Sachsen und der Nationalsozialismus. Gesellschaftliche Interaktionen in der Region

Sachsen und der Nationalsozialismus. Gesellschaftliche Interaktionen in der Region

Organisatoren
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V., TU Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.12.2011 - 03.12.2011
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Von
Anette Blaschke/Merit Petersen, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover; Bianca Roitsch, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Der vom 1. bis 3. Dezember 2011 vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) unter Leitung von Günther Heydemann, Jan Erik Schulte und Francesca Weil in Dresden veranstaltete Workshop ‚Sachsen und der Nationalsozialismus. Gesellschaftliche Interaktionen in der Region’ steht paradigmatisch für die sich derzeit am HAIT vollziehende Erweiterung der Forschungsperspektiven: Der bisherige Schwerpunkt DDR-Geschichte wird ergänzt durch einen regionalgeschichtlichen Zugriff auf Sachsen im Nationalsozialismus. Ziel der Veranstalter war deshalb eine Bestandsaufnahme zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus in Sachsen anhand laufender Forschungsprojekte. Neben der Debatte um den Stellenwert der Regionalgeschichte in der NS-Forschung sollte der dezidiert gesellschaftsgeschichtliche Ansatz des Workshops an aktuelle geschichtswissenschaftliche Diskurse anknüpfen, welche die Frage nach den Bindungs- und Mobilisierungskräften des NS-Regimes, den konkreten sozialen Praxen vor Ort sowie der Bandbreite von individuellen und kollektiven Verhaltensweisen jenseits der überkommenen Opfer-Täter-Mitläufer-Klassifikation in den Mittelpunkt stellen.

Im einführenden Vortrag zu Forschungsstand und Perspektiven der Regionalgeschichtsschreibung machte CLAUS-CHRISTIAN W. SZEJNMANN (Loughborough) deutlich, dass für die Frage nach dem Stabilisierungspotential des NS-Regimes die lokale und regionale Perspektive zwingend notwendig erscheine, da sie generalisierende Aussagen der NS-Forschung infrage stelle. Bisherige Arbeiten zur regionalen Ebene haben die Unhaltbarkeit des Mythos von der ‚terrorisierten Region’ unterstrichen. Allerdings bleibe die Frage, ob es sich beim Nationalsozialismus um eine auf Konsens basierende Diktatur handelte, weiterhin unbeantwortet. Wenngleich die Quellenlage durch selektive Überlieferungen gerade für die Mikro- und Mesoebene die Geschichtswissenschaft vor methodische Probleme stelle, plädierte Szejnmann für eine moderne Regionalgeschichte, die methodisch breit, multiperspektivisch und interdisziplinär beispielsweise Ansätze der Biografienforschung, Erfahrungsgeschichte, Psychologie und Soziologie sowie der Kulturwissenschaften in ihre Untersuchungen einbezieht.

Aufgrund der desolaten Quellenlage des Gaues Sachsen setzte sich ARMIN NOLZEN (Bochum) in seinem Beitrag zur Geschichte der sächsischen NSDAP für eine Annäherung an Sozialstrukturen und soziale Praktiken der Partei über eine qualitative empirische Sozialstrukturanalyse ein, die sich auf zeitgenössisches statistisches Material der NSDAP stützen kann. Folge man der Parteistatistik, kam dem Gau Sachsen gemessen an den Verhältniszahlen eine enorme Bedeutung im Reich zu. Die sozialen Praktiken der NSDAP gliederte Nolzen in die Bereiche Schulung, Gewalt und Hilfe. Er verdichtete seine Ausführungen zu der These, die NSDAP sei nicht in erster Linie ein ‚Apparat der sozialen Kontrolle‘, sondern eher ein ‚Apparat der Ermöglichung‘ gewesen. Die Partei entwickelte sich demnach zum funktionalen Äquivalent für politische Partizipation und schuf eine rassistisch-genozidale Zivilgesellschaft, die über das Ende des ‚Dritten Reiches‘ hinaus eine ‚politisierte Generation‘ prägte.

