Lebenswelten von Abgeordneten in Europa (1860–1990)

Lebenswelten von Abgeordneten in Europa (1860–1990)

Organisatoren
Senat des Parlaments der Tschechischen Republik; Tomáš-Masaryk-Institut und -Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaften; Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V.; Institut für tschechische Geschichte der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität zu Prag
Ort
Prag
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.10.2011 - 27.10.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Hans-Christian Maner, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Universität Mainz

Lebenswelten von Abgeordneten – so lautete das Thema einer internationalen Konferenz, die Ende Oktober 2011 in den repräsentativen Räumen des tschechischen Senats in Prag, im Waffensaal des Wallenstein-Palais, stattgefunden hat. Die Tagung war zugleich der zweite Teil einer Trilogie zur vergleichenden Erforschung parlamentarischer Kulturen in Europa. Nach dem Auftakt in Berlin im Herbst 20101 widmeten sich in Prag nun 21 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus neun Ländern den Lebenswelten von Abgeordneten in der Zeit zwischen 1860 und 1990. Der Fokus richtete sich auf die Akteure im Parlament, ihre Wahrnehmungen und Deutungen sowie auf den parlamentarischen Alltag, wie das Programm eingangs von MARIE-LUISE RECKER (Frankfurt/Main) umrissen wurde. Damit ging es um das Parlament als sozialen Ort und um die Kulturgeschichte des Politischen, und zwar im Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts. Die inhaltlich in vier unterschiedlich lange Sektionen gegliederte Tagung orientierte sich an dem Begriff »Lebenswelten«, der nach Alfred Schütz auf die sinngebende Wirklichkeit und die Gestaltung dieser Wirklichkeit durch die handelnden Subjekte abzielte. Regional lag ein Schwerpunkt auf Teilen Ostmitteleuropas. Die Vielgestaltigkeit des Parlamentarismus in Europa trat dadurch in den Vordergrund.

Bereits die erste Sektion überspannte einen großen geographischen Raum. Die Beiträge reichten von England im Westen bis Ungarn im Südosten. Auch zeitlich war der Untersuchungsrahmen weit (1848–2005). HEINRICH BEST (Jena) betonte in seinem vergleichenden Blick auf die Nationalparlamente in Deutschland, Frankreich und Großbritannien (1871–1990) die hohe personelle Volatilität und biographische Episodik der Mandate, die eine lebensweltliche Konsolidierung als Parlamentarier nicht zugelassen hätten. Zugleich sah Best ein Spannungsverhältnis zwischen einem lebensweltlichen und einem strukturanalytischen Ansatz. Ebenso sei die Politik ein Beruf der besonderen Art, zumal sich viele Parlamentarier in außerpolitischen Berufen bewährten. Insgesamt seien die Parlamentarier in Deutschland, Frankreich und Großbritannien trotz zeitlicher und regionaler Spezifika zu fragmentiert und zu heterogen. Die Parlamente erwiesen sich als Arenen für wechselnde Gruppen. In der Diskussion wurde bei der Frage nach der Rekrutierung von Parlamentariern der Blick auf eine mögliche Sozialisation in kommunalen Parlamenten gelenkt.

Um die Rekrutierung von Abgeordneten ging es auch LOTHAR HÖBELT (Wien), der sich auf die Finanzprokuratur und die alten Herrschaftsbeamten im 19. Jahrhundert in Altösterreich konzentrierte. Diese Berufsschicht sei zwar im Reichsrat nicht zahlreich vertreten gewesen – der Reichsalmanach von 1867 zählte unter den 203 Abgeordneten lediglich sieben Herrschaftsbeamte und acht Finanzprokuristen –, doch zeichnete sie sich durch Qualität aus. FRANZ ADLGASSER (Wien) verglich zwei Berufsgruppen im Wiener Reichsrat über den Zeitraum von 1861/73 bis 1907. Die freien Juristen, Rechtsanwälte und Notare zählten bis 1873 zu einer der bestimmenden Gruppen im Parlament, deren durchschnittliches Lebensalter sowie auch berufliche Erfahrungen Stabilität aufwiesen. Richter und Staatsanwälte verweilten im Durchschnitt lange im Parlament. Die Diskussion lenkte die Aufmerksamkeit auf Aspekte der nationalen Herkunft sowie die Frage nach einem Gemeinschaftsgefühl sowie dem Wissensstand beispielsweise unter Juristen im Parlament. PAUL SEAWARD (London) verfolgte in einem Längsschnitt die politischen Karrieren im britischen Parlament von 1868 bis 2005 unter finanziellem Aspekt. Dabei wurde deutlich, dass über weite Strecken des 19. Jahrhunderts die Mitglieder des House of Commons, für die ein Sitz im Parlament lokales und nationales Prestige bedeutete, sehr reich und wohlhabend waren. Mit der Verbreiterung des Wahlrechts änderte sich jedoch die Zusammensetzung des Parlaments. Die Zahl der Parlamentarier aus wohlhabenden Familien sank kontinuierlich, 1906 etwa saßen 90 Vertreter der Arbeiterklasse im Unterhaus. Im 20. Jahrhundert stellte sich auch angesichts der Tatsache, dass Parlamentsarbeit mehr und mehr zu einem Full-time-Job wurde, immer deutlicher die Frage nach der Bezahlung der Abgeordneten. So sei es bis heute umstritten, ob man im Falle eines Parlamentariers von Gehalt oder von Entschädigung sprechen solle. Hieraus gehe auch die Frage hervor, ob Politik ein Beruf sei.

