Das Gedächtnis Europas. Symposium europäischer Institutionen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts

Das Gedächtnis Europas. Symposium europäischer Institutionen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität; Europäisches Solidarność-Zentrum in Danzig; Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur; in Kooperation mit der Robert-Havemann-Gesellschaft Berlin; und dem Museum des Zweiten Weltkriegs
Ort
Danzig
Land
Poland
Vom - Bis
14.09.2012 - 15.09.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Dominik Pick / Burkhard Olschowsky, Warschau

Vom 14. bis 15. September 2012 fand das I. Symposium europäischer Institutionen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts in Danzig unter dem Titel "Das Gedächtnis Europas“ statt. An ihm nahmen über 100 Wissenschaftler und Fachleute von 66 Institutionen aus 14 europäischen Ländern und Israel teil. Dieses Symposium sollte den Beginn eines Zyklus jährlicher Treffen von Wissenschaftlern und Vertretern von Institutionen darstellen, die sich die Erforschung, Dokumentation und Verbreitung der Geschichte des 20. Jahrhunderts und insbesondere die Diktaturerfahrungen zur Aufgabe gemacht haben. Ziel war der Austausch von Erfahrungen und methodischen Zugängen sowie über Formen und Möglichkeiten der grenzübergreifenden Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen.Das Symposium wurde durch Vertreter der Organisatoren eröffnet: BASIL KERSKI, Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums, RAFAŁ ROGULSKI, Direktor des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität (ENES) und ANNA KAMINSKY, Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das Symposium wurde realisiert in Zusammenarbeit mit dem Museum des Zweiten Weltkriegs (Danzig) und der Robert-Havemann-Gesellschaft (Berlin) mit finanzieller Unterstützung des polnischen Ministeriums für Kultur und Nationales Erbe und dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Der Auftakt des Symposiums fand mit einem Vortrag des ehemaligen Bundestagsabgeordneten und Außenminister der letzten und einzigen frei gewählten DDR-Regierung MARKUS MECKEL statt. Er wies in seinem Vortrag darauf hin, dass eine Konferenz über das europäische Gedächtnis vor 20 Jahren aufgrund der großen Unterschiede bei der Betrachtung der eigenen Geschichte noch nicht möglich gewesen wäre. Die Chancen, eine solche Diskussion nunmehr zu führen, begrüßte er ausdrücklich. Zugleich betonte er, dass eine solche Diskussion nicht einfach sei, denn sie erfordere, verschiedene Sichtweisen sowie national geprägte Geschichtsinterpretationen zu berücksichtigen.

Im Anschluss fand eine Podiumsdiskussion mit Wissenschaftlern und Journalisten aus Polen, Italien, Frankreich und Deutschland statt. GEORGES MINK (Warschau), französischer Soziologe und Direktor des Europa-Kollegs Warschau-Natolin sprach über die Rolle der Politik bei der Herausbildung historischer Diskurse. Diskurse auf europäischer Ebene zu führen sei nicht einfach, da historische Fragen häufig politisch instrumentalisiert würden. Beispiele für derartige Probleme, die einen Dialog behindern, lassen sich in verschiedenen europäischen Ländern finden. Der italienische Journalist LUIGI SPINOLA näherte sich dem Thema Gedächtnis Europas aus der Perspektive seines Heimatlandes. Auch er konstatierte, dass eine Verständigung über Erinnerungsfragen schwierig sei, und wies darauf hin, dass Geschichte häufig politisch genutzt werde, was jedoch nicht dämonisiert werden müsse. Ferner erwähnte er die signifikanten Unterschiede der Narrative in West- und Osteuropa.

ŁUKASZ KAMIŃSKI (Warschau), Präsident des polnischen Instituts für Nationales Gedächtnis, meinte, derzeit ließe sich nicht von einer europäischen Erinnerung sprechen. Bemühungen, eine universell gültige Geschichtsinterpretation etwa in Form eines gemeinsamen europäischen Schulbuches seien unnötig und gefährlich, so Kaminski. Gleichzeitig betonte er die Notwendigkeit eines Dialogs über europäisches Erinnern, das auf Werten basiere sowie Opfer und Täter genau betrachte. Täter-Opfer-Beschreibungen würden viele Probleme bergen und könnten manipulatorischen Absichten dienen. STEFAN TROEBST vom Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig, sprach über die Auswirkungen nationaler Politiken auf Geschichtsinterpretationen, was den Dialog über historische Themen in Europa hemmen würde. Als Beispiel nannte er uner anderem die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Reaktionen auf dieselben Gedenktage in verschiedenen Ländern Europas.

