheit ab, indem er Aufstände als gewalttätiges Handeln und das ausbeuterische Verhalten der Obrigkeiten als unchristlich charakterisierte. Die diskursive Ambivalenz der Deutungen von Gottesliebe in frühneuzeitlichen Handlungskontexten trete auch im gesellschaftspolitischen Diskurs der Herrschaftslegitimation hervor. In seiner ‚Institutio Principis Christiani‘ fordere Erasmus von Rotterdam eine der Liebe der Beherrschten zur Obrigkeit vorausgehende Liebe der Fürsten, zu der sie sich anhaltend und andauernd neu zu „entfachen“ hätten. Niccolò Machiavelli betonte, dass ein Herrscher sowohl geliebt als auch gefürchtet werden müsse. Sollte sich nur eines verwirklichen lassen, sei die Furcht zu bevorzugen, welche die Herrschaft durch Angst vor Bestrafungen absichere. Furcht und Liebe wurden als sympathetisch aufeinander bezogen konzipiert, wohingegen Erasmus eine Konkurrenz zwischen diesen eröffnete und die Liebe privilegierte. In Traktaten zur Fürstenerziehung wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend der Zusammenhang zwischen der Befähigung zu lieben und derjenigen zu herrschen betont. In Marullus’ ‚Institutiones Principales‘ werde die „zärtliche“ Elternliebe argumentativ mit der Fähigkeit des „mütterlichen Fühlens“ verknüpft, die nicht biologisch begründet werden musste. Demgegenüber werden in Erasmus’ Schrift ‚De pueris instituendis‘ Mütter verdächtigt, ihre Kinder zu „verzärteln“. Die häufige Abwesenheit der Väter mache neben einer Amme die Anstellung eines Lehrers notwendig, dessen Verhältnis zum Schüler ebenfalls durch Liebe vitalisiert werden solle. Der Vortrag zeigte, wie die Berufung auf Gottesliebe im Bauernkrieg zu Grenzverschiebungen von Deutungsansprüchen und zur Erweiterung der Handlungsspielräume im politischen Kontext führen konnte. Er veranschaulichte auch anhand der frühneuzeitlichen Verwobenheit von Furcht- und Liebeskonzepten, dass die Befähigung zur Liebe nicht von biologischer Abstammung abhing. In engem Bezug auf Hannah Arendt plädierte Claudia Jarzebowski dafür, Emotionen als Modi des Zusammenlebens zu untersuchen und in ihren performativen Eigenschaften ernstzunehmen. Emotionen nicht länger in entwicklungsgeschichtliche Geschichtsvorstellungen einzusortieren und ihre Zuordnung zum Privaten zu hinterfragen, könnte einen grundlegenden Wandel in der Neubewertung von Emotionen für historisches Verstehen befördern.

In seiner Autobiographie schreibt Thomas Hobbes, dass seine furchterfüllte Mutter ihn zusammen mit der Furcht gebar. Hiervon ausgehend, verdeutlichte ANDREAS BÄHR (Berlin) die Zentralität der historisch-kulturellen Furchtsemantik für dessen politische Theorie. Sie sei in der zeitgenössischen Theologie zu verorten ebenso wie in der Affektologie, in der affektuellen Zuständen eine besondere körperliche Wirkungsmacht zugeschrieben wurde. Laut Hobbes haben die nach Selbsterhaltung strebenden Menschen einen Herrscher zu fürchten, um sich nicht voreinander fürchten zu müssen. Der furchtlose Leviathan (Hiob 41) vereine die Furcht der Menschen auf sich, um den „bellum omnium contra omnes“ zu beenden. Diese Furcht vor dem Leviathan erhalte bei Hobbes am Ende eine religiöse Begründung. Dabei greife Hobbes antike Vorstellungen auf, wonach die Suche nach den Ursachen der Dinge die Menschen veranlasste, eine göttliche „prima causa“ zu setzen. Diese, so Hobbes, erscheine den Menschen als nicht erklärbar und versetze sie in die Furcht der Gottesverehrung. Hobbes habe damit keine grundsätzliche Religionskritik formuliert, sondern vor einem „falschen“ Glauben an Dämonen gewarnt, der sich politisch ausnutzen ließ. Dieser, so Hobbes, nähre die Furcht, der er sich verdanke. „Wahre“ Religion dagegen sei für Hobbes in wahrer Furcht begründet und ein Heilmittel gegen die Furcht des „falschen“ Glaubens. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen theologischen Differenzierung zwischen einer kindlichen und einer knechtischen, sanktionswürdigen Furcht habe Hobbes eine Furcht vor Gott als liebendem Vater gefordert und nicht lediglich eine Furcht vor dessen Strafen. In diesem Zusammenhang erscheint die Furcht vor dem Leviathan nicht lediglich als eine monopolisierte und umgeleitete, sondern zudem als eine qualitativ andersartige Furcht. Eine derartige Transformation war theoretisch erforderlich, damit der Leviathan nicht seinerseits in Furcht versetzt und seine Herrschaftsgrundlage in Gefahr gebracht werden konnte. Dies gelang nur, indem Hobbes’ Theorie dem Souverän den Status eines göttlichen Stellvertreters zusprach und damit die Furcht vor ihm anders konzipierte als jene vor den anderen Menschen: als religiöse, liebende Ehrfurcht. Vor diesem Hintergrund wird der Gedanke des Gesellschaftsvertrags verständlich. Der Referent betonte, dass Furcht und Liebe in Hobbes’ politischer Theorie nicht als Gegensatzpaar gedacht worden seien, sondern immer schon wechselseitig ineinander eingeschrieben waren. Dies finde Unterstützung im autobiographischen Text, in dem Hobbes die Überwindung seiner von der Mutter ererbten knechtischen Furcht in die kindliche Furcht seiner Gerechtigkeit beschreibt. Vor diesem religiösen Hintergrund besaßen „Furcht“ und „Liebe“ bei Hobbes eine grundlegend andere Bedeutung als in aufklärerischen Konzeptualisierungen des „Gefühls“.

