Reform oder Revolte? "1968" und Militär im internationalen Vergleich

Reform oder Revolte? "1968" und Militär im internationalen Vergleich

Organisatoren
Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.06.2012 - 06.06.2012
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Von
Laura Haendel / Maria Janzen, Military Studies, Universität Potsdam

Die ‚68er’ werden in erster Linie mit der linken Studentenbewegung und einer Protestgeneration assoziiert, welche die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der urkonservativen Bundesrepublik aufweckte. Der Workshop ‚Reform oder Revolte? „1968“ und Militär im internationalen Vergleich’ fand vom 5.-6. Juni 2012 im Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam statt und erweiterte den bisher dominierenden Fokus um die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Militär. Der Workshop gliederte sich in zwei Panels, wobei das erste aus drei Vorträgen und einem Zeitzeugenvortrag bestand, welche die bundesdeutsche Perspektive behandelten. Das zweite erweiterte diese um eine internationale Betrachtung anhand von zwei Vorträgen zu der ‚68er’-Forschung in den USA und der Türkei. Der von den Organisatoren gesetzte Schwerpunkt auf Diskussionen ermöglichte einen intensiven Austausch zwischen Zeitzeugen und WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Fachdisziplinen. Das Ziel des Workshops war es zu überprüfen, ob sich in den Streitkräften infolge der ‚68er’ ein Perspektivenwechsel vollzogen hatte und Veränderungen in der militärischen Organisation vorgenommen wurden. Die zentrale Fragestellung lautete, ob die ‚68er’ überhaupt einen nachhaltigen Einfluss auf die militärische Kultur und die Identitätskonstruktion des Soldaten hatte. Des Weiteren sollte die Rolle der Streitkräfte in der Bundesrepublik, den USA und der Türkei in den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen oder studentischen Bewegungen thematisiert werden. In Anlehnung daran wurde sich der grundsätzlichen Diskussion genähert, ob es sich bei den ‚68ern’ um ein zusammenhängendes, internationales Phänomen handelt.