ROBERT ŻUREK (Berlin) vom Zentrum für historische Forschungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin sprach vor dem Hintergrund deutscher und polnischer Erfahrungen über die positiven Effekte eines Dialogs zwischen Historikern sowie über die Schwierigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse in den Bildungsalltag größerer sozialer Gruppen einzubringen. Zudem wies er darauf hin, dass Missverständnisse und Spannungen zwischen einzelnen Ländern Lernprozesse in den Gesellschaften beschleunigen könnten. Markus Meckel erwähnte die Notwendigkeit, eine Verständigung zu suchen und betonte, wie wichtig es sei, bei der jüngeren Generation Sensibilität und Offenheit für andere historische Narrative zu entwickeln. Als Beispiel für ein Engagement für eine Verständigung erwähnte er die polnisch-russische Kommission für schwierige Fragen.

Die Teilnehmer des Symposiums, sowie weitere Wissenschaftler und bei der historischen Aufarbeitung Engagierte beteiligten sich an der Diskussion, indem sie u.a. die Notwendigkeit weiterer Forschung sowie die Wissensverbreitung über die schwierigen Themen der europäischen Geschichte, wie Krieg, Völkermord, territoriale Auseinandersetzungen und Zwangsmigrationen betonten. Sie wiesen darauf hin, dass der ergiebige Austausch über historische Fragen nicht ausschließlich die Domäne polnischer und deutscher Wissenschaftlicher sei, sondern ähnliche Ansätze zum Dialog bei der ungarisch-slowakischen Debatte um den Vertrag von Trianon, oder Themen wie die Vertreibung der Krimtataren und der polnisch-russische Austausch über historische Fragen festzustellen sind. Es wurde in der Diskussion betont, dass auch an positive historische Ereignisse, welche originärer Teil der Geschichte Europas sind, anzuknüpfen lohnt.

Die Diskussionsteilnehmer äußerten ihre Unterstützung für dialogisch ausgerichtete Initiativen in Europa und sprachen sich für die Fortführung dieser Art Symposien aus, jedoch unter Einbeziehung weiterer Länder, wie z.B. Österreich und Tschechien. Konsens unter den Diskutanten war, dass es nicht eine europäische historische Erzählung geben könne. Das Herausbilden einer europäischen Erinnerung sei vielmehr ein Prozess dauerhafter grenzübergreifender Reflexion, die einen intensiven Austausch von Wissen und Erfahrungen sowie den Respekt vor der Vielfalt historischer Erzählungen zur Voraussetzung haben. Sowohl die Debatte als auch das Symposium zeigten, dass die konstruktive Diskussion über den Prozess der Bildung einer Erinnerungskultur, die mehr als eine Gesellschaft betrifft nicht nur möglich, sondern notwendig ist.