In seinem Promotionsprojekt setzt sich STEPHAN DEHN (Dresden) grundlegend mit dem bisher kaum erforschten sächsischen Propagandaapparat der NSDAP auseinander. Sein Ziel ist eine zeitlich und inhaltlich differenzierende, akteursorientierte Analyse des überlieferten Materials, ergänzt durch eine rezeptionsgeschichtliche Perspektive. Am Beispiel der Untersuchung von Zeitungen und Flugblättern des Jahres 1931 gelangte er zur vorläufigen These, die Propaganda der NS-Bewegung in Sachsen sei bereits in den frühen 1930er-Jahren auf dem Weg zur Massenverbreitung gewesen.

Der öffentliche Abendvortrag von MIKE SCHMEITZNER (Dresden) machte das anhaltende Interesse am ehemaligen sächsischen Gauleiter, radikalen Antisemiten und Hitler-Verehrer Martin Mutschmann auch außerhalb des akademischen Diskurses deutlich. Mutschmann war zwischen 1925 und 1945 Gauleiter in Sachsen und damit von Beginn an die prägende Persönlichkeit der sächsischen NS-Bewegung gewesen. Trotz seiner zahlreichen Ämter im NS-Herrschaftssystem wurde er nicht in den Nürnberger Prozessen vor Gericht gestellt, sondern parallel in Moskau in einem Geheimprozess zum Tode verurteilt. Der Ausschluss der Öffentlichkeit führte zu Mythenbildungen, die dem diskussionsfreudigen Vortragspublikum durchaus bekannt waren.

Anhand der Biografie des Agrarwissenschaftlers Richard Arthur Golf zeigte CHRISTIAN AUGUSTIN (Leipzig), dass akademische Außenseiter auch ohne intellektuelle Brillanz im Zuge der Machtübernahme 1933 wesentliche Aufstiegschancen wahrnehmen konnten. Dem engagierten Vertrauensdozenten des NS-Studentenbundes gelang es 1933, zum Rektor der Universität Leipzig gewählt zu werden.

In Vorbereitung auf das 2015 stattfindende 250-jährige Jubiläum der TU Bergakademie Freiberg beschäftigt sich derzeit eine Forscher/innengruppe mit der Geschichte der Institution vom Kaiserreich bis zum Mauerfall. In seiner Präsentation machte NORMAN POHL (Freiberg) deutlich, dass die NS-Geschichte der Bergakademie eine Forschungslücke darstellt, die es nun erstmals zu schließen gilt.

Beide Vorträge nahmen Bezug auf Untersuchungen, die sich mit der konkreten Einbindung von Akteuren in universitäre Strukturen während der NS-Zeit auseinandersetzen. Fraglich bleibt, ob hier der als Titel des Panels gewählte Netzwerkbegriff analytisch greift und nicht eher alternative Termini, wie der von Pohl vorgeschlagene Korporatismusbegriff, die engen interpersonalen Zusammenhänge deutlicher erfassen würden.

BORIS BÖHM (Pirna) fragte in seinem Vortrag nach biografischen Besonderheiten von Mitarbeiter/innen der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein und ihrem Tätigkeitsalltag. Sie hätten fast ausnahmslos als ‚Zahnräder im Tötungsprozess‘ funktioniert. Vor allem der Wunsch nach beruflichem Aufstieg und das Umgehen des Einsatzes in der Rüstungsindustrie oder an der Front hätten als Handlungsmotive eine Rolle gespielt. Sogenannte Weltanschauungstäter/innen seien in der Minderheit gewesen. Anschließend warf JULIUS SCHARNETZKY (Flossenbürg) die Frage nach spezifischen Eigenschaften für den Einsatz in den Vernichtungslagern auf. Er stellte in diesem Zusammenhang fest, dass eine Reihe von Mitarbeitern der Aktion ‚T4’ zur Aktion ‚Reinhardt’ abgeordnet worden waren, wobei deutliche Radikalisierungstendenzen des individuellen Handelns erkennbar seien. Scharnetzky folgerte dennoch, bei der Aktion ‚Reinhardt‘ hätte es keine besonderen Auswahlkriterien für die ‚Experten des Mordens’ gegeben.