Um die zunehmende Professionalisierung ging es auch MIKEL URQUIJO (Leioa/Bizkaia), der den parlamentarischen Kulturen und den politischen Karrieren von Abgeordneten in Spanien und im Baskenland zwischen 1860 und 1939 nachging. Sein Beitrag beruhte auf Ergebnissen einer breit angelegten Studie zum Lebensstil und zur beruflichen Erfahrung von Parlamentariern in Spanien und Europa. Die prosopographische Analyse beinhaltete eine ganze Reihe von Facetten der parlamentarischen Aktivitäten und sozialen Netzwerke. TOMÁŠ W. PAVLĺČEK (Prag) richtete seinen Blick auf die tschechischen Mitglieder des österreichischen Herrenhauses in den Jahren 1879–1914 und beleuchtete die Strategien der Berufung. Verdienstkategorien waren demnach: ein ausgezeichneter Beruf, Erfahrungen und soziale Kontakte, der jeweilige politische Stil, der Charakter und nicht zuletzt die Gesundheit. Die Karriere, den Stil, die Lebenswelt, die Verdienste und Werte fasste er unter dem Begriff des Lebenssinns zusammen. JÓZSEF PAP (Eger, Ungarn) zeigte Stabilität und Veränderung in Bezug auf die Abgeordneten in Ungarn im Jahre 1848 und 1910 auf, indem er die Aufmerksamkeit auf verschiedene Wahlgesetze lenkte. Während das Jahr 1848 für Ungarn wichtige Veränderungen mit sich brachte, veranschaulichte Pap am Beispiel Siebenbürgens, dass sich die Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachteilig für die Nationalitäten entwickelte. Die Abgeordneten bildeten nämlich die Gesellschaft in nationaler Sicht nicht ab. Eine Transformation der politischen Elite erfolgte erst nach 1920. Grundlegende Überlegungen zu Politik als Beruf in Ungarn im 19. Jahrhundert stellte ANDRÁS CIEGER (Budapest) an. In Anlehnung an Max Weber charakterisierte er die Bedeutung des Wortes ‚Politiker‘ und benannte die notwendigen gesetzlichen Bestimmungen, um Mitglied eines Parlaments zu werden. Zugleich verfolgte er die Fragen nach der erforderlichen Ausbildung, nach einer Gruppenidentität und schließlich nach Selbstkonzept und Image von Parlamentariern. Cieger schloss dabei mit der These, dass die Unterschiede zwischen Europa und Ungarn eigentlich gar nicht so groß gewesen seien. Aufmerksamkeit erregten die Frage der Wahrnehmung von Politik sowie die Frage der Gruppenidentität und der Selbstwahrnehmung. Die Diskussion dreht sich außerdem darum, ob man im 19. Jahrhundert von Politisierung sprechen konnte oder nicht viel eher von Oberschichtenpolitik.

