„Eigennutz“ und „gute Ordnung“. Ökonomisierungen der Welt im 17. Jahrhundert. 14. Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung

„Eigennutz“ und „gute Ordnung“. Ökonomisierungen der Welt im 17. Jahrhundert. 14. Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung

Organisatoren
Herzog August Bibliothek; Vorbereitung und Leitung des Kongresses: Sandra Richter (Stuttgart); Guillaume Garner (Lyon); Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft; dem Land Niedersachsen; und mit Unterstützung des Forschungszentrums Musik und Gender an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.08.2012 - 24.08.2012
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Von
Sandra Richter, Stuttgart

Das 17. Jahrhundert wurde unter ökonomischem Aspekt bislang nur wenig berücksichtigt; der Kongress versuchte, die Aufmerksamkeit entsprechend neu zu justieren. Es gelang, eine Gruppe von 45 aktiven Teilnehmern und zusätzliche Gäste unterschiedlicher Disziplinen zu einem internationalen Austausch über das Thema zu versammeln. Gegliedert in vier Sektionen präsentierten und diskutierten sie theoretisch reflektiert neueste Erkenntnisse über das in ökonomischer Hinsicht ‚dunkle‘ 17. Jahrhundert.

Die von MARK HÄBERLEIN und MICHAEL NORTH geleitete erste Sektion nahm zwei grundlegende Entwicklungstendenzen des 17. Jahrhunderts in den Blick: Die Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung Europas durch die Intensivierung von Handelsbeziehungen zu anderen Weltteilen und weiträumige Marktverflechtungen sowie die Einbindung breiterer Schichten der Bevölkerung in Marktbeziehungen.

In seinem Leitvortrag untersuchte WILLIAM ASHWORTH (Liverpool) den Einfluss des Überseehandels auf die Kommerzialisierung Englands im 17. Jahrhundert. Ausgehend von der Karriere George Downings (1623-1684) betonte er die Kontinuitäten zwischen der republikanischen Periode in den 1650er-Jahren und der 1660 beginnenden Restaurationsepoche, insbesondere im Bereich der Handelspolitik und des Kreditwesens. Am Beispiel von Bozen, Nürnberg und Leipzig ging CHRISTOF JEGGLE (Bamberg) den Zusammenhängen zwischen expandierenden Warenmärkten, dem Aufschwung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs und der Entwicklung einer eigenständigen Handelsgerichtsbarkeit nach. Diese Entwicklungen können als Prozess der Konsolidierung und Formalisierung von bargeldlosen Zahlungsmitteln sowie als reflexive Auseinandersetzungen mit ihnen verstanden werden.

MAGNUS RESSEL (Padua/Bochum) machte deutlich, dass von einem generellen Niedergang bzw. Bedeutungsverlust der wendischen Hansestädte in den Handelskreisläufen des 17. Jahrhunderts keine Rede sein kann. Vielmehr konnte diese Städtegruppe dem wirtschaftlichen Abschwung in großen Teilen Europas weitgehend entgehen und ihre Position im profitablen europäischen Fernhandel ausbauen, wie eine Reihe von Indizien (z. B. die Zunahme von Seeversicherungen, die Trennung von Reederei und Handelsgeschäft) zeigen. So könne von einer „Ökonomisierung der Hansestädte“ gesprochen werden.

PETER RAUSCHER (Wien) stellte ein vor dem Abschluss stehendes Forschungsprojekt zur Wirtschaftsgeschichte der österreichischen Donauländer am Beispiel von Krems vor1, das eine Konjunktur des Handels in der Region nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs und bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts beschreibt. MICHAELA SCHMÖLZ-HÄBERLEIN (Chemnitz/Bamberg) thematisierte anhand eines Prozesses, den Markgraf Christian Ernst von Brandenburg-Bayreuth gegen seinen Hoffaktor Samson Salomon und dessen Verwandte führte, Beziehungen und Konflikte zwischen jüdischen Handelsgesellschaften und obrigkeitlichen Akteuren in Franken um 1700.

JULIA A. SCHMIDT-FUNKE befasste sich am Beispiel der Reichs- und Messestadt Frankfurt am Main mit Konsum, materieller Kultur und der Ökonomie des frühneuzeitlichen Haushalts. Dabei arbeitete Schmidt-Funke heraus, dass die Ambivalenz von Handel und Konsum in der Frühen Neuzeit zwar mit besonderer Schärfe hervortrat, was sich sowohl in den Policeyordnungen als auch im Umgang mit den materiellen Dingen widerspiegelte, dass für diese Prozesse langer Dauer das 17. Jahrhundert aber nicht als Zäsur gewertet werden kann.