Am Beispiel des frühen sächsischen Konzentrationslagers Hohenstein illustrierte CARINA BAGANZ (Berlin) Biografieverläufe von SA-Wachmännern bis in die frühe Nachkriegszeit. Als Wachmannschaft fungierte in Hohenstein ein SA-‚Erwerbslosensturm’, dessen Mitglieder nach 1945 teilweise zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Während der Haftzeit versuchte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), einzelne von ihnen für Spitzeldienste anzuwerben, und stellte ihnen Hafterleichterungen in Aussicht, woraufhin sich die Mehrheit der in Frage kommenden SA-Wachmänner den neuen Gegebenheiten mühelos anpasste.

In diesem Panel und der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die Forschungen zu den Tätern des NS-Verfolgungsapparates in Sachsen weiter vorangetrieben werden müssen, wobei es vor allem auf die Betrachtung von Gesamt- und Kollektivbiografien sowie die Analyse von Normen und Moralvorstellungen konkreter Akteure ankommen wird.

MANFRED SEIFERT (Dresden) stellte das lebensgeschichtliche Archiv des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. vor, in dem seit 1997 biografische und autobiografische Materialien systematisch gesammelt werden. Im Zentrum der Auswertung stehe dabei nicht ihr Wert als historische Quellen, sondern vielmehr die Eigenperspektive der berichtenden Individuen, die mit Hilfe der kulturwissenschaftlichen Bewusstseinsanalyse untersucht werden soll. Seifert versuchte diesen Forschungsansatz durch Lebensgeschichten einzelner Nachfahren von Zwangssterilisations- und Euthanasieopfern im ‚Dritten Reich‘ zu veranschaulichen.

NIKOLA SCHMUTZLER (Leipzig) widmete sich der sächsischen evangelisch-lutherischen Landeskirche im Nationalsozialismus am Beispiel des Pfarrers Johannes Herz, einem Vertreter der selbst ernannten ‚Mitte’ im ‚Kirchenkampf’. Ohne die NS-Ordnung grundsätzlich anzuzweifeln, versuchte die ‚Mitte‘ eine organisationale Spaltung der sächsischen Landeskirche zu verhindern. Das Handeln des Pfarrers Herz war augenscheinlich geprägt von Anpassungsstrategien bis hin zur Verleugnung christlicher Werte im Zuge der Euthanasieverbrechen. In der sich anschließenden kontroversen Debatte wurde vor allem die Beurteilung von Verhaltensweisen als rein binnenkirchliche Angelegenheit, ohne die gesamtgesellschaftliche Wirkungsmacht kirchlichen Handelns zu berücksichtigen, infrage gestellt. Auch die Verwendung des Widerstandsbegriffs in diesen Zusammenhängen bedarf einer kritischen Reflexion.

FRANZISKA BÖHL (Dresden) leistet mit ihrem Dissertationsvorhaben Grundlagenforschung zur Geschichte der sächsischen Freimaurerlogen zwischen 1918 und 1945. Diese wurden nach dem Ersten Weltkrieg als Teil der ‚jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung’ angefeindet und spalteten sich in der Weimarer Republik in kleinere Gruppierungen. Nach 1933 versuchten speziell die sächsischen Logen ideologische Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Freimaurertum zu konstruieren. Ihre Zerschlagung 1935 konnten die ‚Ordensbrüder’ jedoch nicht verhindern; sie flüchteten stattdessen in informelle Netzwerke.

