Religionsgeschichte transnational: Perspektiven, Modelle, Debatten

Religionsgeschichte transnational: Perspektiven, Modelle, Debatten

Organisatoren
Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte
Ort
Fribourg
Land
Switzerland
Vom - Bis
30.11.2012 - 01.12.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Yvonne Walter, Universität Fribourg

Im Zeichen transnationaler Blickwinkel für die Religionsgeschichte fand am 30. November und 1. Dezember die von der Schweizerischen Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte (SZRKG) organisierte Tagung „Religionsgeschichte transnational: Perspektiven, Modelle, Debatten“ statt. Ziel war es, unter Berücksichtigung der religions- und kirchengeschichtlichen Forschung der vergangenen Jahre, verschiedene Blickwinkel für die zukünftige Forschung zu diskutieren und die SZRKG darin zu positionieren. Den Organisatoren, Mariano Delgado, Präsident der Vereinigung für Schweizerische Kirchengeschichte, Franziska Metzger, Chefredakteurin der SZRKG und David Neuhold, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Zeitschrift, war es dabei wichtig, unterschiedliche Ansätze und Konzepte zu diskutieren.

Die Tagung wurde durch URS ALTERMATT (Solothurn) mit einem Vortrag eröffnet, in welchem er die Geschichte der SZRKG, die bis 2003 unter dem Namen Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte (ZSKG) erschien, in die „Metamorphosen der Katholizismusforschung“ der letzten Jahrzehnte, genauer gesagt seit den 1980er-Jahren, einordnete. Als langjähriger Chefredaktor der SZRKG zeigte Altermatt den Verlauf der methodologischen und konzeptionellen Verschiebungen, die Umbrüche in der allgemeinen und kirchengeschichtlichen Geschichtsschreibung, sowie die Ausweitung des thematischen Spektrums der Zeitschrift, hin zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Themen. Diese Wandlungen stellte er insbesondere in den Kontext der Geschichte der Universität Fribourg, mit welcher die SZRKG / ZSKG seit ihrer Gründung 1907 eng verbunden war, sowie in einen schweizerischen und internationalen Zusammenhang. Dem Blick auf religiöse Transformationen im 20. Jahrhundert schloss sich der Vortrag von DENIS PELLETIER (Paris) an, der sich mit dem Umgang des religiösen Faktors in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigte. Unter dem Titel „Penser la religion dans l’histoire de l’Europe du XXe siècle“ ging er auf das religiöse Erbe und dessen Neuanlage im Verlaufe des 20. Jahrhunderts ein. In einer ersten Reflexion thematisierte Pelletier den religiösen Gehalt des Konzepts von Grenzen und den Gebrauch des Religiösen außerhalb des religiösen Feldes. Dabei dekonstruierte er den Mythos von Grenzen und forderte eine Perspektive, die Grenzen als Zentrum betrachtet. Danach ging er auf die Parallelen zwischen dem Ort der Religionen im Europa des frühen 20. und des frühen 21. Jahrhunderts ein. Einen Hauptfokus in diesem Vergleich legte er auf die Bedeutung der Minoritätsreligionen, einen weiteren auf das Verhältnis von Religion und Wissenschaft sowie von Religion und Krieg. Indem er einen historisch-semantischen und einen diskursgeschichtlichen Zugang miteinander verband, zeigte er Interpretationslinien für einen Blick der longue durée auf Transformationen des Religiösen auf. An Pelletiers Thesen zur gewandelten sozialen und politischen Präsenz von Religion im öffentlichen Raum schloss HUGH MC LEOD (Birmingham) an. In seinem Vortrag „The Sixties Revisited: ‚Spiritual Awakening‘ or ‚Secularisation Decade‘“ griff Mc Leod die Debatte um fundamentale Unterschiede zwischen den USA und Europa bezüglich der Rolle und Ausformung von Religion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders in den ‚langen 60er Jahren‘ auf. Als unterscheidenden Faktor betonte er die bedeutendere Rolle der Migration in den USA durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch. Zugleich hob er die anhaltende Bedeutung des Protestantismus in der politischen Landschaft der amerikanischen Gesellschaft hervor, welche er neben die verstärkte Individualisierung religiöser Bindungen sowie die Rolle der Medien stellte. Einem ‚grossen Narrativ‘ setzte Mc Leod eine Reihe zuweilen gegensätzlicher ‚kleiner Erzählungen‘ entgegen.