GERHARD F. STRASSER diskutierte die Entwicklung einer auch für kommerzielle Zwecke gedachten Universalsprache durch den Barockgelehrten Johann Joachim Becher (1625/35-1682). Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Kameralist wollte Becher in seiner 1661 publizierten Schrift Character, Pro Notitia Linguarum Universali sein auf mathematischkombinatorischen Grundlagen basierendes Sprachensystem über den Verwendungsbereich der zur Übermittlung benutzten arabischen Zahlen hinaus ausdehnen und ersann ein von Hieroglyphen beeinflusstes, nichteurozentrisches Punkt- und Strichsystem.

Abschließend diskutierte ULRIKE GLEIXNER (Wolfenbüttel) den Beitrag der protestantischen Mission zur Intensivierung der Verbindung zwischen Ökonomie und Religion. Dabei diskutierte sie sowohl die globale Ökonomie des Gütertauschs als auch die wirtschaftlichen Grundlagen der Missionarstätigkeit (Spenden). Motor des missionarischen Unternehmens war eine Heilsökonomie, in der die pietistische Eschatologie in ökonomische Kategorien und wirtschaftliches Handeln übersetzt wurde.

Leonhard Fronspergers Vom Lob deß Eigen Nutzen 1564 und Adam Smith Theory of Moral Sentiments 1759 stecken einen Zeitraum ab, in dem sich die Bewertung des Eigennutzes verschob. Dieser wurde schließlich nicht mehr negativ als der guten Ordnung entgegenstehendes soziales Fehlverhalten verstanden. Vielmehr galt Eigennutz um 1750 als ein Leitkonzept eines moralisch legitimen ökonomischen Handelns. Vor dem Hintergrund dieses von MARIE-THÉRÈSE MOUREY und SUSANNE RODE-BREYMANN entfalteten Szenarios behandelten die Vorträge und Diskussionen der zweiten Sektion mehrere Bereiche, zunächst (a) Veränderungen des ökonomischen Handelns von Künstlern und Künstlerinnen, Musikern und Musikerinnen, Tänzern und Tänzerinnen, Mäzenaten und Mäzenatinnen, (b) mediale (Verlagswesen), materiale (neue Rohstoffe), institutionelle Veränderungen, (c) Wertedebatten über den Aufwand von Hofkultur und Kritik am Prachtaufwand, (d) Veränderungen von Produktion und Distribution von Kulturgütern und (e) Diskurse über die Ökonomisierung von Literatur, Kunst, Musik, Tanz usw.

Am Dresdner Hof etwa führte der Krieg zu drastischen Kürzungen des Etats für Kunst. Trotz ökonomischer Zwänge hielt der Kapellmeister Heinrich Schütz daran fest, die Musik „ordentlich“ weiterzupflegen. Anhand seines mit dem Kurfürsten geführten Briefwechsels gab ELISABETH ROTHMUND (Paris) einen Einblick in die realen ökonomischen Verhältnisse wie auch in die inneren Machtverhältnisse am kursächsischen Hof und erhellte die jeweiligen Legitimationsdiskurse sowie ihre pragmatischen und symbolischen Hintergründe. Den Ökonomisierungsformen fürstlicher Repräsentationspolitik gewann ISABELLA WOLDT (Hamburg) am Beispiel der baukünstlerischen Politik Friedrich III. von Brandenburg, der sich bald zum ersten König in Preußen krönen sollte, eine positive Seite ab. Seine Politik führte dazu, dass aus Berlin, einer noch bescheidenen provinziellen Stadt, eine Fürstenresidenz wurde.

