Neue Forschungen zu Matthias Flacius Illyricus

Neue Forschungen zu Matthias Flacius Illyricus

Organisatoren
Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.06.2011 -
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Von
Vera von der Osten-Sacken, Institut für Europäische Geschichte, Mainz

Flacius polarisiert. Wie IRENE DINGEL (Mainz) zur Eröffnung des Studientages feststellte, wurde der streitbare lutherische Theologe aus dem heutigen Kroatien zum Scheusal, aber auch zum Helden stilisiert. Der Studientag „Neue Forschungen zu Matthias Flacius Illyricus“ widmete sich der Person, dem Wirken und der Wirkung des vielseitig begabten Gelehrten Matthias Flacius Illyricus (1520–1575), der neben europaweiten Kontakten und einem weitreichenden Einfluss seiner theologischen Lehren auch Verdienste um Hermeneutik, Exegese und quellenbezogene Geschichtsschreibung erwarb.

In einem sehr quellennahen Beitrag widmete sich STEFAN MICHEL (Jena) den Streitschriften des Flacius aus dem Sommer 1548 und ihrer Wahrnehmung durch den Wittenberger Herausgeber der Werke Luthers, Georg Rörer (1492–1557). Durch den Streit um die Umsetzung des Augsburger Interims (1548) zu einer eigenen Positionsbestimmung genötigt, sammelte Rörer Gutachten und Stellungnahmen Luthers und aus Reihen der Wittenberger Theologen um Philipp Melanchthon. Bemerkenswert ist, dass er sie mit kritischen Stimmen von und aus der Umgebung des Flacius in einem handschriftlichen Band zusammenfasste, der heute in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena aufbewahrt wird. Ob diese unpublizierten, handschriftlich weitergegebenen Schriften Vorstufen zu Druckschriften des Flacius darstellen, konnte im Rahmen der sorgfältigen Quellenanalyse Michels noch nicht geklärt werden. Diese Frage bedarf weiterer Untersuchung.

HARALD BOLLBUCK (Wolfenbüttel), betrachtete in einem ebenfalls sehr quellenreichen Beitrag die Funktionen der Magdeburger Zenturien vor den Hintergrund der Selbstverortung des Flacius und seiner Mitstreiter als Erben der Zeugen des wahren Glaubens. Im Kontext der Interimskontroverse, vor allem aber gegenüber dem Ursprünglichkeitsanspruch der römischen Lehre, den der Mainzer Weihbischof Michael Helding vorgetragen hatte, entwickelten die Magdeburger ein historiographisches Großprojekt, das gegenüber bisherigen personenorientierten Konzepten die wahre Lehre und Gestalt der Kirche in den Vordergrund stellen sollte. Um Lehre und Ritual der römischen Kirche zu dekonstruieren, fixierten die Magdeburger die Position der eigenen Lehre und immunisierten sie als ewige Wahrheit und Wiedererinnerung des Evangeliums gegen jede Historisierung.

Eine weiträumigere Perspektive auf die persönliche Entwicklung des Flacius nahm LUKA ILIĆ (Philadelphia/Mainz) ein, der nach dem Einfluss bestimmter Ereignisse im Leben des Flacius auf dessen Theologie fragte. Vor allem die häufigen Exilierungen des Illyrers sollen zur Radikalisierung der theologischen Positionen des Flacius beigetragen haben. Allerdings trat dieser schon zu Beginn seines Wirkens recht streitbar auf. Bald nach seiner Etablierung in der Opposition gegen das Augsburger Interim wurde er zu einer zentralen Figur der Gruppe der sogenannten Gnesiolutheraner. Vor allem im ernestinischen Sachsen gelangte er zu Einfluss und Unterstützung durch politische Entscheidungsträger, entfremdete sich aber im Zuge des Streites um seine Erbsündenlehre von seinem Landesherrn und führte schließlich ein wechselhaftes Leben zwischen zeitweiliger Sicherheit und Anerkennung, erneutem Exil und verschiedenen Rehabilitierungsversuchen.

Zu klären bleibt, inwieweit die theologischen Positionen des Flacius aus der charakteristischen Situation von Angriff und Antithese hervorgingen, in die ihn sein kompromissloses Auftreten immer wieder führte.

Die Weimarer Disputation (1560), in deren Verlauf Flacius seine substantiale Auffassung der Erbsünde formulierte, nahm FRIEDHELM GLEISS (Mainz) bei der Vorstellung seines Dissertationsprojektes in den Blick. Mit einer doppelten Perspektive, die theologiegeschichtliche und kirchenpolitische Aspekte berücksichtigen will, soll geklärt werden, wie weit die politische Situation im ernestinischen Sachsen und theologische Konsensbemühungen einander beeinflussten, sowie, ob die Weimarer Disputation als Weiterentwicklung der Reichsreligionsgespräche auf landespolitischer Ebene betrachtet werden kann.

