Nachwuchstagung zur Kartografiegeschichte

Nachwuchstagung zur Kartografiegeschichte

Organisatoren
Ingrid Baumgärtner, Kassel; in Kooperation mit Patrick Gautier-Dalché, Paris; Ute Schneider, Essen; Martina Stercken, Zürich
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.12.2011 - 03.12.2011
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Von
Lena Thiel, Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel

Vom 2. bis 3. Dezember 2011 fand an der Universität Kassel ein Workshop zur Förderung von Nachwuchswissenschaftler/innen im Bereich der Kartografiegeschichte statt. Unter Leitung von Ingrid Baumgärtner (Kassel) und in Kooperation mit drei weiteren, kartografiehistorisch ausgewiesenen Forscher/innen, Ute Schneider (Essen), Martina Stercken (Zürich) und Patrick Gautier-Dalché (Paris), wurden in den Räumen der Universitätsbibliothek – Landesbibliothek und Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel aktuelle Qualifikationsprojekte zur mittelalterlichen und neuzeitlichen Kartografie präsentiert und diskutiert. Ein Ziel der Tagung war es, darüber hinaus ein epochenübergreifendes interdisziplinäres Forum zur gezielten Netzwerkbildung zu schaffen. Anknüpfend an den Workshop zur Kartografiegeschichte, der vom 15. bis 16. April 2011 in Zürich stattfand, leistete auch die Kasseler Veranstaltung einen wesentlichen Beitrag zur Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses.

Zentrales Anliegen des Workshops war es, die Relevanz einer neuen kulturwissenschaftlichen Kartografiegeschichte zu betonen, die sich entgegen älteren Forschungen durch ihren geistesgeschichtlichen Zugang auszeichnet. Ingrid Baumgärtner hob in ihrer Einführung das Nachspüren zeitgenössischer Mentalitäten als einen bedeutsamen Interpretationsansatz bei der Untersuchung von Karten hervor. Dabei ginge es nicht um eine realgeografische Verifizierung oder Falsifizierung historischer Karten, sondern im Zentrum stünden produktive Grenzüberschreitungen, sei es im Sinne einer quer zu den Disziplinen verlaufenden Interdisziplinarität unter Einbindung von Geistes- und Naturwissenschaften eine Öffnung gegenüber internationalen Forschungsrichtungen, eine epochenübergreifende Annäherung oder eine Wertschätzung der Perspektivenvielfalt.

Die Tagung wurde durch den Vortrag von MATTHIAS HAUCK (Basel) eröffnet. Er referierte über seine in der nordischen Philologie entstehende Dissertation zur Carta Marina (1539) des Olaus Magnus. Im Zentrum des Beitrags stand die Frage nach der kartografischen Inszenierung von Wissen in dieser frühesten bekannten Darstellung des europäischen Nordens. Hauck stellte die Ambivalenz des Orientierungsbegriffs heraus und hinterfragte die Vorstellung, dass die Geschichte der Karte die Erfolgsgeschichte einer immer genauer werdenden Darstellung des Raumes sei. Vielmehr seien Karten nicht nur Orte der geografischen, sondern auch der kulturellen Orientierung. Neben dem Ansatz, die Wiedergabe geografischer Gegebenheiten mathematisch zu begründen und zu systematisieren, versuche das Medium Karte vor allem Geschichte und ihre Erkenntnisse einzubringen. Karten wiesen so geradezu enzyklopädische Eigenschaften auf. So richteten sich Vortag und Diskussion auf den Innovationscharakter der Carta Marina, das Zusammenwirken von Text und Bild sowie die Pluralität der Vorlagen für das in der Karte verortete Wissen.

