Oriental Silks in Medieval Europe / Luxusgewebe des Orients im westlichen Mittelalter

Oriental Silks in Medieval Europe / Luxusgewebe des Orients im westlichen Mittelalter

Organisatoren
Regula Schorta, Abegg-Stiftung; Juliane von Fircks, Institut für Kunstgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Ort
Riggisberg (CH)
Land
Switzerland
Vom - Bis
29.09.2011 - 01.10.2011
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Von
Christiane Elster, Köln

In den letzten Jahrzehnten ist eine Erweiterung des Gegenstandsbereiches der Kunstgeschichte weg vom „Kunstwerk“ im Sinne der Kanonbildung der Akademien des 18./19. Jahrhunderts hin zur Gesamtheit materieller Kultur zu beobachten – eine Tendenz, welche mit einem neuen Interesse für die lange Zeit wenig beachteten Angewandten Künste einhergeht. Ausgehend von anthropologischen Ansätzen wie den sogenannten „material culture studies“ wird nach dem Gegenstandscharakter von Artefakten und der besonderen Art ihrer Wirkungskraft gefragt. Zugleich steigt das Interesse an Phänomenen des Kulturkontakts und damit einhergehender Transferprozesse, angeregt durch die ebenfalls aus der Ethnologie und den Geschichtswissenschaften stammenden methodischen Ansätze der Akkulturation, Transkulturation und des Kulturtransfers sowie neuerer kulturwissenschaftlicher Analysekategorien wie der Übersetzung und der „histoire croisée“.1

Die durch die Abegg-Stiftung in Riggisberg (CH) ausgerichtete, von Regula Schorta (Abegg-Stiftung) und Juliane von Fircks (Institut für Kunstgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz) organisierte Tagung zu Luxusgeweben des Orients im westlichen Mittelalter versuchte, die genannten Analysekategorien für das Medium Textil fruchtbar zu machen. Ein internationaler Kreis aus Wissenschaftlern fragte nach der Rolle von Luxusgeweben im Kontext von Transferprozessen zwischen Orient und Okzident. Der Untersuchungsraum wurde über Europa und den in jüngster Zeit häufig im Fokus stehenden Mittelmeerraum hinaus erweitert. Der Begriff „Orient“ wurde dabei bewusst offen definiert und umfasste all jene geographischen Regionen und Kulturräume östlich des Mittelmeers, die vom Nahen über den Mittleren Osten und Zentralasien bis nach China und Japan reichen. Das Tagungsprogramm deckte die gesamte Zeitspanne des Mittelalters bis zur beginnenden Frühen Neuzeit ab.

Orientalische Gewebe waren während des ganzen Mittelalters in westlichen Repräsentationszusammenhängen präsent, stellten sie doch aufgrund ihrer materiellen Kostbarkeit, ihrer Seltenheit und Exotik begehrte Statussymbole dar. Selbst Seidenstoffe mit arabischen Inschriften oder chinesischen Motiven und Schriftzeichen fanden in der christlichen Liturgie als Paramente und in höfisch-zeremoniellen Handlungszusammenhängen Verwendung. Durch ihre für den westlichen Rezipientenkreis nicht vertraute Formen-, Motiv- und Schriftsprache verwiesen sie sichtbar auf ihre Provenienz aus einer fremden Kultur. Doch der mit dem Import östlicher Gewebe in den Westen einhergehende Transfer ging über die vielfältigen Aneignungsformen der eigentlichen aus dem Orient stammenden Stoffe hinaus. In einem komplexen Prozess kultureller Übersetzung eignete sich etwa die sich im 13./14. Jahrhundert etablierende italienische Seidenindustrie die Technik und Motivsprache östlicher Seiden an. Ebenso wenig war die Rezeption orientalischer Seidengewebe im Westen auf das Medium Textil beschränkt; Adaptionen fanden auch in anderen Gattungen statt, etwa in der Buchmalerei. Seit dem späten 14. und vor allem im 15. Jahrhundert sind zudem Rezeptionsprozesse von West nach Ost zu konstatieren, zum Beispiel bei der Imitation italienischer Samte in der frühen Seidenindustrie des Osmanischen Reiches. Ziel der Tagung war es, anhand der Zusammenführung zeitlich breit gestreuter Fallstudien die Vielgestaltigkeit kultureller Austauschprozesse und die dichte Vernetzung zwischen Orient und Okzident vor dem Hintergrund der sich wandelnden politisch-ökonomischen Verhältnisse aufzuzeigen.