HANS VON MIGROET (Durham) wies auf der Grundlage quantitativer Studien nach, wie die Professionalisierung des (auch überseeischen) Kunsthandels von Antwerpen aus und die enorme Geschwindigkeitssteigerung in der Malerei in Mecheln sich Hand in Hand entwickelten und dabei eine „Copy-Kultur“ entstand, in der unzählige Phantom-Kopien kursierten. Vincent Demont (Paris/Nanterre) stellte am Beispiel von Frankfurt am Main und Hamburg dar, wie Goldschmiede und Juwelenhändler zum Aufschwung des Luxusmarktes in einem großstädtischen Milieu beitrugen und die Obrigkeiten vergeblich versuchten, die existierenden Marktsstrukturen an die neue Konstellation zu adaptieren und den Markt selber zu regulieren. Dass bildende Kunst durch die werkstattmäßige Produktion und neue Vertriebsformen zur Ware wurde, zeigte NILS BÜTTNER (Stuttgart) am Beispiel des Malers Peter Paul Rubens. Anlässlich einer schweren Wirtschaftskrise, als die Ware aus Neuspanien und Amerika ausblieb und Bankrott drohte, erwies er sich als weiser homo oeconomicus.

Auch Gedichte (zumal Kasualpoeme) hat man getauscht. Inwieweit diese Gedichte einen Tauschwert besaßen und die Praxis somit auch als ökonomischer Prozess (vielleicht auch als Erwerbung eines symbolischen Kapitals?) verstanden werden muss, erläuterte RUDOLF DRUX (Köln) anhand von Opitz' Kasualpoemen. PHILIP AJOURI (Stuttgart) thematisierte die Wahrnehmungen und Vorstellungen von Ökonomisierungsprozessen, wie sie aus Policeyschriften und dem Alamode-Diskurs hervorgehen und fragte nach dem genauen Inhalt der angestrebten „guten Ordnung“ (Marktregulierung versus Import von Luxusgütern). Ebenso machte sich die fiktionale Literatur zum Sprachrohr eines moralischen Diskurses über das Geld und die ökonomischen Prozesse, wie anhand des Romans Fortunatus (1509) von MARA WADE (Urbana) gezeigt wurde, in welchem die Hauptfigur ein Paradebeispiel für den frühneuzeitlichen Erfolg durch Geld, aber auch durch Selbstdisziplin und „gute Ordnung“, darstellt.

Um die dritte Sektion einzuleiten stellte MARTIN MULSOW (Erfurt/Gotha) einige Reflexionen zum Thema "Ökonomie des Wissens, Wissen der Ökonomie und Wissensökonomie" vor. Er präsentierte drei Beispiele, wie solche Theorien für das Barock fruchtbar zu machen sind: Eine „imaginäre Ökonomie“ zeige sich bei den Auflistungen Herzog Friedrichs I. von Gotha, was er mit möglichen Gewinnen aus der Alchemie machen würde; das Verhältnis „Rarität und Ökonomie“ zeige sich an den Schwarzmärkten für verbotene Literatur; und als „Wissensunternehmer“ könne man gelehrte Projektemacher wie Christian Franz Paullini analysieren.

MARIAN FÜSSEL (Göttingen) stellte in seinem Leitvortrag die Theorielage im Anschluss an Soziologen wie Pierre Bourdieu und Historiker wie E. P. Thompson dar, bevor er genauer auf drei Bereiche einging: zum einen das „Haushalten“, bei dem es um Schattenökonomien, Bastelökonomien und die Verachtung der Ökonomie als Distinktionsstrategie geht, zum anderen „Institutionen“, nämlich die Frage der Gehälter und Hierarchien, und drittens „Moralische Ökonomien“, die die Emergenz von Marktstrukturen erkennen lassen. Überall, so Füssel, begegnen uns Verdrängungen des Ökonomischen, sei es in der Verkennung der Schattenökonomie des gelehrten Haushaltes, der Käuflichkeit gelehrter Grade an Universitäten oder den Versuchen moralisierend auf die zunehmende Marktförmigkeit gelehrter Wissensökonomien zu reagieren. Diese Verkennungslogiken des Ökonomischen finden ihren sozialen Sinn in einem Ringen um die Autonomie des gelehrten Feldes.

THOMAS BEHME (Berlin) sprach über „Erhard Weigels moralische Arithmetik“. Es ging um Weigels sozialphilosophisches Werk „ Arithmetische Beschreibung der Moral-Weißheit von Personen und Sachen“. Weigels moralische Arithmetik hatte in erster Linie den Menschen als Person und dessen sittliches Handeln zum Gegenstand. Doch darüber hinaus thematisierte sie den Wert handelbarer Sachen und das Geld. Durch diese Begeisterung für Zählbarkeit und Messbarkeit der sittlichen Welt wurden Ansätze zur Entwicklung mathematikorientierter Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Deutschland und andernorts angeregt. Dazu passend referierte SEBASTIAN MANHART (Konz) über „drei Formen der Regulierung: Messung, Kalkülisierung und Ökonomisierung“.