FRIEDERIKE HÖVELMANS und ALEXANDER LANGE (beide Leipzig) setzten sich in ihren anschaulichen Vorträgen mit der Auslotung von Handlungsmöglichkeiten Jugendlicher im Nationalsozialismus auseinander. Während Lange die Distanz der von ihm untersuchten Leipziger Jugendgruppen zur Hitlerjugend (HJ) betonte, konstatierte Hövelmans Überschneidungen zwischen Anpassungsleistungen der bündischen Jungenschaft an nationalsozialistische Organisationen in Sachsen. Einerseits habe sich die Sächsische Jungenschaft organisational der HJ untergeordnet, andererseits sei deren internationales Selbstverständnis nicht vollständig mit den Idealen der NS-Jugendorganisation vereinbar gewesen. Offen blieb, ob die Anpassung als Auflösungsprozess oder als Strategie zum informellen Weiterbestehen gedeutet werden muss. Langes Ausführungen verdeutlichten zudem, dass für die Beurteilung des Handelns der informellen Jugendgruppen sowohl deren massive Politisierung durch das NS-Regime als auch ihr Wunsch nach Eigenständigkeit und Abgrenzung berücksichtigt werden müssen. Die dem Panel zugeordneten Begriffe Auflehnung und Eigensinn spiegelten daher eher ein Klischee von der widerständigen Jugend als eine mit den Beiträgen nahegelegte Geschichte auffälliger Ambivalenzen.

SEBASTIAN FINK (Döbeln) thematisierte in seinem Vortrag über die Arbeiterschaft des Stahl- und Walzwerkes Riesa im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit die Widersprüchlichkeiten zwischen politischen und wirtschaftlichen Ambitionen einerseits sowie der Arbeitspraxis vor Ort andererseits. Während die Reichs- und Mittelinstanzen immer höhere Arbeitsproduktivität einforderten, führten die belastenden Arbeitsbedingungen zu diversen Formen von Arbeitsunfähigkeit und -verweigerung, vor allem unter den jungen Betriebsangehörigen. Kann aber aus dem Unterschied zwischen Anspruch und Arbeitsalltag sogleich auf eine Abkehr vom jeweiligen Regime geschlossen werden? Den politischen Vereinnahmungsversuchen durch DAF und FDGB stand ein großer Teil der Beschäftigten zwar kritisch bis ablehnend gegenüber, dennoch erfüllte die Belegschaft über den politischen Umbruch hinweg ihr tägliches Pensum mit ‚missmutiger Loyalität‘.

THOMAS WIDERA und JUDITH SCHACHTMANN (beide Dresden) stellten in ihrem Beitrag die Biografien zweier Protagonisten ihres Projektes ‚Archäologie im politischen Diskurs’ vor. Unter Verwendung des komplexen und durchaus umstrittenen Begriffes der Identität zeichneten sie die Lebens- und Karriereverläufe des Archäologen Walter Frenzel (1892-1941) sowie des Volkskundlers Pawoł Nedo (1908-1984) nach. Anhand dieser beiden der sorbischen Minderheit angehörenden Persönlichkeiten konnten Widera und Schachtmann explizieren, wie weit in modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts die individuellen Handlungsoptionen reichten und wie unterschiedlich die daraus resultierenden Verhaltensweisen trotz gemeinsamer kollektiver Identitäten sein konnten.

WOLFGANG BIALAS (Dresden) skizzierte die wissenschaftliche Laufbahn des Leipziger Philosophen Arnold Gehlen, den der Referent einem ‚philosophischen Nationalsozialismus‘ zuordnete. Gehlen habe die politische Umbruchsituation 1933 genutzt und avancierte so zum ‚Shootingstar’ in der deutschen Philosophie, wobei karrieristische und opportunistische Motive für ihn scheinbar handlungsleitend waren. Zwar nahm Gehlen mit seinem anthropologischen Philosophieverständnis eine gewisse Distanz zu zeitgenössischen Entwicklungen ein, hatte aber keinerlei Bedenken, übergeordnete ideologische Debatten, beispielsweise den Rassismus, in seine Werke aufzunehmen und sich aktiv im NS-Dozentenbund sowie im Amt Rosenberg zu engagieren.

