Doings-Sayings-Writings. 1. Historiker-Workshop des DFG-Graduiertenkollegs "Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung"

Doings-Sayings-Writings. 1. Historiker-Workshop des DFG-Graduiertenkollegs "Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung"

Organisatoren
Constantin Rieske / Lucas Haasis, Graduiertenkolleg 1608/1 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung“, Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg
Ort
Oldenburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.12.2012 - 08.12.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Lucas Haasis / Constantin Rieske, Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung“, Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg

Doings, Sayings, Writings. Als geradezu eingeschworene Trias begründen diese drei Elemente historischer Handlungszusammenhänge den Grundstock einer Forschungsoptik, die sich gerade in jüngster Zeit vermehrt ihren Weg in den Kanon der Geschichtswissenschaft zu bahnen scheint: der historischen Praxeologie. Zur Frage steht die historische Dimension von ‚Selbst-Bildungen’, von Subjektivierungen historischer Akteure innerhalb vergangener sozio-kultureller Gesellschaftsgefüge, an die man sich, in Weiterführung praxistheoretischer Konzepte in den Kulturwissenschaften, anhand und über ein Verständnis des Sozialen als ‚Gewebe’ von Praktiken – sozialen Spielzügen miteinander verflochtener Handlungsträger – anzunähern versucht. Die benannte Trias bildet dabei eine willkommene Rahmung dieses historisch-theoretischen Neuverständnisses. Prozesshaft und dennoch gewissermaßen einheitlich zugänglich erscheinen die historischen Selbst-Bildungen ‚in the making’. Im empirisch Konkreten jedoch erweist sich dieser Rahmen in seinen Konturen bis dato noch als deutlich verschwommen. Die Umsetzung der Forschungslinse erscheint noch zu unbestimmt. Wie nähern wir uns forschungsimmanent und mit Blick auf Mehrwerte überhaupt an diese ‚Doings, Sayings und Writings’ in historisch spezifischen Bezügen an? Wie setzen wir die praxistheoretischen Vorannahmen um, wie lösen wir die Ansprüche ein, im Blick auf unsere konkreten Objekte der Begierde? Kurz: Wie konturieren wir die praxeologische ‚Relektüre’ des historischen Quellenmaterials?

Vor diesen Fragen verstand sich der erste Historiker-Workshop „DOINGS-SAYINGS-WRITINGS“ des DFG-Graduiertenkollegs 1608/1 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung“, abgehalten am 7. und 8. Dezember 2012 an der Universität Oldenburg, als Auftaktgeber und Podium. Er führte DoktorandeInnen und PostdoktorandInnen aus ganz Deutschland zusammen, um sich anhand der jeweils konkreten Forschungsarbeit über Ansätze und Lösungsvorschläge zu verständigen und dabei gemeinsame Leitlinien zu entwickeln. Die bewusste Wahl des Workshop-Formats als offene Plattform, als ‚Laboratorium’ des Austausches, erwies sich dabei als durchweg früchtetragender Rahmen. Gemeinsam, in Kurzvorträgen und anschließenden ausführlichen Diskussionen im Plenum, gelangte man zu stichhaltigen Anknüpfungspunkten – ‚Markern’ – der historisch-praxistheoretischen Forschungsbrille, die deutliche Potentiale der notwendigen Profilierung und empirischen Fundierung offenbarte, nicht nur für den Fortgang der eigenen Forschungstätigkeit, sondern ebenso für die generelle Präzisierung zukünftiger praxistheoretischer Überlegungen. Im Folgenden sollen diese praxeologischen Querstreben, hervorgegangen aus den Diskussionszusammenhängen, entlang der aufgeworfenen Kerntermini veranschaulicht werden.