GADI ALGAZI (Tel Aviv) trug im Anschluss daran seine konzeptionellen Überlegungen zur historiografischen Annäherung an Affekte wie Liebe und Furcht am Beispiel mittelalterlicher Quellen vor. Er verortete diese innerhalb kultureller Repertoires der historischen Gesellschaften, für die er Distinktionsmechanismen (beispielsweise über Lebensstile und soziale Praktiken) besonders betonte. Liebe unterliege einer situationsbedingten Konstruktion als Leidenschaft, in der den Augen seit dem 12. Jahrhundert eine besondere Rolle zukomme. In kritischer Auseinandersetzung mit Max Weber und Norbert Elias, zu dem er ausführte, dass letzterer eigentlich die Zähmung der Affekte und nicht der Emotionen behandele und keine tiefergehenden Überlegungen zur Produktion von Leidenschaften liefere, kam der Referent zu dem Befund, dass Liebe als Aktion und Code zugleich behandelt werden müsse. Sie manifestiere sich relational als Beziehung, im Gegensatz zur Angst als einem Zustand, weshalb die Beziehung selbst, die ein gesamtes Spektrum an Emotionen beinhalte, zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden müsse. Die unterschiedliche kulturelle Kodierung von Liebe wurde anhand literarischer Erziehungsformen am Beispiel des abbasidischen Hofes im 9. Jahrhundert und des ‚Le Roman de la Rose‘ demonstriert. Der Referent vertrat die These, dass Liebe als Code lesbar sei, der in Form eines sozialen Spieles zur Erlangung bestimmter Kompetenzen beigetragen habe. Diese Kompetenzen bestünden in mittelalterlichen face-to-face-Gesellschaften vor allem in der Einübung spezifisch kultureller Erwartungen und Formen der Selbstkultivierung. Literarische Diskurse hätten daher, in ihrer lebensweltlichen Rezeption als soziales Spiel, Akteure geformt, die bestimmte kulturelle Kompetenzen einübten. In diesem Prozess lernten die Rezipienten einerseits ihre Handlungsspielräume in der Hofpolitik kennen und nutzen, indem sie die Kunst des indirekten Zuganges, der Andeutungen und der verborgenen Absichten trainierten und mit Reizen sowie der Sprache zu spielen übten. Die Regeln, Erwartungen und Bedeutungen des Schenkens wurden ebenso erlernt. Außerdem habe die historische Rezeption literarischer Liebeskonzepte dazu gedient, eigene Emotionen in der Lebenswelt zu steuern. In diesem Zusammenhang seien vor allem Techniken religiöser Rituale bedeutsam gewesen, um Erinnerung und Handeln zu formen und zu gestalten. Liebe sei demnach ein Modell emotionalen Selbstmanagements gewesen und die historische Rezeption über das Zuhören dieser literarischen Geschichten von Liebe und über Liebende habe dem Erlernen kultureller Normen und Regeln gedient. Sie stelle demnach eine Art kontrollierter Übung zu dem, was am Hofe (nicht) getan werden sollte, dar.

Die Sektion führte mit ihren verschiedenen Beiträgen, die von MARTIN SCHAFFNER (Basel) präzise kommentiert wurden, eindrucksvoll vor Augen, welch enorme Bedeutung Emotionen für die Gestaltung sozialer Beziehungen innerhalb frühneuzeitlicher Vorstellungswelten zukam. Damit wurde auch verdeutlicht, wie wichtig zukünftige Studien hierzu sind, um ein umfassenderes Verständnis komplexer frühneuzeitlicher Vorstellungswelten und Handlungslogiken, auch in ihren semantischen Repräsentationen, zu gewinnen. Die Referenten und Referentinnen stellten nicht nur die Fülle des Quellenmaterials vor, das für derartige Untersuchungen von Interesse ist, sondern präsentierten auch weiterführende methodologische Überlegungen.

Sektionsübersicht:

Renate Dürr (Kassel): Moderation

Lee Palmer Wandel (Madison/WI): Love and Fear in the Catechisms of Luther and Canisius

Claudia Jarzebowski (FU Berlin): Lieben und Herrschen. Fürstenerziehung im späten 15. und 16. Jahrhundert

Andreas Bähr (FU Berlin): Die Furcht vor dem Leviathan. Furcht und Liebe in der politischen Theorie des Thomas Hobbes

Gadi Algazi (Tel Aviv): Love as a Code of Social Competence

Martin Schaffner (Basel): Kommentar

Anmerkung:
1 Affectus, in: Johann H. Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste […]. 1. Bd. Halle/Leipzig 1732, Sp. 718.


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