Nach einem Grußwort von Hans-Hubertus Mack (Potsdam) thematisierten die Veranstalter John Zimmermann und Rudolf Schlaffer (beide Potsdam) in ihrer Einführung die generelle Vernachlässigung der Bundeswehr als Teil von gesamtgesellschaftlich angelegten Forschungen, welche ebenfalls bei der Auseinandersetzung mit den so genannten ‚68ern’ vorliegt. Dies bezeichneten sie als besonders augenfällig, da die Bundeswehr und ihre Angehörigen häufig als der konservative Gegenpol zur linken Studentenbewegung konstruiert wurden. Die Veranstalter wiesen darauf hin, dass die bisherigen Forschungen zur ‚68er-Bewegung’ zeitzeugendominiert waren und häufig auf einseitigem Quellenmaterial basierten. Als Schwierigkeit stellten sie außerdem die Eingrenzung der ‚68er’ hinsichtlich ihrer Dauer, Transnationalität und gesellschaftlichen Auswirkungen heraus. Zum Ende ihrer Einführung ergänzten sie, dass ‚die 68er’ mit dem amorphen und nachträglich konstruierten Terminus der ‚Generation’ gefasst und vornehmlich als westliches Phänomen charakterisiert werden. Weiter können die ‚68er’ einerseits als ‚Zäsur’ und ‚Neugründung der Bundesrepublik’, andererseits als sozialhistorische Einheit kategorisiert werden, welche sich von der Jahrhundertwende bis zu den langen 1960er-Jahren erstreckte. STEPHAN HUCK (Wilhelmshaven) zeigte zu Beginn seines Vortrags Bildikonen, welche medial aufbereitete Inszenierungen einer revolutionären Zeit darstellen und noch heute unsere kollektive Erinnerung bestimmen. Dass diese dominante Narration nicht die Erinnerung aller Bundesdeutschen an die 1960er-Jahre ist, zeigte Huck anhand von Zeitungsausschnitten aus dem Raum Wilhelmshaven. Daran machte er deutlich, dass vor allem lokale Nachrichten die damalige Lebenswelt prägten und die Geschehnisse in den Großstädten nur am Rande Erwähnung fanden. Er schlussfolgerte, dass ‚die 68er’ ein mediengeleiteter Mythos seien. Den Mythosbegriff hielt er für besonders geeignet, da dieser auf die Wirkungskraft der Chiffre ‚68er’ hinweist, welche in ihrer Interpretation uneindeutig bleibt. In seinem Zeitzeugenvortrag beschrieb HANS EHLERT (Falkensee) die Bundeswehr der 1970er-Jahre. Er führte aus, dass die zunehmenden zivil-militärischen Spannungen von den Soldaten in die Bundeswehr getragen wurden und die Diskussion um die ‚Innere Führung’ verschärften. Er berichtete davon, wie er zusammen mit anderen Offizieren an der Hamburger Heeresoffiziersschule II das Thesenpapier der ‚Leutnant 70‘ verfasste, welches sie als Gegenpol zur ‚Schnez-Studie’ formulierten. Die neun Thesen zum neuen Berufsverständnis des Offiziers stellten die Autoren Wolf Graf von Baudissin vor. Sie schlossen damit an die Diskussion zur innerstaatlichen Rolle der Soldaten als ‚Staatsbürger in Uniform‘ an, welche sowohl in der Öffentlichkeit, als auch in der Bundeswehr geführt wurde. In der folgenden Paneldiskussion wurden Vorurteile der ‚68er-Aktivisten’ gegenüber Bundeswehrangehörigen thematisiert, welche sie für konservativ und rückwärtsgewandt hielten. Hans Ehlert widerlegte Bedenken der Diskutanten, die hohe Tragweite der Thesen und ihre intensive Diskussion innerhalb der Bundeswehr, habe dem weiteren Werdegang der jungen Offiziere geschadet. RUDOLF SCHLAFFER (Potsdam) thematisierte in seinem Vortrag Generationskonflikte innerhalb der Bundeswehr. Das Jahr 1968 sah er infolge des politischen Streits über die Notstandsgesetzgebung als Zäsur. Er beschrieb die beiden Spannungsfelder, in welchen sich die Bundeswehr zu dieser Zeit bewegte: Einerseits eine streitkräfteinterne Diskussion um Rollenerwartungen an den Soldaten und andererseits das Problem, sich geschlossen gegen öffentliche Agitationen politischer Gruppen positionieren zu müssen. Als eine Herausforderung sah er dabei insbesondere die in der Inneren Führung verankerte politische Bildung der Soldaten, welche ohne parteipolitische Polarisierung erfolgen sollte. Er schlussfolgerte, dass die Bundeswehr damit das Spannungsverhältnis zwischen Traditionalisten und Reformern auszugleichen suchte. WOLFGANG SCHMIDT (Hamburg) griff in seinem Vortrag die Problematisierung des Gegensatzpaares von Traditionalisten und Reformern auf. Nach seiner Definition befürchteten Traditionalisten eine Minderung der militärischen Effektivität durch das Konzept des ‚Staatsbürgers in Uniform’, die Reformer hingegen sahen das Konzept als Zukunftsmodell zur Anpassung der Bundeswehr an eine moderne Demokratie. Schmidt stellte eine positive Entwicklung der Bundeswehr im Zuge der ‚68er-Bewegung’ fest, welche jedoch erst ab Mitte der 1970er-Jahre durch konkrete Reformen messbar wurde. Neben den zunehmenden partizipatorischen Möglichkeiten der Soldaten durch die Reformen betonte er in seinem Vortrag auch die Transparenz der Streitkräfte für die Öffentlichkeit. Diese Entwicklungen sind nach Schmidt jedoch nur eingeschränkt als Demokratisierungsprozesse zu werten, weil unter anderem das Prinzip von Befehl und Gehorsam erhalten blieb. In der folgenden Paneldiskussion wurde darauf hingewiesen, dass die Bundeswehrquellen die Bedrohung von politisch Linken überproportional abbilden. Die DiskussionsteilnehmerInnen schätzten die hohe Quellenmenge zu Aktionen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) vor allem als eine Übersensibilisierung der Bundeswehr ein. Als vernachlässigt wurde hingegen die latent vorhandene Gefahr von politisch Rechten bewertet, welche sich daraus ergab, dass sie sich nicht unmittelbar im Dienstbetrieb bemerkbar machte und die Bundeswehrführung sie als „dumme Jungenstreiche“ abtat. Darüber hinaus hielten die DiskutantInnen fest, dass eine verallgemeinernde Aussage über ‚die Bundeswehr’ nicht möglich ist, da in den drei Teilstreitkräften heterogene militärische Kulturen vorherrschen, in welchen unterschiedliche Positionen vertreten werden. Als ein weiterer Gegensatz wurde das Verhältnis zwischen Kriegsgedienten und Nichtkriegsgedienten identifiziert, weshalb ‚die Soldaten’ ebenfalls nicht als homogene Gruppe behandelt werden können. Insgesamt wurde in der Diskussion deutlich, dass die Bundeswehr als Institution niemals als Initiator von Veränderungen in den eigenen Strukturen auftrat, sondern immer nur als „Trittbrettfahrer“ gesellschaftlicher Entwicklungen.