TED MCCORMICK (Montreal) behandelte die Autoren Gabriel Plattes (1600-1644) und William Petty (1623-1687); sie agierten in unterschiedlichen Kontexten, aber beide verknüpften die „Universalreformation“ des 17. Jahrhunderts (Hartlib-Kreis) mit der „biopolitischen Arithmetik“ der Folgezeit, und zwar durch die Alchemie. Für beide zeigt sich die Wahrheit der Transmutation in der möglichen Veränderbarkeit des Menschen und der Gesellschaft, und ihr Nutzen lässt sich in ökonomischen Begriffen ausdrücken. Auch VERA KELLER (Eugene) ging es um das Verhältnis von Alchemie, Gesellschaft und Ökonomie. Kameralisten wie Jakob Bornitz (1560-1625) und Wilhelm von Schröder (1640-1688), so Keller, benutzten die Alchemie, um Eigennutz begrifflich neu zu bestimmen als etwas, das eine Rationalität besitzt und analysiert werden kann, gerade auch in Hinsicht auf seinen Beitrag zum öffentlichen Wohl. Es sei also keineswegs so, dass Alchemie und „Goldmacherei“ einfach nur der Gegenseite der wissenschaftlichen Revolution subsumiert werden könne. Im Gegenteil: Die Alchemie half entscheidend, aus der Kameralistik eine “wissenschaftliche” Disziplin zu machen.

Auf ähnlichem Gebiet bewegte sich DANIEL JÜTTEs (Harvard) Beitrag über die Arkanökonomie jüdischer Gelehrter. Sie handelten mit geheimen, zumeist alchemistischem Wissen, waren als Wunderheiler oder Berater an den Höfen Europas umworben. Am Beispiel des württembergischen Hofjuden Abramo Colorni und seiner Publikationstätigkeit erörterte Jütte, wie Colorni das Spannungsfeld von Geheimen und Öffentlichen ökonomisch nutzbar zu machen wusste.

PHILIP HOFFMANN-REHNITZ (Münster) untersuchte die Bedingungen, unter denen Wissen auf dem Buchmarkt gehandelt wurde. Er befasste sich dabei vor allem mit dem Problem des „Afterbuchhandels“, den Raubdrucken, die im 17. und 18. Jahrhundert ein ökonomisches Problem für die Drucker der Originalwerke und Autoren darstellten. Hinzu kam ein gattungsbedingtes Sonderproblem: der Vertrieb großer Enzyklopädien wie des Zedler, denen vielfach Plagiat vorgeworfen wurde.

MARCEL LEPPER (Marbach) und SIMON ZEISBERG (Berlin) widmeten sich den ökonomischen Semantiken der Bücherwelt im 17. Jahrhundert: Lepper behandelte die Metaphorik vom Bücher- und Wortschatz, die dem Käufer Reichtum und Pracht signalisieren sollte und dem Vertrieb von Lexika usf. diente. Zeisberg hingegen untersuchte literarische Beschreibungen des Marktes in Grimmelshausens simplicianischem Zyklus, wobei er vornehmlich auf „Simplicius Simplicissimus“ zu sprechen kam.

Die von KARIN FRIEDRICH und ANDREAS HOLZEM geleitete vierte Sektion verfolgte das Ziel, die in ihrem Titel eingefassten Spannungen zu analysieren. Auf der einen Seite spielten die Überzeugungen christlicher Werteordnungen in der Moralkasuistik wie in der Verkündigung noch eine große Rolle. Auf der anderen Seite drängten Marktteilnehmer zunehmend auf ein Ende der ethischen Abwertung des Eigennutzes. Der Staat wurde durch diese Spannungen in eine schwierige Lage gebracht. Zum einen profitierte er von den Ergebnissen einer aktiven Wirtschaftspolitik. Zum anderen musste der Staat seinerseits seine Autorität auch als moralische Instanz unter Beweis stellen. Angesichts dieser differenzierten wechselseitigen Einflussverhältnisse sollte die Sektion den „komplexen Mix von Einstellungen der Marktteilnehmer“ thematisieren. Dabei müsse jedoch klar unterschieden werden zwischen den normativen Setzungen, die die Debatte, und den Praktiken, die das herrscherliche Handeln und den ökonomischen Alltag bestimmten. Die Vorträge zeigten einen Querschnitt durch die vielfältige Theorie und Praxis barocker Marktideen und Regulierungsansätze, die im Laufe des 17. Jahrhunderts Profitstreben, Zinsnehmen und gewisse Deregulierung (in Grenzen sogar im Handwerk) zuließen. Dabei blieb die moralisch-theologische Diskussion im Vordergrund.