Einen ebenso dekonstruierenden Blick verfolgte MARK EDWARD RUFF (St. Louis), wobei er in seinem Vortrag „Religious Transformations since 1945: Is there an American Religious Exceptionalism?“ zugleich ebenfalls den Einfluss der Politik auf das Individuum und der Verschränkung von Religion und Politik betonte. Er stellte sich die Frage, ob die Religion in den USA der Nachkriegszeit durch das Modell des kompetitiven Marktplatzes, wie Vertreter der sogenannten rational choice-Theorie dies tun, zureichend verstanden werden kann. Einem solchen Zugang, der davon ausgeht, dass die Menschen nach 1945 in der Religion verharrten, in der sie hineingeboren wurden, stellte Ruff eine dynamisierte und Pluralität betonende Interpretation entgegen. Er akzentuierte regionale bzw. lokale und generationelle Differenzen und präsentierte Faktoren religiöser Transformation: Nicht nur durch Migration bedingte kulturell unterschiedliche Ehen, sondern auch der Einfluss der Politik (mit fundamentalen Fragen, wie der Einstellung gegenüber Atomwaffen) und die individuelle Selbsthinterfragung ließen viele Amerikaner aus der Gemeinschaft austreten, in die sie hineingeboren wurden. Die Suche nach Gemeinschaft ebenso wie Integration durch Nachbarschaft und Vereine, Unterhaltungswert und Kinderbetreuung spielen – so Ruff – eine Rolle bei der Wahl einer religiösen Gemeinschaft.

Dass die Frage nach dem eigentlichen Glauben nicht mehr alleine entscheidend für die religiöse Einstellung ist, zeigte auch JAMES KENNEDY (Amsterdam). Er schloss sich dem Fokus auf den Wandel in den 1960er-Jahren und der Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit an. Sein Vortrag „Public Presence: The Shifting Fortunes of Religious Actors in Post-Sixties Europe“ bezog sich hauptsächlich auf die Niederlande. Das Ausmass der „60er Jahre“ und deren Folgen kann jedoch transnational für eine verringerte oder umkämpfte öffentliche Präsenz der glaubensbasierten Organisationen transnational interpretiert werden. Der Rückgang im Kirchenbesuch und die Entfremdung von explizit christlich-moralischen Werten führten, wie Kennedy ausführte, sowohl in den Niederlanden, als auch international zu verschiedenen institutionellen Auswirkungen. Wie Ruff zeigte er den Einfluss der Politik auf die konfessionellen Glaubensgemeinschaften auf. So gehören etwa in den USA protestantische Weiße eher einer konservativen Partei an. Die Art der politischen Ausrichtung ist ebenfalls durch die Herkunft der verschiedenen Migrantengruppen geprägt. Juden und Katholiken, die im Krieg in die Niederlande flohen, veränderten die niederländische politische Landschaft. Insgesamt plädierte Kennedy für einen verstärkten Blick auf die Rolle der Religion. Dabei soll der Fokus auf lokale Ebenen und besonders auf urbane Räume, die zivilgesellschaftliche Verortung von Religion gelegt werden. Ebenso soll die Aufmerksamkeit auf Überschneidungen sich religiös definierender mit nicht-religiösen Gruppen erhöht werden, um diese genauer analysieren zu können.

