Nationalitäten- und regionale Wirtschaftspolitik in Ostmitteleuropa (1867/71 - 1939)

Nationalitäten- und regionale Wirtschaftspolitik in Ostmitteleuropa (1867/71 - 1939)

Organisatoren
Herder-Institut Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.03.2004 - 06.03.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Uwe Müller, Frankfurt/O.

Finanzielle Förderung: Herder-Institut Marburg und Volkswagen-Stiftung Hannover

Die Tagung versuchte zwei Forschungsfelder zu verknüpfen, die (zumindest in Deutschland) bisher meist getrennt voneinander behandelt worden sind. Obwohl gerade in Ostmitteleuropa häufig ethnische Strukturen mit sozialen zusammenfielen und dies natürlich auch Einfluss auf die Prozesse der Nationsbildung im 19. Jh., aber auch auf die Politik der neuen Nationalstaaten ab 1918 ausübte, konzentrierten sich Forschungen zur Nationalitätenpolitik und zu Nationalitätenkonflikten bislang meist auf Bereiche wie Schul- und Sprachenpolitik, also auf den Bereich der "Kulturkämpfe". Wirtschaftspolitische Maßnahmen wurden zumeist unter einem rechtshistorischen oder machtpolitischen Blickwinkel, also etwa als Verhandlungsmasse im Rahmen einer Do ut des - Politik, betrachtet. Die Geschichte der Wirtschaftspolitik Mittel- und Osteuropas hat ihrerseits zwar den zunehmenden Staatsinterventionismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ("ordnungspolitische Wende") beleuchtet, bei der Suche nach den Ursachen jedoch regionale Disparitäten viel weniger beachtet als etwa die "soziale Frage" - Forschungsergebnisse über die Nationalitätenpolitik wurden zudem nur marginal berücksichtigt.

Das Konzept des Workshops sah vor, dass sich jeweils zwei Referenten mit einer von fünf ausgewählten Regionen beschäftigen und dabei den Schwerpunkt auf Wechselwirkungen zwischen regionaler Wirtschafts- und Nationalitätenpolitik legen sollten. Leider konnten drei vorgesehene Referenten aus verschiedenen Gründen nicht teilnehmen, so dass nur über die Slowakei innerhalb Ungarns (Nordungarn) (Kaposi und Holec) sowie über die polnischen Provinzen Preußens (Müller und Kowal) jeweils zwei Vorträge gehalten wurden. Uwe Müller (Frankfurt/Oder) führte kurz in das Thema ein, indem er die Forschungslage skizzierte, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der untersuchten Fälle benannte und als wichtigste Diskussionsfelder die Bedeutung nationalitätenpolitischer Intentionen für Ziele, Intensität und Instrumentenwahl regionalpolitischer Ansätze im Rahmen der staatlichen Wirtschaftspolitik fixierte.

Franz Baltzarek (Wien) sprach über "Zentralistische und föderalistische Aspekte der Wirtschaftspolitik am Beispiel Galiziens", wobei er zunächst ausführlich die im 18. und frühen 19. Jh. wirkenden Ursachen für die ökonomische Rückständigkeit Galiziens behandelte. Nach dem Ausgleich von 1867 versuchte der "Polen-Klub" im cisleithanischen Reichsrat mit wechselndem Erfolg, Mittel zur wirtschaftlichen Stärkung nach Galizien zu leiten. Schwerpunkte dieser Anträge waren - neben den Forderungen nach Notstandsunterstützungen in Folge von Hochwasserschäden und Missernten - in erster Linie der Bau von Eisenbahnlinien, Wasserstraßen und Hochwasserdämmen sowie die Errichtung staatlicher Gymnasien und die bessere Dotierung der Universitäten in Lemberg und Krakau. Das "Ministerium für Galizien" verfügte nur über wenig Einfluss und hatte vor allem kein eigenes Budget. Seit den 1890er Jahren existierten zwar Pläne, in Galizien eine nach ungarischem Vorbild funktionierende Industrieförderung aufzubauen. Diese scheiterten aber schon am Widerstand der industriellen Interessengruppen sowie am Desinteresse der Wiener Bürokratie, die wirtschaftsfördernde Maßnahmen auf das Kleingewerbe und die Landwirtschaft konzentrierte. Die galizische Selbstverwaltung (Landesausschuss) war wegen des Fehlens eines horizontalen Finanzausgleichs zu schwach, um eine eigenständige wirkungsvolle Infrastruktur- und Industriepolitik zu betreiben. Regionalpolitik beschränkte sich daher entweder auf Notstandsmaßnahmen oder erfolgte aus militärischen, staatserhaltenden oder föderalistisch pazifizierenden Motiven.