Die Fortentwicklung des Eigennutz-Begriffs war eng an ökonomische Diskurse gebunden, wie der Leitvortrag von JOCHEN HOOCK (Paris) verdeutlichte. Als Herausgeber einer monumentalen Edition von Ratgebertexten zur „ars mercatoria“ für Kaufleute der frühen Neuzeit betonte Hoock die Ubiquität ökonomisch-moralischer Themen in Europa, wie die Regulierung von Wucherpreisen und die Diskussion um den den „juste prix“, die in einer Spannung zwischen Handelsfreiheit und regulierendem Staat (mit seinen doch sehr mobilen und gut informierten Kameralisten) standen.

Ansätze zu einem weniger negativen Eigennutz-Begriff, der mit altruistischen Verhaltensweisen vereinbar, und damit dem „gemeinen Nutzen“ nicht abträglich erscheint, wurden im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert immer wieder durch Ressourcen-Knappheit gebremst, was im Vortrag ARND FISCHERs (Berlin) über Sebastian Francks (1499–1543) Konsumkritik deutlich wurde. Vor allem die Furcht vor der göttlichen Strafe führt immer wieder zu theologischen Texten zurück, die Wucher, Zins und Profit als verderblich darstellen und eine Auffassung vom gerechten Preis vertreten.

Das Problem, dass weder der Markt noch der Eigennutz der Menschen durch obrigkeitliche Gesetze beherrscht werden konnten, drang durch die Policeyverordnungen immer stärker ins allgemeine Bewusstsein. Darum ging es ANNE MONTENACH (Aix-en-Provence) in ihrem Beitrag zur informellen Marktpraxis im Lyon des 17. Jahrhunderts. Sie zeigte eine Spannung zwischen dem „bien d'etat“ und dem „bien publique“ auf – mit einer Fokussierung auf die weibliche Ökonomie eines unter bestimmten Bedingungen geduldeten schwarzen Marktes, sowie die Beziehung zwischen positivem Recht und Moral.

MURIEL GONZALEZ ATHENAS (Barcelona) versuchte, die Dichotomie zwischen den semantischen Feldern der auskömmlichen „Nahrung“ und des nutzenzentrierten „Marktes“ aufzubrechen. Die Vortragende zeigte die Breite der auch marktkonformen Bedeutungen des Nahrungsbegriffs auf. Am Beispiel des Handwerkerlebens in den Kölner Gaffeln der Leinweber, betroffen von englischer und niederländischer Marktkonkurrenz, wird argumentiert, dass Zunftregeln nicht nur Hindernisse gegen Neuerungen darstellten, sondern das Handwerk flexibler und weniger traditionalistisch agierte als bislang angenommen.

Einen Ausflug in literaturwissenschaftliche Ansätze bot RAINER HILLENBRAND (Pécs) mit einer Untersuchung von Grimmelshausens „Konservatismus“. Unter Bezug auf Bibelstellen und theologische Argumente, mit denen Grimmelshausen vertraut war, wird die „verkehrte Welt“ des Simplicissimus dargestellt, der sich gegen einen wachsenden Utilitarismus zur Wehr setzt, indem er die Weltflucht favorisiert.

Auf die Marktdiskussion zurückkommend demonstrierte SABINE TODT (Hamburg) in ihrem Beitrag zur Handelstätigkeit der Hamburger und Altonaer Mennoniten eine deutlich konfessionelle Konditionierung der Diskussion um Eigen- und Gemeinnutz. Das Material dazu schließt Reisetagebücher und Korrespondenzen mit ein. Neu in der ökonomischen Semantik taucht das Thema ‚Vertrauen‘ auf. Im Kontext der Familienökonomie spielt gerade dieser Begriff die zentrale Rolle und gibt durch Schaffung einer starken konfessionellen und familiären Gruppenidentität dem Markt Innovationskraft.