CARSTEN BRALL (Mainz) untersuchte das auf Ausgleich und Wahrung des innergemeindlichen Friedens hin orientierte Wirken des Flacius in der lutherischen Gemeinde von Antwerpen (1566/67). Der in dieser Zeit hochproduktive Flacius hatte auch maßgeblichen Anteil an der Entstehung der Kirchenordnung der Gemeinde. Von einem Flacianischen Gemeindemodell im strengen Sinne kann aber wohl nicht die Rede sein. Auch traten die zeitgenössischen innerlutherischen Kontroversen hier stark hinter der Auseinandersetzung der Gemeinde mit Calvinisten und Katholiken zurück, in deren Verlauf Anhänger des Augsburgischen Bekenntnisses in Antwerpen immer stärker marginalisiert wurden. In der anschließenden Verfolgung der Protestanten wurde auch die Gemeinde Augsburgischen Bekenntnisses in die Emigration gezwungen.

ROBERT KOLB (St. Louis) bot mit seinem Beitrag zu Flacius’ Glossa Compendiaria (1570) einen Einblick in das wissenschaftliche und exegetische Werk des Flacius, das gegenüber seiner Beteiligung an theologischen Kontroversen relativ selten betrachtet wird. In der Glossa stellt Flacius dem griechischen Text des Neuen Testaments nach Erasmus von Rotterdam sowie dessen lateinischer Übersetzung eigene Kapiteleinführungen und Anmerkungen zur Seite, in denen er vor allem Briefe, weniger Evangelien und Apostelgeschichte, kommentierte. Obwohl er seiner Arbeit die mittelalterliche Glossa-Methode zu Grund legte, stützte Flacius sich hauptsächlich auf humanistische Arbeitstechniken. Wie bei seinen Wittenberger Lehrern galt sein Hauptinteresse dem prophetischen Aspekt des literalen Schriftsinns und dessen seelsorgerlicher Anwendung.

Das Ende des Flacianismus nahm RUDOLF LEEB (Wien) in den Blick, dessen Beitrag sich mit der letzten, hauptsächlich innerflacianisch ausgetragenen Phase des Erbsündenstreits befasste. Sie begann in den 1580er-Jahren in den Habsburgischen Erblanden und führte schließlich dazu, dass die Flacianer auch dort ihre letzten Refugien verloren. Der mit eschatologischem Ernst und großem publizistischem Aufwand ausgetragene Streit machte Inkonsistenzen des flacianischen Erbsündenverständnisses sichtbar, die neben dem kompromisslosen Auftreten der Flacianer und ersten gegenreformatorischen Aktivitäten zum Zerfall des Flacianismus in Österreich geführt haben dürften.

Trotz der streitbaren Natur des Theologen, dessen Person, Werk und Wirkung Gegenstand des Studientages war, brachte die Zusammenführung aktueller Forschungsperspektiven auf Matthias Flacius Illyricus ausgesprochen produktive und durchaus friedliche Diskussionen zwischen Wissenschaftlern verschiedenster Altersstufen aus unterschiedlichen Herkunftsländern hervor. Dies, die thematische Konzentration und die große Quellennähe vieler Beiträge gaben eine Vielzahl von Anregungen und Anstößen, zu Person und Werk des Flacius weiter zu forschen. Reiche, noch wenig bearbeitete Quellenbestände befinden sich z.B. in seinem Nachlass, den die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel aufbewahrt. Sowohl die vielschichtige, durch häufige Exilerfahrung geprägte Gelehrtenbiographie des Illyrers als auch seine Beiträge zu Exegese und quellenbezogener Geschichtsschreibung bieten ein bei weitem noch nicht erschöpftes Forschungsfeld, ebenso wie die Rezeptionsgeschichte seiner Werke und das Schicksal der Flacianer.

Konferenzübersicht:

Stefan Michel (Jena): Matthias Flacius Streitschriften des Sommers 1548 aus der Sicht von 'Luthers Kanzleischreibers'. Ein Beitrag zu ihrer Überlieferungsgeschichte durch Georg Rörer

Carsten Brall (Mainz): Positionierung und Abgrenzung. Flacius und die konfessionellen Ausdifferenzierungsprozesse in den Niederlanden 1566/67

Friedhelm Gleiss (Mainz): Vorstellung des Dissertationsprojekts "Die Weimarer Disputation von 1560 – Theologische Konsensfindung im Spannungsfeld territorialer Politik"

Robert Kolb (St. Louis): The Glossa Compendiaria: Commentary Flacius-Style

Rudolf Leeb (Wien): Das Ende des Erbsündenstreits – Ausgang und Ende des Flacianismus

Harald Bollbuck (Wolfenbüttel): Historiographie als Selbstbeschreibung. Die Magdeburger Zenturien und ihre Funktionen

Luka Ilić (Philadelphia/Mainz): Der Weg des Flacius von Wittenberg bis Frankfurt. Aspekte eines theologischen Radikalisierungsprozesses


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