Zoltán Kaposi (Pécs) sprach über "Die staatliche Wirtschaftspolitik und die ethnischen Minderheiten in Ungarn (1867-1918)". Er sah in der ungarischen Infrastruktur- und Industrieförderungspolitik einen wesentlichen Grund für die Integration des Wirtschaftsraumes, das allgemeine Wirtschaftswachstum und die Industrialisierung des Landes. Zwar waren die Strukturen eindeutig auf das Budapester Zentrum ausgerichtet. Außerdem erhielten die Städte der von Minderheiten bewohnten Gebiete weniger Fördermittel aus dem Staatshaushalt, so dass ihre Entwicklung im Vergleich zu den Städten der inneren Gebiete zurückblieb. Dennoch entwickelten sich auch hier Ansätze einer modernen bürgerlichen Kultur. Von den Staatsinvestitionen in das Eisenbahnnetz profitierten auch die meist von den nationalen Minderheiten bewohnten Peripherien. Insgesamt konnte der Rückstand der Peripherien seit der Jahrhundertwende verringert werden.

Roman Holec (Bratislava) bestätigte in seinem Vortrag über die "ungarische Wirtschaftspolitik bis 1914 aus der Sicht der Nationalitäten" die von Kaposi aufgezeigten Grundtendenzen von Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftspolitik. Vor allem aus technologischen Gründen wirkte sich die zunehmende Integration des Gebietes der späteren Slowakei in den das Königreich Ungarn umfassenden Wirtschaftsraum auf die dortige Hüttenindustrie negativ aus. Holec wies allerdings darauf hin, dass die praktizierte Industriepolitik weniger die Regionen insgesamt, aber durchaus die Einwohner innerhalb dieser Gebiete diskriminierte, wobei die Nationalität das wichtigste Entscheidungskriterium darstellte. Auf dem Gebiet der späteren Slowakei unterlagen insbesondere die slowakischen Banken und Genossenschaften Kontrollen und Restriktionen der Budapester Zentrale.

Uwe Müller (Frankfurt-Oder) untersuchte in seinem Beitrag die Bedeutung wirtschaftspolitischer Motive und Maßnahmen im Rahmen der sog. Polenpolitik Preußens seit 1871 sowie den Stellenwert nationalitätenpolitischer Motive für den Beginn regionalpolitisch motivierter Umverteilungspolitik. Die nationalistische Ansiedlungspolitik förderte zunächst das primär wirtschafts- und gesellschaftspolitisch orientierte Konzept der inneren Kolonisation. Dies änderte sich nach der Jahrhundertwende durch die staatlichen Maßnahmen gegen die polnische Parzellierungstätigkeit. Dennoch war die Siedlungspolitik bei der Veränderung der Betriebsgrößenstruktur erfolgreicher als bei der Umverteilung des nationalen Besitzstandes. Eisenbahnbaupolitik und Dotationsgesetzgebung waren eindeutig auf eine Beseitigung des West-Ost-Gefälles gerichtet, wobei nationalitätenpolitische Motive allenfalls eine zweitrangige Rolle spielten. Die im Rahmen der Polenpolitik durchgeführten Maßnahmen zur wirtschaftlichen und kulturellen Hebung bewirkten zwar einen Transfers von Einkommen in die betroffenen Ostprovinzen (Ostmarkenzulage) und legten einige Grundlagen für ein späteres Wirtschaftswachstum (Bildungseinrichtungen). Da sie jedoch in erster Linie darauf zielten, die Abwanderung der Deutschen zu stoppen und sich in ihrer konkreten Durchführung an nationalen und nicht an ökonomischen Effekten orientierten, können sie nicht als Beginn einer "modernen" Regionalpolitik angesehen werden. Dies galt schon eher für die ebenfalls auf eine "Stärkung des Deutschtums" zielenden Versuche der "Industrialisierung des Ostens", die allerdings scheiterten.

Stefan Kowal (Poznan) stimmte insbesondere bei der Bewertung der sogenannten Hebungspolitik mit Müller überein. Er zog in seinem Vortrag über "Ökonomische und soziale Kosten der Nationalitätenpolitik im preußischen Teilungsgebiet 1871 - 1914" eine negative ökonomische Bilanz der preußischen Politik. So begünstigte die Ansiedlungspolitik Bodenspekulationen, und der Aufbau national getrennter Güterkreisläufe als Folge der Boykottbewegungen verringerte die volkswirtschaftliche Effizienz. Kowal wies zudem mit Hilfe sozialstatistischer Daten nach, dass die zeitgenössische Publizistik und teilweise auch die Historiografie aus verschiedenen Gründen die Entwicklung des polnischen Mittelstandes überschätzte. Wirtschaftsfördernde Effekte preußischer Politik sah er vor allem im primären Sektor, etwa durch Entwicklung des landwirtschaftlichen Bildungswesens, durch die Förderung von Meliorationen usw.