Der zweite Tag des Workshops begann mit einem Vortrag von STEFAN SCHRÖDER (Kassel/Erlangen), dem einzigen Habilitanden unter den Referierenden, über Kulturtransfer, Raumkonzepte und kulturelle Orientierungsmuster in kartografischen Zeugnissen. Schröder berichtete aus dem Kasseler DFG-Projekt‚ Karten als Brücken für Welt-Wissen: Westeuropäische und muslimische Kartografie des Mittelalters im interkulturellen Austausch‘ und analysierte die frühen Karten des 9. bis 12. Jahrhunderts vor allem spanischer und südfranzösischer Provenienz als Produkte kulturellen Wissens. Er fragte danach, wie sie kulturelle Ordnungen auf der Iberischen Halbinsel reflektieren und Prozesse der Akkulturation und Desintegration verarbeiten, denn Karten seien gleichzeitig als Diskursprodukt und Diskursproduzent zu verstehen. Schröder stellte anhand ausgewählter Karten deren identitäts- und ordnungsstiftende Rolle heraus. Untersucht wurden die aufwendig illuminierten Beatus-Karten, Varianten des TO-Schemas, wie die Andalusienkarte und die Karten von Ripoll und Albi, sowie Diagramme aus Gerhard von Cremonas Übersetzung des pseudo-aristotelischen Traktats De causis proprietatum elementorum. Die Analyse betonte den performativen Charakter von Karten, durch den geografische und kulturelle Räume erst konstruiert werden.

Die Genueser Weltkarte von 1457 stand im Zentrum des Vortrags von GERDA BRUNNLECHNER (Hagen), die Einblicke in die ersten Schritte ihres Promotionsprojekts gab. Brunnlechner verortete die Karte im Spannungsfeld zwischen der Tradition mittelalterlicher mappae mundi und dem ptolemäischen Weltbild, dem Einfluss der Portolankarten und dem sich durch Reisende erweiternden geografischen Wissen. Die Genueser Weltkarte – in der Forschung bisher marginal behandelt – zeichnet sich durch ihre besondere Mandelform sowie die individuelle Gestaltung einzelner Figuren und Details aus. Das offensichtliche Interesse des Kartografen galt fernen Regionen und Menschen, einer Vielzahl an Herrschersymbolen sowie eschatologischen Bezügen. Sie gaben Anstoß zu einer intensiven Diskussion über Entstehungskontext und Einordnung.

Mit dem Vortrag von PAUL FERMON (Paris) richtete sich der Fokus aus kunsthistorischer Perspektive auf Regionalkarten. Fermon erläuterte die kartografische Tätigkeit des Malers Nicolas Dipre, der um 1500 zu den Hauptmalern der Avignoneser Künstlerschule zählte. Dipre fertigte Karten an, die bei Gerichtsprozessen als Hilfsmittel zur Urteilsfindung verwendet wurden. Ihre Funktion war es, dazu beizutragen, Grenzen zu kennzeichnen sowie geografische Besitzansprüche zu legitimieren. Die Karten ersetzten den direkten Besuch vor Ort und avancierten im Rahmen der Prozesse zu einem verlässlichen Abbild der Realität. Die Diskussion richtete sich auf den Diskurs um die Macht und Rechtmäßigkeit des Gebrauchs von Karten in juristischen Kontexten.

BERND GIESEN (Zürich/Bielefeld) setzte sich in seinem Werkstattbericht mit der kartografischen Inszenierung des „Schweitzer gebiets“ als eidgenössische Einheit im 15. und 16. Jahrhundert auseinander. Grundlage bildete die Karte der Eidgenossenschaft (um 1496) von Konrad Türst sowie deren Strassburger Nachzeichnungen. Trotz des zunehmenden Stellenwerts geografischer Kriterien beinhalten diese Karten traditionelle religiöse Bezüge sowie Verweise auf antike und eidgenössische Geschichte. Giesen spürte den sich wandelnden Darstellungspraxen dieser symbolischen Einheitsorte und der Inszenierung von Grenzen nach. Er fokussierte dabei vor allem die Besonderheiten humanistischer Kartografie als Medium der Selbstdarstellung. Die Konstitution von Einheit durch Bildstrategien – beispielsweise die Hervorhebung einzelner symbolisch aufgeladener Orte und die Inszenierung naturräumlicher Grenzen – sowie eine Einordnung der Karte in zeitgenössische Diskurse standen im Zentrum.