Eine kleine Sektion widmete sich dem Privatleben der Abgeordneten, mit anderen Worten »Skandalen und Frauen«. Im ersten Fall mündeten die Ausführungen von CHARLOTTE BRAND und ANNE BOS (Nijmegen) in der Erkenntnis, dass politische Skandale ein gutes Thema für eine vergleichende politische Kultur bieten. Bei den Beispielen einiger niederländische Politiker, die wegen Skandalen zurückgetreten waren, standen die Bedrohung der politischen Ordnung sowie die verlorengegangene persönliche Integrität im Vordergrund. Zugleich wurde die ambivalente Rolle der Medien angesprochen, die selber Skandale schafften, wobei auch Politiker die Medien für ihre Zwecke zu nutzen versuchten. Einen indirekten und mikrokosmischen Zugang wählte ANDREA HOPP (Schönhausen), indem sie sich auf die Ehefrau, die Tochter und die Schwiegertochter Otto von Bismarcks konzentrierte und dabei in allen drei Fällen feststellte, dass sich die Frauen wie selbstverständlich unterordneten. Ehefrau Johanna von Puttkamer nahm an Bismarcks Seite repräsentative und politische Pflichten wahr, die Tochter Marie wurde von ihrem Vater vereinnahmt. Zugleich umsorgte sie ihn bis zu seinem Tod 1898. Die Schwiegertochter Marguerite schließlich avancierte zur Nachlassverwalterin Bismarcks. Alle drei Frauen lebten mit ihm und für ihn.
Eine weitere Sektion widmete sich dem parlamentarischen Alltag. LUBOŠ VELEK (Prag) zeigte auf der Grundlage einer guten Quellenbasis sehr anschaulich die Schwierigkeiten und Lebensumstände tschechischer Abgeordneter in der Zeit von 1848 bis 1918, wenn sie ihrer parlamentarischen Tätigkeit in Wien nachgingen: Wohnung, Verpflegung, Vergnügungen, Arbeit. Insgesamt gehe aus den Dokumenten hervor, so Velek, dass es sich um eine anspruchsvolle und anstrengende Arbeit gehandelt habe. Ein großes Problem stellte dabei die unzureichende Vergütung dar. Die darauf folgenden Ausführungen von VOLKER STALMANN (Berlin), der den Finanzen, der Arbeit und den privaten Angelegenheiten von Abgeordneten des Deutschen Reichstags 1871–1933 nachging, boten einen guten vergleichenden Blick auf die Überlegungen von Velek. Die alltags- und kulturgeschichtlichen Einblicke konturierten Aspekte der parlamentarischen Kultur. Ein Ort, an dem parlamentarische Kultur anschaulich wird, ist das Parlamentsrestaurant. JANA MALĺNSKÁ (Prag) zeigte dies am Prager Restaurant in der Zeit 1918–1920. Anhand eines Dokuments konnte sie Fotos sowie die Speisekarte präsentieren. Zugleich wurde aber auch deutlich, dass die Forschung hier weiter vertieft werden müsse, wobei sich jedoch die Quellenlage bislang als sehr schwierig erwiesen habe. Ein wesentlicher Teil der Existenz von Parlamentariern ist, wie dies bereits Velek für das 19. Jahrhundert deutlich machte, die Unterkunft am Arbeitsort. ADÉLA GJURIČOVÁ (Prag) skizzierte dies anschaulich am Abgeordnetenhotel in der Prager Südstadt nach 1989, wobei politische wie soziale Aspekte (Netzwerke) deutlich wurden.

In der letzten Sektion über »Abgeordnete und Medienöffentlichkeit« wurde in mehreren Beiträgen das bereits in der Tagung aufgegriffene Thema ‚Skandale‘ vertieft. JEAN GARRIGUES (Orléans) beschrieb die parlamentarische Praxis sowie das Parlament als Ursprung und Bühne am Beispiel des Panama-Skandals aus dem Jahr 1892. Dabei wurde zugleich deutlich, welche Gefahr von Skandalen für das Ansehen der Institution Parlament ausgehen konnte. Die Rolle der Öffentlichkeit, insbesondere der Presseöffentlichkeit (Pesti Napló), ging auch aus den Darlegungen von LEVENTE PÜSKI (Debrecen) hervor, der sich mit einem politischen Skandal im ungarischen Parlament 1924 befasste. Weniger um einen Skandal, sondern um die politisch heikle Frage nach der künftigen Gestaltung Polens in den Vorstellungen des Wiener Polenklubs in den Jahren 1914–1917 ging es JERZY GAUL (Warschau).

Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hob BENEDIKT WINTGENS (Berlin) für die frühe Bundesrepublik die geradezu symbiotische Beziehung zwischen Parlament, Medien und Öffentlichkeit hervor. Dabei wurde aber durchaus auch deutlich, dass es zwischen Abgeordneten und Journalisten ein Spannungsverhältnis gab. Die gleichen Probleme, jedoch ein anderes deutsches Parlament – die erste frei gewählte Volkskammer von April bis Oktober 1990 – und ein anderes Medium – das Fernsehen – präsentierte BETTINA TÜFFERS (Berlin). Auch hier kamen Inszenierungen und Selbstinszenierungen ins Bild.