Zeitlichkeit, Wandelfähigkeit & die Logik der Situativität: Mit einem Vortrag zu Möglichkeiten und Grenzen diskursiven Handelns in vormodernen Verfassungskonflikten am Beispiel der Selbstermächtigung und Aneignungen der hessischen Ritterschaft im Zeitkontinuum des 16. zum 17. Jahrhunderts eröffnete TIM NEU (Göttingen) den Workshop. Von einem Praxisbegriff ausgehend, der diskursive Praktiken als ‚Schnittstellen’ zwischen situationsübergreifenden, überindividuellen, dabei zeitlich dennoch fixierten Diskursordnungen und der situativen Logik individuell aneignender Praxis der Akteure definierte, gelang es ihm, im Vergleich der ritterlichen Positionierungen während beider Jahrhunderte, anschaulich diskursiven Wandel praxistheoretisch auszudeuten. Deutlich spiegelten sich in den Selbstauslegungen, den Beschreibungen der hessischen Ritterschaft Aneigungen vorherrschender Repräsentationsdiskurse, die ihnen im 17. Jahrhundert mehr Gehör verschaffen sollten. Jedoch nicht immer mit dem zuvor dafür vorgesehenen gewünschten Effekt. Subjektivierungspraxis wäre, so Neu, dadurch mitnichten von vorne herein mit den daraus resultierenden Subjektivierungs-Effekten gleichzusetzen. Aneignung allein bedeutete im Bezug auf die Ritterschaft nicht zwangsläufig ein Mehr an Anerkennung.

Anerkennung & anerkennende Ab-Erkennung: Anders lag der Fall im Blick auf die historischen Akteure des Beitrags von ANNIKA RAAPKE (Oldenburg). Gekonnte Aneignung der unter ärztlichen ‚Kollegen’ geläufigen Sprechweisen in Briefen bildete in französischen Kollegien des 18. Jahrhunderts gewissermaßen erst die Grundvoraussetzungen für die ‚Mitspielfähigkeit’. Raapke`s Vortragsschwerpunkt bildete die methodologische Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen Briefe-Schreiben als Praxis und Berichten über Praktiken innerhalb der brieflichen Zeilen. Dabei präsentierte sie auf beiden Seiten erfolgreiche und missglückte Anerkennungspraktiken unter Ärzten. Spannend dabei war, dass selbst persönliche Ausgrenzung, wie im Falle der Einstellung der Korrespondenz, dabei gewissermaßen Teil der Anerkennungspraxis sein konnte. Es war die Anerkennung der Nichtanerkennung, das Gewahrwerden der Nichtpassung. Es verdeutlichte sich, dass im ärztlichen Feld des 18. Jahrhunderts ein eindeutiges gemeinsames, praxisnahes Verständnis dafür herrschte, was möglich war und was nicht. Die gemeinsame Praxis erschien als allgemein intelligibel und dadurch erweise sie sich, so Raapke im Fazit, für den Historiker als dezidiert erkennbar.

Intelligibilität & Plausibilisierung: Der Vortrag von LUCAS HAASIS (Oldenburg) knüpfte an diese Feststellung nahezu fließend an. Auch unter nordeuropäischen Kaufleuten des 18. Jahrhunderts herrschte ein gemeinsamer Deutungshaushalt, ein ‚common sense’, der die Praxis strukturierte, Handlungsmuster bedeutsam und erklärbar machte, der jedoch gleichsam durch jede Situation des einzelnen Kaufmanns rückgespiegelt werden musste. Auch hier war das benannte situative Transformationspotential geboten. Haasis untersuchte die Selbstverortung und die Selbst-Plausibilisierung des Hamburger Kaufmanns Nicolaus Gottlieb Lütkens im Zeitverlauf der Jahre 1744-1746, kontinuierlich eingeordnet innerhalb kaufmännisch intelligibler Praxis, gleichsam vor dem wachsamen Auge eines weit gefächerten, jedoch klar umrissenen kaufmännischen Netzwerkes.

Ich-Bezug & Introspektion: In ein ebenso klar gefasstes Netzwerk bettete sich die Protagonistin von KATJA LISSMANN (Tübingen). Lißmann konzentrierte sich auf die Briefe der Pietistin Sophia Maria von Stammers an August Hermann Francke gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Ausgehend von der Frage, wie eine Pietistin zur Pietistin wurde, stellte Lißmann die schriftliche Subjektkonstitution Sophia Marias durch ihre ‚Arbeit am eigenen Selbst’ innerhalb des pietistischen Briefes dar. Sie verwies dabei überzeugend auf den engen Zusammenhang zwischen pietistischer Frömmigkeitspraxis und der praktischen Beziehung zum eigenen Selbst auf der einen, potentiellen Konflikten innerhalb des pietistischen Netzwerks, die sich aus dem ‚gender trouble’ der weiblichen Selbstermächtigung ergaben, auf der anderen Seite. Das Briefe-Schreiben fungierte dabei als entscheidendes Aushängeschild. Es stellte sich ohne Frage als ein Bindeglied der pietistischen Adressaten dar, war dabei jedoch vor allem eine Praktik frommer-meditiativer Introspektion. Dass diese interessante Spielart der Selbstbildungspraxis nun nicht nur auf das Medium Brief zutreffen sollte, sondern ebenfalls versprach, auf andere Quellengattungen übertragbar zu sein, mit dieser Vorahnung schloss der erste Workshoptag.