Die drei darauffolgenden Beiträge nahmen sämtlich eine wissenschaftsgeschichtliche bzw. -theoretische Perspektive ein. ALBERTO MELLONI (Modena/Bologna) beschäftigte sich mit der Geschichtsschreibung zum Zweiten Vatikanischen Konzil und präsentierte eine kritische Interpretation der nicht historiographischen Reaktionen, welche durch das von G. Alberigo geleitete Werk ausgelöst wurden. MELLONI forderte eine Debatte über das Zweite Vatikanische Konzil, welche nicht nur die Mechanismen und redaktionellen Prozesse betrachtet, sondern das Konzil als Ereignis in den Blick nimmt. Des Weiteren, plädierte er dafür, die Rolle der Generation der 1960er- und 70er-Jahren als weltweite Bewegung in den Blick zu nehmen und von einem transnationalen, globalen Ansichtsmuster auszugehen, welches weiterer Interpretationen bedarf.

JACQUES PICARD (Basel) erläuterte in seinem Beitrag zum Thema „Studien zu jüdischen Themen in der Schweiz“ die unterschiedlichen Zugänge zum Thema Judentum und dessen Erforschung. Er zeigte die Suche nach Namen, Verständnis, Verortungen, Profilierung und Wahrnehmung sowie interdisziplinäre Forschungszweige auf, namentlich die Judaistik und die Hebraistik. Picard zufolge hat die „jüdische Forschung“ seit den 1980ern stark zugenommen, auch in der Schweiz. Seit dieser Zeit sieht sich die Schweiz damit konfrontiert, ihre Rolle in der Zwischenkriegs- und Kriegszeit kritisch zu hinterfragen und den Anerkennungsprozess der Schuldfrage in Bezug auf die Abweisung jüdischer Flüchtlinge zu überdenken. Picard zeigte, dass dadurch weitere interdisziplinäre Teilgebiete in der Theologie, der Religionswissenschaft, der Geschichte und der Sozial- und Kulturanthropologie entstanden seien. Darin wurden zunehmend Fragen von Migration und Integration wichtig, wie sie bereits von Picards Vorrednern erwähnt wurden. Ebenso plädierte er für die weitere Untersuchung des immer wieder aufkommenden Antisemitismus. Die Forschung müsse vorangetrieben werden, damit der Antisemitismus in Europa nicht wieder Fuß fassen könne.

In seinem Vortrag „Religiöse Phänomene und ihre Geschichte als Gegenstand anthropologischer, psychologischer und biologischer Forschung“ verfolgte GERHARD BESIER (Dresden) die These, dass sich der menschliche Geist, seit er sich seiner selbst bewusst wurde, Lebens- und Sinnwelten konstruierte. Religiöse Vorstellungen seien als Teil der Kultur entstanden, in einer Art Verdichtung unseres unaufhörlich schlussfolgernden Gehirns, ohne dass uns ein Zusammenhang zwischen den so entstandenen Inferenz-Systemen und unseren Erklärungsbedürfnissen bewusst wäre. Erfolgversprechende religiöse Konzepte beruhten, so Besier, auf wenigen ontologischen Kategorien und einem Katalog supranaturaler Muster. Dies verdeutlichte er am Erfahrungsbegriff. Durch das Denken sucht der Mensch nach einer Erklärung der Wirklichkeit. Religion ist als eine eigene Kunst zu interpretieren, um Erwartetes Wirklichkeit werden zu lassen. Alles, was nicht erklärt werden kann, wird als übernatürliches Phänomen gesehen, welches auch durch psychoaktive Drogen oder physische Dispositionen zustande komme. Ist erst einmal eine religiöse Organisation entstanden, so Besier, versuchten die Akteure mit allen Mitteln der Beeinflussung ihr System zu konservieren.

An die Reihe von Vorträgen schloss sich eine Podiumsdiskussion mit Beiträgen von Angela Berlis (Bern), Wilhelm Damberg (Bochum), Jan De Maeyer (Leuven) und Nicole Lemaitre (Paris) unter der Leitung von Mariano Delgado, dem Präsidenten der Vereinigung für Schweizerische Kirchengeschichte, und der Chefredakteurin Franziska Metzger an.