In dem regional- und nationalpolitischen Problemen der Zwischenkriegszeit gewidmeten zweiten Tagungsabschnitt referierte zunächst Werner Benecke (Göttingen) über die Motive, Möglichkeiten und Grenzen der polnischen Gesellschaftspolitik in den Kresy. Zur Zeit der Zweiten Polnischen Republik existierten keine ernst zu nehmenden öffentlichen Investitionsmaßnahmen in den Kresy. Die Region war und blieb eine Agrarregion, die zum großen Teil Subsistenzwirtschaft betrieb. Allerdings verfolgte der Staat seit Gründung der Republik das Konzept einer Landreform, das in mehreren Schritten die strukturellen Nachteile der Landwirtschaft in den Kresy zu überwinden suchte. Dabei sollten die Auflösung von unklaren Besitzverhältnissen, die Ablösung von Servituten und die Bereinigung von Gemengelagen die Landwirtschaft der Ostgebiete modernisieren; erst in einem sehr viel späteren und inhaltlich nachgeordneten Prozess umfasste dieses Reformkonzept auch die Lösung der Eigentumsfrage. Nationalitätenpolitische Überlegungen spielten nach Beneckes Auffassung für die Politik in den Kresy generell nur eine allenfalls zweitrangige Rolle oder blieben in ihren Auswirkungen, wie etwa bei der Ansiedlung ausgedienter Soldaten, begrenzt. Die Warschauer Zentrale hat ihre Kresy-Politik letztlich immer in erster Linie als Teil nationaler Sicherheitspolitik gesehen.

Im letzten Beitrag beschäftigte sich Ludovit Hallon (Bratislava) mit der "Infrastrukturpolitik des tschechoslowakischen Staates in der Slowakei 1918 - 1938". Er machte deutlich, dass frühzeitig in allen wichtigen Bereichen Entwicklungspläne zur Integration des neuen Wirtschaftsraumes sowie zur Verringerung des West-Ost-Gefälles bestanden. Während insbesondere im Schiffsverkehr und bei der Elektrifizierung relativ rasch Erfolge erzielt werden konnten, erwies sich die Errichtung eines den Erfordernissen der neuen Volkswirtschaft entsprechenden Eisenbahnnetzes als sehr langwieriges Unterfangen. Die aus den Eisenbahntarifen resultierenden hohen Transportkosten waren ein wesentlicher Standortnachteil für viele slowakische Unternehmen und wurden daher ein wichtiges Argument innerhalb der Kritik in der slowakischen Öffentlichkeit an der Politik der Prager Zentrale.

Alle Beiträge wurden in einer oft lebhaften Debatte und auch unter vergleichender Perspektive diskutiert. Es wird Aufgabe des Herausgebers sein, in einem einleitenden Beitrag der geplanten Publikation diese Sichtweise deutlich zu machen. Dabei wird aus der Betrachtung der hier behandelten fünf Beispiele von Intentionen und zum Teil auch Auswirkungen zentralstaatlicher Wirtschaftspolitik in von ethnischen Minderheiten bewohnten, relativ rückständigen Regionen zu entwickeln sein, inwieweit die nationale Problematik konstitutiv für Ansätze einer modernen Regionalpolitik in den Staaten Ostmitteleuropas war. Die Tagung hat deutlich gemacht, dass die Nationalitätenprobleme regionalpolitische Interventionen eher gefördert haben. Retardierende Momente bildeten dabei neben dem eingeschränkten Repertoire wirtschaftspolitischer Instrumentarien und den begrenzten finanziellen Möglichkeiten der öffentlichen Hände die in Teilen der Ministerialbürokratie durchaus vorhandenen liberalen Auffassungen vom Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft. Einflussfaktoren stellten aber auch die Wirkung von agrarischen Interessengruppen, Industriekartellen sowie militärstrategischen Überlegungen dar. Trotz dieser Einschränkungen kann wohl konstatiert werden, dass im späten 19. und frühen 20. Jh. der Ausgleich regionaler Disparitäten zunehmend als wichtige Aufgabe des Staates gesehen wurde, wobei es nicht zuletzt darum ging, Nationalitätenprobleme zu "lösen".

Für die geplante Publikation wären als Ergänzungen bzw. Korrekturen der Beiträge der Herren Baltzarek, Hallon und Benecke noch deutschsprachige Beiträge zu folgenden Themen willkommen.

1. Die Wirtschaftspolitik Wiens in Galizien aus der Perspektive Galiziens (1867-1914)
2. Die Wirtschaftspolitik der Tschechoslowakei in der Slowakei (1918-1938)
3. Regionale Wirtschaftspolitik in den Kresy während der II. Republik

Kontakt

Dr. Uwe Müller
Europa-Universität Viadrina
Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neuzeit
Postfach 1786
15207 Frankfurt (Oder)
E-Mail: umueller@euv-frankfurt-o.de