TOMÁŠ ZAHRADNĺČEK beendete die Tagung mit einem Fallbeispiel aus den ersten Jahren des Postsozialismus in der Tschechoslowakei 1990–1992. Zahradníček konzentrierte sich auf die Aktivität des bekannten Schauspielers Rudolf Hrušínský im Parlament. Dabei machte er deutlich, dass im Gegensatz zu den Honoratioren und zur Parlamentstätigkeit im 19. Jahrhundert, die mit hohem Prestige verbunden war, im Fall Hrušínskýs, der 1992 verstorben ist, seine Abgeordnetentätigkeit schnell in Vergessenheit geraten sei.

Alles in allem zeigte die Prager Tagung ein anschauliches Panorama der Lebenswelten von Abgeordneten, insbesondere wenn es um Lebensformen, um den parlamentarischen Alltag oder die Medienöffentlichkeit ging. Auch wenn es sich im Fall Ostmitteleuropas erst um Schlaglichter auf einzelne Fälle und Länder handelte, so boten die einzelnen Beiträge eine ganze Reihe von Ansätzen, die einer künftigen komparativen Betrachtung dienen können. Zugleich ist ein internationales Gespräch über parlamentarische Kulturen in Europa in Gang gekommen, wie es dem Konzept der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl) entspricht.

Konferenzübersicht:

Heinrich Best (Jena): Parlamentarische Karrieren in Europa 1871–1990: Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien im synoptischen Vergleich

Lothar Höbelt (Wien): Herrschaftsbeamte und Finanzprokuratur als Pflanzstätten des Parlamentarismus?

Franz Adlgasser (Wien): Anfang oder Ende? Außerparlamentarische Karrieren von Mitgliedern des österreichischen Reichsrats

Paul Seaward (London): Political careers in Britain from Disraeli to Tony Blair, 1868–2005

Mikel Urquijo (Leioa/Bizkaia): Parliamentary cultures and political careers in Spain and in the Basque Country: 1860–1939

Tomáš W. Pavlíček (Prag): Die tschechischen Mitglieder des österreichischen Herrenhauses auf Lebensdauer

József Pap (Eger): Stabilität und Veränderung. Abgeordnete in Ungarn im Jahre 1848 und 1910

András Cieger (Budapest): Politics as a Profession in Nineteenth-Century Hungary?

Charlotte Brand / Anne Bos (Nijmegen): Private lives on public display. The resignation of Dutch politicians in the twentieth century

Andrea Hopp (Schönhausen): Mit einem Politiker leben: Frauen um Otto von Bismarck

Luboš Velek (Prag): Alltag der tschechischen bürgerlichen Abgeordneten 1848–1918

Volker Stalmann (Berlin): Privatleben und parlamentarischer Alltag von Reichstagsabgeordneten im Kaiserreich und der Weimarer Republik 1871–1933

Jana Malínská (Prag): Der Abgeordnete lebt nicht von der Politik allein… Aus den Anfängen des tschechoslowakischen Parlamentsrestaurants

Adéla Gjuričová (Prag): The MPs’ residence in Prague – Opatov and the Czechoslovak parliament after 1989

Jean Garrigues (Orléans): French Parliament facing the scandal: the example of Panama

Levente Püski (Debrecen): Der größte politische Skandal im ungarischen Parlament in der Zwischenkriegszeit

Jerzy Gaul (Warschau): Die Abgeordneten ohne Parlament. Die Teilnahme der polnischen Reichsratsabgeordneten in Wien an der Unabhängigkeitsbewegung 1914–1917

Benedikt Wintgens (Berlin): Abgeordnete und Medienöffentlichkeit in der Frühen Bundesrepublik

Bettina Tüffers (Berlin): Volkskammerabgeordnete im Fernsehen

Tomáš Zahradníček (Prag): Artist on the political stage: Actor Rudolf Hrušínský as a member of the Federal Assembly, 1990–1992

Anmerkung:
1 Vgl. Tagungsbericht Parlamentarische Kulturen in Europa – das Parlament als Kommunikationsraum. 04.11.2010-06.11.2010, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 29.11.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3411>.


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