Social Sites & Teleoaffektive Strukturen: Den zweiten Tag hatte CONSTANTIN RIESKE (Oldenburg) entsprechend mit Überlegungen zur Introspektion des frühneuzeitlichen Konvertiten innerhalb von Konversionserzählungen zu eröffnen. Ausgehend vom Praxisbegriff des amerikanischen Philosophen Theodore R. Schatzki und dessen Konzept der ‚social site’, erläuterte Rieske in seinem Vortrag die von vielen frühneuzeitlichen Konvertiten im Verlauf ihres Glaubenswechsels ausgeführte Praktik der Lektüre religiöser Schriften. Durch diese setzten sich, wie im Falle Lißmanns, die historischen Akteure in ein Verhältnis zu sich. Dabei machte er deutlich, dass durch eine genaue Analyse von Konversionserzählungen Aussagen über die strukturelle Beschaffenheit der ‚doings und sayings’ in Konversionspraktiken sowie die Praxis des frühneuzeitlichen Glaubenswechsels und damit über den vielschichtigen Prozess der religiösen Subjektivierung historischer Akteure getroffen werden können. Spannend in seinen Ausführungen war auch die Frage nach dem Ort der Lektüre der religiösen Schriften. Denn nicht selten sollte diese ausschlaggebend gekennzeichnet sein von einer gewissen räumlichen Abgeschiedenheit.

Räumlichkeit & Kollektivität: Rieske führte damit über in den Vortrag von BABETTE REICHERDT (Kassel). Auch Reicherdt nutzte eine bis dato für praxeologische Zusammenhänge noch betont zu sehr vernachlässigte Quelle. In ihrem Vortrag beschrieb sie die Doings, Sayings und Writings eines Genfer Klarissenkonventes anhand derer Chroniken zu Anfang des 16. Jahrhunderts und verwies dabei anschaulich auf Prozesse wechselseitiger Subjekt-Raum-Konstitution und deren Konfliktlastigkeit. Als das Besondere des sozialen Ortes des Klosters fungierte dabei, dass, durch das räumliche Arrangement bedingt, ein gemeinschaftliches Handeln quasi unabdingbar war. In ‚Praktiken der Geschlossenheit’, bei gleichzeitiger Hierarchisierung, vollzog sich die Subjektivierung im Personenkonzept Nonne als Gemeinschaftsprojekt innerhalb einer Kollektivpraxis im geschlossenen, privaten Raum.

Ko-Akteure des Sozialen & Kultivierung: In einen vergleichbar privaten, jedoch bürgerlich, familiären Rahmen verlegt, erschien der Vortrag von JULIA BREITTRUCK (Bielefeld). Ausgehend wiederum von der Grundannahme, dass der Selbstbildungsprozess eines in Praktiken geformten und sich selbst in Praktiken formierenden historischen Subjektes ein ko-aktives Gegenüber voraussetzte, betonte Breittruck in ihrem Vortrag – dabei anschaulich musikalisch unterlegt – die Bedeutung von Singvögeln als Haustiere und anerkannte ‚Schüler’ des Pariser Bürgertums im 18. Jahrhundert. Überzeugend beschrieb sie die historischen Tier-Mensch-Beziehungen als bedeutungsschwere reziproke, interaktive Bezugsrahmen, als Komplexe sozial geregelter und typisierter Handlungsmuster, die dabei wesentlich von der Präsenz und Performanz des tierischen Ko-Akteurs geprägt waren. Der Vogel nahm entscheidenden Anteil an der bürgerlichen Subjektivierung und avancierte dabei gleichermaßen selbst in gewisser Weise zum Träger eines ‚kultivierten Selbst’. Nur allzu deutlich spiegelte sich dieses auch im Erfolg von Erziehungsratgebern zum Umgang mit dem gefiederten Freund - wodurch der fließende Übergang zum letzten Vortrag des Workshops gelang.