SILKE SCHUMANN (Frankfurt am Main) zeigte anhand der Arbeitskräftelenkung im rüstungswirtschaftlich bedeutsamen Regierungsbezirk Chemnitz die Funktionsfähigkeit des polykratischen Herrschaftssystems während des Zweiten Weltkrieges. An diesem Beispiel skizzierte sie wesentliche Transformationen der vom Reich vorgegebenen Maßnahmen auf regionaler Ebene. Aus Schumanns Sicht verwandelten die Instanzen auf Meso- und Mikroebene, beispielsweise Arbeitsämter und Rüstungskommandos, die Anweisungen der Reichsebene in umsetzbare Praktiken vor Ort und entfalteten dadurch eine gewisse systemstabilisierende Wirkung.

FRANCESCA WEIL (Dresden) entfaltete unter Bezugnahme auf Alf Lüdtkes Konzept von ‚Herrschaft als sozialer Praxis’ grundsätzliche Überlegungen zur sächsischen Gesellschaft in der späten Kriegsphase. Am Beispiel des Verhältnisses der sächsischen Landräte zu Partei- und Staatsinstanzen betonte sie die Einschränkung des Handlungsspielraumes der Landräte, die in einer permanenten Konfliktsituation mit den NSDAP-Kreisleitern gestanden hätten. Agierten die Landräte deshalb lediglich als Befehlsempfänger? Untereinander pflegten sie informelle Gesprächszusammenhänge zum Austausch über die Verwaltung der Kreise. Ihr Ziel war nicht die Unterwanderung des politischen Systems, sondern eher die Aufrechterhaltung einer administrativen Eigenständigkeit.

Die während der Tagung präsentierten Projekte der historischen Regionalforschung zum Gau Sachsen im Nationalsozialismus können entscheidend dazu beitragen, wichtige Forschungslücken zu bislang unzureichend beantworteten Fragestellungen der deutschen Gesellschaftsgeschichte zwischen 1933 und 1945 zu schließen. In Zukunft wird es darum gehen müssen, diese Einsichten in Funktionsweise, Strukturen und soziale Praktiken im ‚Dritten Reich‘ stärker als bisher zur bestehenden Forschung in Beziehung zu setzen. Nur auf diese Weise kann beleuchtet werden, inwiefern es sich in Sachsen um spezifische oder aber um generalisierbare Entwicklungen handelte.

Die fortwährende, durchaus kontrovers diskutierte Präsenz des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann in den Beiträgen und Diskussionen evozierte den Eindruck umfassender Machtbefugnisse dieses zweifellos namhaftesten sächsischen NS-Funktionärs. Demgegenüber sollten Fragen nach Konkurrenz- und Konfliktsituationen innerhalb des lokalen und regionalen Machtgefüges sowie nach Gestaltungsspielräumen und Zusammenwirken der staatlichen und parteilichen Instanzen anhand konkreter Akteure und historischer Situationen unter Berücksichtigung zeitlicher Differenzierungen stärker in den Vordergrund treten. Armin Nolzen wies in diesem Zusammenhang auf die wechselseitigen Lernprozesse hin, die das dichotome Modell von Staat und Partei massiv in Frage stellten. Stattdessen sei die Frage relevanter, warum sich das Handeln von so vielen ‚Volksgenossinnen’ und ‚Volksgenossen’ unter den Bedingungen des ‚Dritten Reiches’ so stark geähnelt habe.

Zur Erfassung der Lebensbedingungen und Herrschaftsmechanismen durch abstrahierende Begriffe sowie zur Beantwortung der zentralen Frage, welchen Anteil unterschiedliche Gruppen und Einzelakteure am Funktionieren des NS-Systems hatten, kann die Regionalgeschichtsforschung Wesentliches beitragen, indem sie das Handeln und Verhalten lokaler Akteure untersucht und die daraus resultierenden historisch-anthropologischen Befunde im Begriffshaushalt zwischen Konsens, Eigensinn und Nonkonformität verortet. Ob die nationalsozialistische Diktatur dabei als Mobilisierungs- oder Zustimmungsdiktatur, als Maßnahmenstaat oder als Terrorregime betrachtet werden sollte, wird auch künftig von den konkreten Untersuchungsgegenständen abhängen. Wenn sich die Regionalgeschichtsforschung in Sachsen noch stärker den Methoden des Vergleichs sowie der Interdisziplinarität öffnet, wird sie einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung von Deutungsmodellen und Begriffen der NS-Forschung insgesamt leisten.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung: Günther Heydemann, Jan Erik Schulte, Francesca Weil (Dresden)