Am Nachmittag des ersten Tages wurden die Teilnehmer durch den Rohbau des künftigen Museums und Sitzes des Europäischen Zentrums Solidarność geführt, wo die geplante Dauerausstellung des Europäischen Solidarność-Zentrums wie auch des in Danzig entstehenden Museums des Zweiten Weltkriegs präsentiert wurden. Anschließend besuchten die Teilnehmer die Gedenkstätte der Westerplatte, wo am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann.Am zweiten Tag kamen die Teilnehmer des Symposiums im geschichtsträchtigen Saal der ehemaligen Lenin-Werft, dem Entstehungsort der Solidarność zusammen, wo eine Paneldiskussion stattfand. Diese Diskussion wurde eingeleitet durch kurze Impulsreferate von ZBIGNIEW GLUZA (Karta), Anna Kaminsky (Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur), MÁRIA PALASIK (Archiv des ungarischen Staatssicherheitsdienstes), PETER JAŠEK (Slowakisches Institut für nationales Gedächtnis), RÜDIGER SIELAFF (vom Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen), PAWEŁ UKIELSKI (Museum des Warschauer Aufstands) und OLAF WEIßBACH (Robert-Havemann-Gesellschaft). Anna Kaminsky (Berlin) stellte das Jahr 2014 als ein „Europäisches Jahr der Zeitgeschichte“ vor. Dann jährten sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal, der des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal, die Friedlichen Revolutionen zum 25. Mal und die EU-Osterweiterung zum 10. Mal. Durch diese Bündelung könne die Verflochtenheit der verschiedenen Nationalgeschichten verdeutlicht werden. Man habe bereits eine Intensität des Austausches zwischen Institutionen mehrerer Ländern erreicht, wovon auch dieses Symposium zeuge, die in den 1990er-Jahren nicht möglich gewesen wäre, stellte Zbigniew Gluza fest. Ein wie auch immer geartetes europäisches Erinnern müsse sich notwendigerweise aus vielen Facetten zusammensetzen, wobei die spezifischen ostmitteleuropäischen Narrative respektiert und integriert werden sollten, so Paweł Ukielski. Rüdiger Sielaff plädierte dafür, Freiheit und Demokratie mit den Erfahrungen von Diktatur zu kontrastieren, um Geschichte anschaulich vermitteln zu können. Olaf Weißbach wies pointiert auf das Nebeneinander von Geschichtspolitik, zivilgesellschaftlicher Aufarbeitung und Historiographie hin, was eine Debatte über den Zweck und die Formen der Geschichtspolitik hervorrief. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurden die unterschiedlichen nationalen Perspektiven sowie Defizite und Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Geschichtsinstitutionen erörtert und gefragt, inwiefern davon das Bild der eigenen, nationalen Geschichte betroffen sei.

Die Teilnehmer gaben eine Reihe von Anregungen für nachfolgende Veranstaltungen. Sie wiesen unter anderem darauf hin, Forschungsinstitute, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg befassen, und Einrichtungen aus dem westlichen Europa stärker zu beteiligen, um auf diese Weise Erfahrungen des östlichen und westlichen Teils Europas austauschen zu können. In der Debatte wurde die Schwierigkeit eines Wissenstransfers von der Wissenschaft in die öffentliche Debatte konstatiert, wovon die nationale und noch mehr die europäische Sphäre betroffen sind. Auf die Notwendigkeit, Instrumente für einen ergiebigen Austausch von Informationen und die Zusammenarbeit zwischen Institutionen in verschiedenen Ländern zu schaffen, wurde hingewiesen, z.B. durch die Schaffung einer Internet-Plattform und Newsletter für Institutionen, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts erforschen und dokumentieren.

Als ein praktisches Beispiel für die Umsetzung der Idee der europäischen Erinnerung stellte ANDREA MORK (Brüssel) das Projekt des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel vor, dessen wissenschaftliche Koordinatorin sie ist. Dieses Museumsprojekt wird in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus den Ländern der Europäischen Union erarbeitet, die unterschiedliche Ansichten und Herangehensweisen auf die europäische Erinnerung repräsentieren. Mork betonte, dass es nicht Ziel des Hauses sei, die Geschichte Europas neu zu erzählen, sondern vor allem einen Ort des Austausches zu schaffen, wo sich verschiedene historische Erzählungen treffen könnten.

In ihrer Zusammenfassung betonten JAN RYDEL und MATTHIAS WEBER, Vertreter des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität (ENES), dass die weitere Diskussion der schwierigen historischen Themen zwischen Wissenschaftlern und Vertretern von Aufarbeitungsinstitutionen notwendig sei. Nur durch den offenen Austausch von Ideen könne sich eine wertebasierte europäische Erinnerungskultur herausbilden, die den Kriterien der Objektivität, Solidarität, gegenseitigem Respekt, Verständnis, Achtung der grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten des Einzelnen gerecht wird. Die Institutionen, wie sie auf dem Symposium vertreten sind, sollten versuchen auf ihre Gesellschaften, die Medien und Politik ihrer Länder, in einer Weise zu wirken, dass ein Austausch über historische Themen sachlich und offen für alle geschieht. Ein wichtiges Ziel sollte die Verbreitung von Wissen über historische Ereignisse verschiedener Länder, vor allem im Hinblick auf die junge Generation sein. Erinnern sei nicht identisch mit dem Memorieren von Fakten. Zudem lasse sich keine universelle historische Erzählung oder ein gemeinsames Geschichtsbild schaffen.