Handlungsgrammatiken & Möglichkeitsräume: JÖRN ESCH (Oldenburg) präsentierte Praxisanleitungen, Manuale zum Fußballspiel während des deutschen Kaiserreiches, im Zeitfenster von 1882 bis 1918, als ‚Handlungsgrammatiken’ und Möglichkeitsräume des für die Teilnahme an der Praxis zu bevollmächtigenden Fußballersubjektes. Esch stellte heraus, dass in der Struktur des ‚formatierten’ Subjekts, wie es in den Anleitungen konzipiert wurde, im Verbund mit dem Kontext, den diese Anleitungen bildeten, eine bestimmte Form der responsabilisierenden Anrufung an dieses Subjekt gerichtet wurde. Ohne den Einbezug dieser Manuale als ‚Praxis-Scripte’ wäre der frühe Fußball nicht deutbar, genauso wenig wie dieser damals ohne die eigentliche Spielpraxis funktioniert hätte.

HistorikerInnen haben es mit vergangener Praxis zu tun, sie beobachten beschriebene Praxis. Wie fruchtbar dieser Beobachtungswinkel ist, das haben die Beiträge und Diskussionen des Workshops gezeigt. Historisch-praxeologische Ansätze bieten neue Erklärungen für das Verständnis gesellschaftlichen Wandels, sozio-kultureller Verwerfungen und diskursiver Neuorientierungen. Sie verdeutlichen Selbst-Schaffungen, Selbst-Bildungen, Ich-Bezüge, erklären Gruppendynamiken, historische Abhängigkeiten, Einfassungen und Wechselverhältnisse der historischen Akteure mit ihren räumlichen Arrangements, ihren materiellen sowie tierischen Ko-Akteuren. Vor dem Hintergrund eines deutlich gemeinsamen Sprachspiels war es den Teilnehmern möglich, anhand des spannenden Blickes auf unterschiedlichste Quellen die gegenseitige Anregung und Verständigung voranzutreiben und gemeinsam die Weichen für zukünftige Diskussionen zum praxeologischen Forschungsprogramm zu stellen. Man darf auf die Fortsetzung der Workshopreihe im Sommer 2013 gespannt sein.

Konferenzübersicht

Begrüßung: Lucas Haasis, Constantin Rieske (Universität Oldenburg)

Tim Neu (Universität Göttingen): Die Ambivalenz der Aneignung. Möglichkeiten und Grenzen diskursiven Handelns in vormodernen Verfassungskonflikten

Annika Raapke (Universität Oldenburg): Der seltsame Fall des gestohlenen Skalpells und andere Begebenheiten. Anerkennungspraktiken und Konfliktsituationen in Ärztekollegien des 18. Jahrhunderts

Lucas Haasis (Universität Oldenburg): Correspondence makes the merchant: Die Briefe Nicolaus Gottlieb Lütkens` (1744-1746)

Katja Lißmann (Universität Tübingen): Das Wachstum im Glauben, die Neue Kreatur und die „Arbeit (an) seiner Seelen": Die Briefe Sophia Maria von Stammers an August Hermann Francke als schriftliche Subjektkonstitution im Netzwerk (1691-1705)
Moderation: Constantin Rieske

Constantin Rieske (Universität Oldenburg): Re-Turning to God?! Zur Praxis frühneuzeitlicher Glaubenswechsel in Konversionserzählungen

Babette Reicherdt (Universität Kassel): Gemeinschaft und Geschlecht in Klosterräumen: Körper, Beziehungen und Emotionen in Chroniken aus Klarissenkonventen des 16. Jahrhunderts

Julia Breittruck (Universität Bielefeld): Von Schülern und 'Transformationsräumen'. Vögel als Haustiere im 18. Jahrhundert

Jörn Esch (Universität Oldenburg): How to play by the book? Der Fußballer in Praxismanualen
Moderation: Lucas Haasis

Abschlussdiskussion


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