Im zweiten Panel wurden die Ergebnisse des ersten Tages um die internationale Perspektive erweitert. OLIVER SCHMIDT (Mannheim) bezeichnete zu Beginn seines Vortrages das Jahr 1968 als einen Wendepunkt für die innerstaatliche, sowie internationale Politik der USA. Er stellte die These auf, dass die bis dahin bestandene ungleiche Behandlung der afroamerikanischen GIs als Katalysator für die Kritik am US-Militär und der US-Außenpolitik allgemein diente. Er führte aus, dass sich Anfang 1970 die militärische Führung eingestand, dass ihre Integrationspolitik gescheitert war und Reformen einleitete. Schmidt bewertete dies als Öffnung des US-amerikanischen Militärs für die Durchsetzung der Rassengleichheit und folgerte, dass dadurch antimilitärische Tendenzen aufgefangen werden konnten. Die Kommentare von GUNDULA BAVENDAMM (Berlin) und MARTIN KLIMKE (Abu Dhabi) leiteten zu der Diskussion um den wechselseitigen Einfluss amerikanischer GIs und Soldaten der Bundeswehr an gemeinsamen Standorten hin. Darin wurden die GIs als alternative Identifikationsfiguren für bundesdeutsche Soldaten identifiziert und festgestellt, dass afroamerikanische Soldaten vornehmlich positive Erfahrungen an den bundesdeutschen Standorten machten. Abschließend wurde in der Diskussion festgehalten, dass deutsche Begriffe wie ‚Bürgerrechtsbewegung’ oder die Nutzung der Chiffre ‚1968’ nicht ohne weiteres auf die USA übertragbar sind. AYHAN BILGIN (Hannover) verglich in seinem Vortrag die Rolle von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Er stellte zunächst die Gemeinsamkeiten in beiden Ländern heraus, in welchen sich sozioökonomische Wandlungsbestrebungen in Studentenbewegungen kanalisierten, denen ein vom Vietnamkrieg angetriebener Antiamerikanismus gemein war. Die ‚68er-Bewegung’ in der Bundesrepublik bezeichnete Bilgin als kulturorientiert und friedlich, während die Studenten in der Türkei einen politischen Machtwechsel anstrebten und bewaffnet durchsetzen wollten. Er beschrieb, dass das deutsche Offizierskorps in der Bundesrepublik den Konservativen zugerechnet wurde, während sich das türkische mit den Studenten verbündete. In der anschließenden Diskussion wurde festgestellt, dass Denkanstöße in der Bundeswehr vornehmlich von Wehrpflichtigen und unteren Offiziersdienstgraden kamen, während die Akteure in der Türkei aus der militärischen Elite stammten. Ayhan Bilgin wandte ein, dass die Rolle der Wehrpflichtigen in der türkischen Armee aufgrund der unzugänglichen Militärquellen nicht zu beleuchten ist, weshalb der Fokus auf die Offiziere zunächst erhalten bleibt. HEINER MÖLLERS (Potsdam) stellte in der Zusammenfassung des Workshops heraus, dass die Deutungshoheit von Zeitzeugen in Zukunft durch quellenbasierte Forschung auszuhebeln ist, ohne von einer Idealisierung zu einem ‚68er-Bashing’ überzugehen. Er hielt fest, dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht geklärt wurde, ob man von einer ‚Demokratisierung’ der Bundeswehr sprechen könne oder ob es sich um ein „Reförmchen ohne Revolte“ handelte, welches einem generellen Modernisierungstrend der Streitkräfte folgte und weniger von außen durch die Gesellschaft beeinflusst wurde. Möllers stellte außerdem fest, dass bisher eine tragfähige Periodisierung fehlt und es sich zumeist um schlaglichtartige Betrachtungen einzelner Akteure handelt. Die Veränderungen der 1960er sollten nach ihm als ein Prozess betrachtet werden, der sich weit in die 1970er-Jahre erstreckte. In der Abschlussdiskussion wurde betont, dass die Bundeswehr als integraler Bestandteil der Gesellschaft in die Forschung zur ‚68er-Bewegung’ aufgenommen werden muss. Die WorkshopteilnehmerInnen waren sich einig, dass sich das Militär dabei zum Aufzeigen von institutionellen Entwicklungen, der Wechselwirkung zwischen Bundeswehr und Gesellschaft und dem Einfluss einzelner Personen und kleiner Gruppen auf die Institution eignet. Als entscheidend wurde die Wahl der Perspektive bei der Betrachtung von internationalen Auswirkungen empfunden – die deutsche Perspektive kann nicht auf das Ausland übertragen werden, da das Verhältnis von Militär und Gesellschaft zu unterschiedlich ist. Trotz der methodischen Schwierigkeiten und der Quellenproblematik, forderten die TeilnehmerInnen eine höhere Internationalisierung der Forschung; so wurden beispielsweise bisher die NVA und die Streitkräfte der anderen Mitglieder der Warschauer Vertragsorganisation weitestgehend ausgeblendet. Abschließend wurde der Versuch unternommen, die Frage im Titel der Veranstaltung „Reform oder Revolte?“ aufzulösen. Als Ergebnis hielten die TeilnehmerInnen fest, dass es sich in der Bundeswehr systemimmanent weniger um eine Revolte, als um Reformbestrebungen handelte, welche jedoch aufgrund eines Druckes „von unten“ initiiert worden sind. Der Workshop wurde mit dem Aufzeigen neuer Forschungsperspektiven geschlossen, in welchen Brücken zwischen Militär- und Kulturgeschichte, sowie Politikwissenschaft geschaffen werden müssen. Dort ist es zentral, dass ‚1968’ nicht definiert, sondern ausdifferenziert wird und interdisziplinär, international und multiperspektivisch innerhalb eines längeren Zeitraumes untersucht wird.