MICHAEL ALRAM (Wien) widmete sich der kulturtragenden Rolle, die das Königreich der Sassaniden in Persien (224-651) bei der Etablierung politischer und ökonomischer Netzwerke spielte, welche die verschiedenen Teile Asiens bereits im frühen und hohen Mittelalter miteinander verbanden. Die Entstehung der Seidenstraßen als Regionen übergreifende Handelswege, die von China bis an das Mittelmeer reichten, bildete eine wesentliche Voraussetzung für den Import von Seidenstoffen nach Europa, der bereits in merowingischer und karolingischer Zeit nachweisbar ist.

Im Zentrum von REGULA SCHORTAS (Riggisberg) Vortrag stand eine Gruppe von Samiten des 8. bis 10. Jahrhunderts, welche in den ältesten europäischen Kirchenschätzen, darunter die Sancta Sanctorum in Rom, Aachen, Sens, Lüttich, Huy und Jouarre erhalten geblieben ist. Technische Besonderheiten und Charakteristika des Dekors verweisen Schorta zufolge auf eine Entstehung dieser Gewebe in Zentralasien oder Tibet, am wahrscheinlichsten aber in Dulan (China), das sich im 8. und 9. Jahrhundert unter tibetischer Herrschaft befand. Ungeklärt bleibt die ursprüngliche Bestimmung dieser im Westen als Grabtücher und Reliquienhüllen zweitverwendeten Seiden, für die sich einige wenige Pendants in östlichen Gräbern erhalten haben. Die Samite sind wertvolle Belege für die weitgespannten Kontakte, durch die Europa und Asien bereits in der Zeit vor der Jahrtausendwende miteinander vernetzt waren.

DAVID JACOBY (Jerusalem) beleuchtete wirtschaftsgeschichtliche Hintergründe für den in den 1260er-Jahren beginnenden systematischen Import von Prachttextilien aus der Mongolei nach Europa, welche in westlichen Quellen als tartarisch („panni tartarici“) bezeichnet werden. Zahllose erhaltene Beispiele in westlichen Kirchenschätzen lassen die Größenordnung der einst gehandelten und nachgefragten Stoffbestände erahnen. Jacoby zeigte, dass das traditionelle Konstrukt der „Seidenstraße“ nicht ausreicht, um zu erklären, wie diese chinesisches, zentralasiatisches und islamisches Formengut vereinigenden Stoffe in ihre Zielorte von Italien bis nach Skandinavien gelangten.

Ein besonderes Anliegen der Tagung war es, den im Westen (zweit-)verarbeiteten Textilien orientalischer Herkunft einige wenige gegenüberzustellen, die sich aus östlichen Zusammenhängen erhalten haben. CAROLINE VOGT (Riggisberg) präsentierte ein solches, 2008 durch die Abegg-Stiftung angekauftes und restauriertes Einzelobjekt aus textilkonservatorischer Perspektive. Es handelt sich um ein aus einer mit Riemchengold durchwebten und mit Phönixen sowie Palmettenmotiven gemusterten Seide hergestelltes Prachtgewand für den profanen Gebrauch. Während das Motivrepertoire des Gewebes auf das China der Yuan-Dynastie (1279-1368) verweist, legen Charakteristika des Gewandschnitts eine Weiterverarbeitung des Stoffes im westlichen Teil des Mongolischen Reiches nahe.