Einen neuen Aspekt erörterte auch JUSTUS NIPPERDEY (Saarbrücken) mit seiner Analyse der Bevölkerungstheorie des 17. Jahrhunderts am Beispiel kameralistischer Traktate. Während aktive Maßnahmen wie die Eheförderung und Policeyordnungen zur Migration erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts aktuell werden, zeigen Diskurse über den Nutzen und das Anwachsen von „Nahrung“ bzw. den Konsum schon im 17. Jahrhundert ein Bewusstsein für die Bedeutung der Demographie.

Der Schlussvortrag JOSEPH FREEDMANS (Montgomery), “Evolving Attitudes towards Commerce in Academic Philosophical Writings” wurde von einer nützlichen Tabellisierung von Autoren und ihren Werken zur Ökonomie begleitet. Freedman stellte neben einer Fokussierung auf praktischen Rat eine im 17. Jahrhundert wachsende Tendenz der Integration von landwirtschaftlichen Diskursen in philosophischen und politischen Traktaten fest. Doch blieb die Frage, welche Wirkungen oder Konsequenzen das hatte, unbeantwortet, vor allem da der Konfessionalität moralischer Diskurse jegliche Bedeutung abgesprochen wurde.

Die Plenarvorträge halfen, die thematische Vielfalt der Tagung zu bündeln: WOLFGANG KAISER (Paris) widmete sich einem bislang zu wenig beachtetem ökonomischem Problemfeld des 17. Jahrhunderts, nämlich dem Menschenhandel und der Unsicherheit darüber, wie sich die jeweilige persona überhaupt ökonomisch und juristisch konstituierte. ANSELM STEIGER (Hamburg) untersuchte die Dogmengeschichte des „commercium“ in lutherischer Tradition und zeigte erstaunliche Parallelen von heilsgeschichtlicher und ökonomischer Semantik aus. HARALD COOK (Brown University) gab einen Überblick über die angloamerikanische Forschung zu den ökonomischen Dimensionen der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte.

Die Beiträge zeigten insgesamt, dass eine Befassung mit den Ökonomien des 17. Jahrhunderts an der Zeit ist. Mit wenigen Ausnahmen sollen die Beiträge nun zu einem Tagungsband zusammengeführt werden, von dem sich die Veranstaltung verstärkte Aufmerksamkeit und eine weitere Förderung des Themas versprechen.

Konferenzübersicht:

Plenarvorträge

Wolfgang Kaiser (Paris): Geschäfte mit der Redemption. Sklavenhandel und Gefangenenloskauf im frühneuzeitlichen Mittelmeerraum – Abendvortrag

Harold Cook (Providence): Sharing the Truth of Things: Commercial Ventures and Scientific Information in the 17th Century

Anselm Steiger (Hamburg): Commercium. Beobachtungen zu einer basalen Kategorie barocker Theologie

Sektion 1: Expandierende Märkte und lokaler Handel

Einführung durch die Sektionsleitung: Mark Häberlein (Bamberg), Michael North (Greifswald)

William Ashworth (Liverpool), Leitvortrag: The impact of transatlantic trade on the commercialisation of seventeenth century England

Christof Jeggle (Bamberg): Gute Ordnung der Wechselmärkte? Marktexpansion und Handelsgerichtsbarkeit im 17. Jahrhundert

Magnus Ressel (Padua/Bochum): Der deutsche Seehandel im Dreißigjährigen Krieg zwischen lokalem Verlust und Expansion in der Ferne

Peter Rauscher (Wien): Der oberdeutsch-österreichische Donauhandel im 17. Jahrhundert. Überregionaler Warenaustausch und lokale Märkte

Michaela Schmölz-Häberlein (Chemnitz): Beziehungen und Konflikte zwischen jüdischen Handelskonsortien und obrigkeitlichen Akteuren in Franken um 1700

Julia Schmidt-Funke (Jena): Konsum, materielle Kultur und die Ökonomie des frühneuzeitlichen Haushalts. Frankfurt am Main im 17. Jahrhundert

Gerhard Strasser (Landshut): Expandierende Märkte in wirtschaftlichen und linguistischen Dimensionen: Johann Joachim Bechers Entwicklung einer Universalsprache für kommerzielle Zwecke

Ulrike Gleixner (Wolfenbüttel): Ökonomie im expandierenden Reich Gottes

Sektion 2: Luxusmarkt, Konsumkultur und Mäzenat

Einführung durch die Sektionsleitung: Marie-Thèrése Mourey (Paris), Susanne Rode-Breymann (Hannover)