Der Workshop hat dazu beigetragen, den Begriff ‚1968’ zu dekonstruieren und zu verdeutlichen, dass es sich um einen weitaus längeren Zeitraum handelt, mehr Akteure beinhaltet und eine internationale Betrachtung möglich ist. Eine verstärkte internationale Zusammenarbeit kann dabei helfen, die Dimension ‚der 68er’ fassbar zu machen und ihre Tragweite zu verdeutlichen. Das Herstellen einer Vergleichsebene zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei gelang nur eingeschränkt, da für eine mikroperspektivische Betrachtung türkischer Quellen bisher fehlen. Obwohl die Veranstalter in ihrem Call for Paper um die die Einordnung der ‚68er’ und der Bundeswehr in den Geschlechterdiskurs baten, blieb dieses Themenfeld leider nahezu unbeachtet. Unterrepräsentiert war außerdem sowohl die Perspektive der Luftwaffe und Marine der Bundeswehr, als auch die der Teilstreitkräfte der NVA. Insgesamt waren sich die TeilnehmerInnen über die hohe Bedeutung der Streitkräfte für die ‚68er’ einig, weswegen Vertreter der studentenzentrierten linken Bewegung die Diskussion bereichert hätten. Der außergewöhnlich starke Schwerpunkt des Workshops auf den Austausch der ForscherInnen in den Diskussionen trug dazu bei, neue Impulse für weitere Forschungsrichtungen zu geben. Insgesamt gelang es in der Veranstaltung, die in der Forschung und Öffentlichkeit dominierende Betrachtungsweise aufzubrechen und um einen Akteur zu erweitern.

Konferenzübersicht:

Grußworte
Hans-Hubertus Mack (Amtschef MGFA Potsdam)

Einführung: Rudolf Schlaffer/John Zimmermann (MGFA Potsdam)

Panel 1
Stephan Huck (Deutsches Marinemuseum Wilhelmshaven): „Was ist geblieben von „1968“?“

Hans Ehlert (Falkensee, Ehem. ‚Leutnant 70’ und Amtschef MGFA): Zeitzeugenvortrag

Rudolf Schlaffer (MGFA Potsdam): „Grundwehrdienstleistende wandeln die Truppe: Kriegskinder treffen auf Kriegsgediente“

Wolfgang Schmidt (Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg): „„Mehr Demokratie wagen“? Gesellschaftlicher Wandel und partizipatorische Folgen in der Bundeswehr nach 1968“

Panel 2

Oliver Schmidt (Technomuseum, Landesmuseum für Technik und Arbeit Mannheim): „„Army in anguish?“ Krise Rebellion und Reform in den US-Streitkräften in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1968 und 1973“

Kommentar: Gundula Bavendamm (Alliiertenmuseum Berlin) und Martin Klimke (New York University Abu Dhabi)

Ayhan Bilgin (Universität Hannover): „Die türkische 68er-Bewegung im Beziehungszusammenhang des Militärs“

Zusammenfassung: Heiner Möllers (MGFA Potsdam)


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