Einführungsvortrag
Moderation: Günther Heydemann (Dresden)

Claus-Christian W. Szejnmann (Loughborough): Regionalgeschichte – Forschungsstand und Forschungsperspektiven

Panel 1: Mobilisierung
Moderation: Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover)

Armin Nolzen (Bochum): Die sächsische NSDAP nach 1933: Sozialstrukturen und soziale Praktiken

Stephan Dehn (Dresden): Aspekte der nationalsozialistischen Propaganda in Sachsen

Panel 2: Öffentlicher Abendvortrag
Moderation: Günther Heydemann (Dresden)

Mike Schmeitzner (Dresden): Justizieller Antifaschismus? Der Moskauer Geheimprozess gegen den sächsischen Gauleiter Martin Mutschmann

Panel 3: Nationalsozialistische Netzwerke
Moderation: Oliver Werner (Jena)

Christian Augustin (Leipzig): Das Landwirtschaftliche Institut als ‘fünfte Kolonne’? Zur Rolle der Agrarwissenschaft in der nationalsozialistischen ‘Machtergreifung’ und Herrschaftssicherung an der Universität Leipzig

Norman Pohl (Freiberg): Die Bergakademie Freiberg vor, in und nach der NS-Zeit

Panel 4: Verfolgungsnetzwerke
Moderation: Jörg Skriebeleit (Flossenbürg)

Boris Böhm (Pirna)/ Julius Scharnetzky (Flossenbürg): Die Mitarbeiter der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein und der personelle Konnex zur Shoah am Beispiel der ‘Aktion Reinhardt’

Carina Baganz (Berlin): Vom Wachmann zum IM - Die Täter in frühen sächsischen Konzentrationslagern und was aus ihnen wurde

Panel 5: (Über)Lebensstrategien
Moderation: Thomas Schaarschmidt (Potsdam)

Manfred Seifert (Dresden): Der lange Schatten der NS-Medizin. Biografien von zwischen 1933 und 1945 Zwangssterilisierten und Euthanasiegeschädigten

Nikola Schmutzler (Leipzig): Johannes Herz. Zwischen Anpassung und Widerstand - gab es einen Weg der ‘Mitte’?

Franziska Böhl (Dresden): Die sächsischen Großlogen zwischen Anpassung und Unterdrückung (1918-1945)

Panel 6: Auflehnung und Eigensinn
Moderation: Alfons Kenkmann (Leipzig)

Friederike Hövelmans (Leipzig): Zwischen Weimarer Republik und Zweitem Weltkrieg. Die Bürgerliche Jugend in Sachsen am Beispiel der Sächsischen Jungenschaft

Alexander Lange (Leipzig): Jungkommunisten - Meuten - Broadway-Cliquen. Drei Jugendgenerationen zwischen Resistenz und Widerstand in Leipzig

Sebastian Fink (Döbeln): Eigensinn und Rückzug ins Private: Die Arbeiter des Stahl- und Walzwerks Riesa 1933 bis 1949

Panel 7: Anpassungsstrategien
Moderation: Clemens Vollnhals (Dresden)

Thomas Widera / Judith Schachtmann (Dresden): Die freie Wahl der Identität. Antagonistische Lebensentwürfe Pawoł Nedo (1908-1984) und Walter Frenzel (1892-1941)

Wolfgang Bialas (Dresden): Philosophischer Nationalsozialismus. Die Leipziger Schule unter besonderer Berücksichtigung von Arnold Gehlen

Panel 8: Gesellschaft im Krieg
Moderation: Jan Erik Schulte (Dresden)

Silke Schumann M.A. (Frankfurt/M.): Arbeitskräftelenkung und Arbeiterschaft in der Region Chemnitz während des Zweiten Weltkrieges

Francesca Weil (Dresden): Aspekte der sächsischen Kriegsgesellschaft 1943 bis 1945


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