Die Vielfalt der Narrative ist vielmehr Ausdruck einer als gemeinsam verstandenen europäischen Geschichte, sie ist unser nationales und transnationales Erbe. Es ist wichtig, eine Sensibilität und Akzeptanz für verschiedene historische Narrative und Einschätzungen des Anderen zu entwickeln. Dies gilt insbesondere für die Generationen, die das Leid und die Härten von Diktaturen nicht erfahren haben. Auch auf diese Weise ist es möglich, das eigene Verständnis von Geschichte durch Erfahrungen Anderer zu ergänzen. Eine Vielfalt der Meinungen und Erfahrungen zuzulassen heißt, die Perspektive des Nachbarn zu berücksichtigen und mit einem Willen zur Verständigung und Dialog, Respekt für die Opfer von anderen Nationen zu verbinden und verallgemeinernde Urteile zu unterlassen.

Eines der Anliegen der Organisatoren des Symposiums war der Gedankenaustausch zwischen den Vertretern verschiedener Institution, auch um neue Initiativen und Projekte anzuregen. Unter den vielen Vorhaben und Formen der Zusammenarbeit, die während der Panels und in den Pausen diskutiert wurden, stieß der Vorschlag von „Karta“, eine Internetseite unter dem Titel „Die Ungebrochenen. Oppositions- und Dissidentengruppen im kommunistischen Europa 1956-1989“ auf großes Interesse. Mit diesem Vorhaben sollen die Biographien von Oppositionellen aus den verschiedenen ehemaligen kommunistischen Ländern, Artikel über die Opposition in jedem Land, interaktive Diskussionsforen ehemaligen Dissidenten, etc. zusammengetragen und sichtbar gemacht werden.

Die Teilnehmer des Symposiums bekundeten ihre Bereitschaft, ein gemeinsames Dokument über bewährte Praktiken der Erforschung und Verbreitung der Geschichte des 20. Jahrhunderts im Geiste der europäischen Kultur der Erinnerung vorzubereiten. Der Entwurf dieses Dokuments wird in den kommenden Monaten vorbereitet und den Teilnehmern des Symposiums und weiteren Einrichtungen, die beim Symposium nicht vertreten waren, zur Diskussion gestellt werden.

Das II. Symposium "Gedächtnis Europas" ist 2013 in Berlin geplant.

Konferenzübersicht:

Markus Meckel, MdB a. D.: Brauchen wir eine europäische Erinnerungskultur?

Debatte: Existiert eine europäische Erinnerungskultur?

Stefan Troebst, Stellvertretender Direktor, des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas
Łukasz Kamiński, Präsident, Institut für Nationales Gedenken
Georges Mink, Direktor, College of Europe (Warschau-Natolin)
Paolo Morawski, Journalist
Robert Żurek, Stellvertretender Direktor, Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Berlin
Markus Meckel, MdB a. D.
Moderation: Basil Kerski, Direktor, Europäisches Solidarność-Zentrum

Besuch der Baustelle des Europäischen Solidarność-Zentrums
Präsentation der Dauerausstellung des Europäischen Solidarność-Zentrums und des Ausstellungskonzepts des Museums des Zweiten Weltkriegs in Gdańsk
Basil Kerski, Direktor, Europäisches Solidarność-Zentrum

Debatte: Akteure der europäischen Erinnerungskultur. Institutionen, Organisationen, ihre Projekte und ihre Wirkung
Moderation: Basil Kerski, Direktor, Europäisches Solidarność-Zentrum / Rafał Rogulski, Direktor, Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität
Themen:
- Vor welchen Herausforderungen steht die europäische Erinnerungskultur?
- Erfahrungen und Erwartungen von europäischen Institutionen, die sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen,
- Defizite der internationalen Zusammenarbeit zwischen Institutionen und Vorschläge zu deren Überwindung,
- Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Initiativen für die Aufarbeitung der Geschichte.

Vorstellung des Projektes “Haus der Europäischen Geschichte“ in Brüssel, Zusammenfassende Diskussion sowie Vorschläge für die Veranstalter des kommenden II. Symposiums europäischer Institutionen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts
Moderation: Jan Rydel: Vorsitzender des ENES-Lenkungsausschusses, Matthias Weber: Deutsches Mitglied im ENES-Lenkungsausschuss


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