Der Verwendung von Textquellen für die Konstruktion von Karten in der Frühen Neuzeit widmete sich JULIEN BÉRARD (Bayreuth), der am Beginn eines Promotionsprojekts steht. Am Beispiel des Kartensammlers und Kartografen Abraham Ortelius (1527-1598) und dessen Theatrum Orbis Terrarum erläuterte Bérard das Ziel seines Vorhabens: Er untersuche, welche Rolle Texte neben kartografischen Vorlagen und mathematischen Berechnungen bei der Erstellung von Karten in der Renaissance gespielt haben. Eine zentrale Frage sei es, welches narrative Wissen die Grundlage für die bildlichen Darstellungen etwa des Landesinneren fernliegender, teils noch unbekannter Länder bildete. Bérard schilderte die Analyse von Kosmografien und Reiseberichten als essentiellen Schritt seines Unternehmens. Nicht zuletzt gelte es, mögliche Präferenzen einzelner Quellen zu eruieren sowie nach den Wissenstransfers innerhalb der verschiedenen Ausgaben des Theatrum Orbis Terrarum zu fragen.

Die Schlussdiskussion betonte auf inhaltlicher Ebene nochmals die Relevanz der Betrachtung von Text-Bild-Bezügen sowie die Einbettung kartografischer Produkte in zeitgenössische Diskurse als zentrale Ansätze der kulturwissenschaftlichen Kartografieforschung. Die Teilnehmer/innen bekräftigten das Statement für einen disziplinäre, nationale und epochale Grenzen überschreitenden Zugang zu einer Geschichte der Kartografie. Netzwerke zu knüpfen und sich als Nachwuchswissenschaftlerinnen und –wissenschaftler interdisziplinär und epochenübergreifend austauschen, war das Ziel der Tagung. Es wurde mehr als das erreicht. Die intensive Diskussion der Qualifikationsprojekte, die neben inhaltlichen Hinweisen immer wieder Ratschläge und Anregungen zum weiteren methodischen Vorgehen bot, wurde durchweg positiv rezipiert. Der Austausch unter den Doktoranden und Doktorandinnen war ebenso wichtig wie der Erfahrungsaustausch mit den Experten. Die Perspektiven unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Disziplinen und Epochen, insbesondere der Mittelalter- und Neuzeitforschung, ermöglichten es, die einzelnen Qualifikationsprojekte in einen größeren Kontext einzuordnen. Eine Fortführung des Workshops im jährlichen Turnus bleibt zukünftig fester Bestandteil des Forschungsnetzwerks.

Konferenzübersicht:

Ingrid Baumgärtner (Kassel): Begrüßung und Einführung

Matthias Hauck (Basel): Mit kartografischem Blick den Norden konstruiert? Die Carta Marina (1539) von Olaus Magnus

Stefan Schröder (Kassel/Erlangen): Mozarabische Spuren in Karten iberischer Provenienz? Zu Raumkonzepten und kulturellen Ordnungsmustern in kartografischen Zeugnissen des 9. bis 12. Jahrhunderts

Gerda Brunnlechner (Hagen): Die Genueser Weltkarte von 1457

Paul Fermon (Paris): Making maps for lawyers: Nicolas Dipre, a painter at work circa 1500

Bernd Giesen (Zürich/Bielefeld): Vom „Schweitzer gebiet“ und „alten grenzen gedachter landschafften“ - Kartografische Inszenierungen eidgenössischer Einheit im 15. und 16. Jahrhundert

Julien Bérard (Bayreuth): Textquellen in der Kartografie der Frühen Neuzeit: Abraham Ortelius und das Theatrum Orbis Terrarum

Schlussdiskussion


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Deutsch
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