Hans van Miegroet (Durham), Leitvortrag: Art Export, International Textiles Trade Networks and New Imagery in Americas in the Early Modern Period

Vincent Demont (Paris/Nanterre): Marchands-joailliers et corporations d'orfèvres – logiques concurrentes ou complémentaires ? (Francfort sur le Main et Hambourg, début XVIIe siècle)

Mara Wade (Urbana): Geld, Geschlecht und gute Ordnung im frühdeutschen Roman „Fortunatus“

Philip Ajouri (Stuttgart): Ökonomisierung in Policeyschriften und im Alamode-Diskurs des 17. Jahrhunderts

Rudolf Drux (Köln): “Haec fama tua sit merces". Vom Tauschwert von Kasualpoemen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges

Nils Büttner (Stuttgart): Ware Kunst: Peter Paul Rubens als Ökonom

Elisabeth Rothmund (Paris): Ad utilitatem publicam et Capellæ, und nicht ad privatum alicujus commodum“ – Hofmusik und Hofkapellmeisteramt aus ökonomischer Sicht am Beispiel Kursachsens im 17. Jahrhunderts

Isabella Woldt (Hamburg): Die Bautopografie Berlins unter Friedrich I. Mäzenatentum und Herrscherrepräsentation um 1700

Sektion 3: Wissensmarkt, moralische Ökonomie und Epistemologie

Einführung durch die Sektionsleitung: Ulrich Heinen (Wuppertal), Martin Mulsow (Erfurt)

Marian Füssel (Göttingen), Leitvortrag: Die Ökonomie der Gelehrtenrepublik: Moral - Macht - Wissen

Thomas Behme (Berlin): Erhard Weigels moralische Arithmetik

Sebastian Manhart (Konz): Drei Formen der Regulierung: Messung, Kalkülisierung und Ökonomisierung

Vera Keller (Eugene): Transformative Knowledge: Alchemical Processes, Personae, and Authorial Practices in Economic Thought from Jakob Bornitz (1560-1625) to Wilhelm von Schröder (1640-1688)

Daniel Jütte (Cambridge): Die Ökonomie des Geheimen. Juden und der Handel mit Geheimnissen in der Frühen Neuzeit

Philip Hoffmann-Rehnitz (Münster): Von Hudlern, Afterbuchhändlern und tollkühnen Entrepreneurs. Kommerzialisierung und irreguläre ökonomische Praktiken im Druckgewerbe seit dem Dreißigjährigen Krieg

Marcel Lepper (Marbach): Monument, Schatz, Quelle: ökonomische Ordnung des Schriftguts im 17. Jahrhundert

Simon Zeisberg (Berlin): Ökonomie der Literatur? Überlegungen zur Poetik ökonomischen Wissens in ‚Welt‘-Satire und Schelmenroman des 17. Jahrhunderts

Sektion 4: Marktregulierung, Moral und Theologie für und wider den Markt

Einführung durch die Sektionsleitung: Karin Friedrich (Aberdeen), Andreas Holzem (Tübingen)

Jochen Hoock (Paris) – Leitvortrag: Ein Markt ohne Märkte? Theoretische und praktische Aspekte der Marktentwicklung im 17. Jahrhundert

Arnd Fischer (Berlin): Mangel verwalten - Mangel erhalten. Konsumkritik bei Sebastian Franck

Anne Montenach (Aix-en-Provence): Régulations locales et marchés informels: le cas du commerce alimentaire à Lyon au XVIIe siècle

Muriel González Athenas (Barcelona): Nahrung und Gemeinnutz. Wirtschaftsstrategien zwischen Zunft und Markt

Rainer Hildenbrand (Pécs): Ökonomischer Konservatismus bei Grimmelshausen

Sabine Todt (Hamburg): Die Mennoniten in Hamburg und Altona: Ökonomisierungen im Spannungsfeld zwischen "Eigennutz" und "guter Ordnung"

Justus Nipperdey (Saarbrücken): Die „ökonomische Bevölkerungstheorie“ des 17. Jahrhunderts

Joseph Freedman (Montgomery): Evolving Attitudes towards Commerce in Academic Philosophical Writings during the Seventeenth Century

Anmerkung:
1 <http://www.univie.ac.at/donauhandel/> (11.03.2013).


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