Im Vordergrund standen Fragen nach der thematischen Ausrichtung der Zeitschrift und ihren Zugängen sowie nach den Herausforderungen der Zukunft. ANGELA BERLIS und WILHELM DAMBERG hoben die Netzwerk- und Forumsfunktion sowie die Dynamik der Zeitschrift zwischen den verschiedenen Sprach- und Wissenschaftskulturen hervor. Sie fragten zudem nach dem thematisch-theoretischen „Framing“ der Zeitschrift. Berlis sprach sich dafür aus, dass die Analyse theologischer Diskurse durch die Religionsgeschichte wieder stärker aufzunehmen sei.

Das transnationale Potential der Zeitschrift betonte besonders JAN DE MAEYER, wobei verstärkt Themen aufzugreifen seien, die transversal angelegt seien, wie z.B. Religion und Migration. Zudem plädierte er für eine Perspektive der longue durée, indem er sich für eine Reflexion über den Ort der Religionsgeschichte in der globalen Geschichte sowie für eine verstärkte Interdisziplinarität stark machte. Dem Argument der longue durée mit Blick auf Institutionen, Diskurse und Praktiken wie auch der transnationalen Betrachtung schloss sich NICOLE LEMAITRE an. Sie ist der Meinung, dass man in Europa transnational denken muss, um Religionsgeschichte besser verstehen zu können. Mikro- und Makrogeschichte sowie der Blick auf Minderheiten und marginalisierte Gruppen, auf Ränder und neue Formen des Religiösen wurden in der den vier Inputs folgenden Plenardiskussion als Themenfelder der künftigen Forschung und Tätigkeit der Zeitschrift hervorgehoben.

Es kann festgehalten werden, dass die Zeitschrift weiterhin den Zugang des Methodenpluralismus verfolgen möchte, um eine Plattform für die schweizerische und internationale religions- und kirchengeschichtliche Forschung zu bieten. Darüber hinaus soll die künftige Forschung mit Blick auf Elitediskurse, religiöse Praktiken und Institutionen stärker diskutiert werden. Alle Teilnehmer sprachen sich vermehrt für eine Überwindung von Grenzen aus. So soll die Interdisziplinarität nebst der Religions- und Kirchengeschichte etwa religionssoziologische und anthropologische Diskussionen fördern. Ferner wird der Fokus verstärkt auf religiöse Grenzkonstruktionen (Inklusion- und Exklusion, Zentrum – Peripherie), auf Umdefinitionen des Religiösen (so besonders im späten 20. Jahrhundert) und mit Blick auf den Wandel des Ortes und der Ausformungen von Religion in der Gesellschaft (Religion und Politik, Religion und Zivilgesellschaft) liegen. Nur durch eine Kontinuität hinsichtlich dieser Betrachtungen kann eine Verschiebung von Blickwinkeln erzeugt werden. Durch die Besonderheit ihrer Viersprachigkeit bietet die SZRKG ein geeignetes Forum für die schweizerische, wie für die internationale und vor allem bewusst transnational orientierte religions- und kirchengeschichtliche Forschung.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung

Mariano Delgado, Präsident der Vereinigung für Schweizerische Kirchengeschichte (Fribourg)
Franziska Metzger, Chefredakteurin der SZRKG (Fribourg)
David Neuhold, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der SZRKG (Fribourg)

1. Sektion

Urs Altermatt (Solothurn): Metamorphosen der Katholizismusforschung – Das Beispiel der Schweizerischen Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte

Denis Pelletier (Paris): Penser la religion dans l’histoire de l‘Europe au XXe siècle

2. Sektion

Hugh McLeod (Birmingham): «Spiritual Awakening» or «Secularisation Decade»? The 1960s Revisited

Mark Edward Ruff (St. Louis): Religious Transformations since 1945: Is there an American Religious Exceptionalism?

3. Sektion

James Kennedy (Amsterdam): Public Presence: The Shifting Fortunes of Religious Actors in Post-Sixties Europe

Alberto Melloni (Modena): La storia del Vaticano II e le nuove prospettive di ricerca

4. Sektion

Jacques Picard (Basel): Studien zu jüdischen Themen in der Schweiz

Gerhard Besier (Dresden): Religiöse Phänomene und ihre Geschichte als Gegenstand anthropologischer, psychologischer und biologischer Forschung


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