Demgegenüber stellt die durch NICOLE CARTIER (Mont-St.-Éloi) präsentierte Kasel von Maubeuge den sehr seltenen wie glücklichen Einzelfall dar, in welchem ein erhaltenes Objekt mit überlieferten Schriftquellen in Zusammenhang gebracht werden kann, welche nicht nur seine funktionale Anverwandlung im Westen, sondern auch seine orientalische Herkunft und seinen Weg nach Europa dokumentieren. Die Kasel von Maubeuge ist aus einem Prachtstoff gearbeitet, der als diplomatisches Geschenk des mongolischen Khans an König Ludwig IX. von Frankreich (reg. 1226-1270) in den Westen gelangte und über weitere Schenkungsvorgänge das Kanonissenstift Sainte-Aldegonde in Maubeuge erreichte.

Die Vorträge von MARKUS RITTER (Zürich), JULIANE VON FIRCKS (Mainz) und BIRGITT BORKOPP-RESTLE (Bern) behandelten Aneignungsprozesse von aus dem Mongolischen Großreich stammenden Streifenbrokaten mit arabischen Inschriften im Westen.

RITTER zeigte am Beispiel eines zu Beginn des 14. Jahrhunderts im persischen Raum unter der Herrschaft der mongolischen Ilkhane hergestellten Seidenstoffes, dessen Inschrift den ilkhanidischen Herrscher Abu Sa’id (reg. 1316-35) nennt und der in Europa als Grabornat für Herzog Rudolf IV. von Habsburg (reg. 1358-65) umgenutzt wurde, dass die Zweitverwendung und die an sie geknüpfte Deutung von Geweben orientalischer Herkunft im Westen der ursprünglichen Funktion dieser Objekte diametral entgegenstehen kann. In diesem Fall wurde aus einem Repräsentationsobjekt eines iranischen Herrschers eine maßgeschneiderte, auf Ewigkeit angelegte Totenhülle.

JULIANE VON FIRCKS besprach die sogenannten Heinrichsgewänder in der Alten Kapelle in Regensburg. Technische und motivische Merkmale der Gewebe verweisen nach Zentralasien, während in den Inschriften ein Meister Abd‘ al Aziz aus Bagdad genannt wird. Wie bei dem von CAROLINE VOGT präsentierten Gewand der Abegg-Stiftung wird hier mutmaßlich ein aus dem persischen Raum stammender, wohl im Zuge der mongolischen Zwangsumsiedlungen nach Osten transferierter Weber mit seiner Werkstatt greifbar, der ein mit westlichen und östlichen Elementen durchsetztes, hybrides Motivrepertoire entwickelte. Die Gewebe gelangten vermutlich als Handelsgut nach Regensburg, wo sie zu zwei liturgischen Ornaten geschneidert und der Alten Kapelle gestiftet wurden. Ausgehend von dieser Zweitverwendung im Kontext christlicher Liturgie wurden sie im Laufe des 15. Jahrhunderts als materielle Hinterlassenschaften des in Regensburg hoch verehrten heiligen Kaiserpaares Heinrich II. und Kunigunde gedeutet und gelangten somit in den Status von Sekundärreliquien.

BORKOPP-RESTLE untersuchte die Wahrnehmung und Deutung der als liturgische Gewänder zweitverwendeten mongolischen Streifenbrokate der Danziger Marienkirche. Die heute auf Danzig (Gdansk), Lübeck und Nürnberg verstreuten Paramente werden durch eine sorgfältige Verarbeitung der insgesamt sieben Streifenbrokate charakterisiert, die auf ein homogenes und symmetrisches visuelles Erscheinungsbild ausgerichtet ist, wobei zum Teil mit Seiden anderer Musterung und Provenienz kombiniert werden musste. Das fremde Erscheinungsbild der orientalischen Gewebe wurde folglich europäischen Sehgewohnten entsprechend inszeniert. Hierzu konnten mit arabischen Inschriften versehene Teilstücke auch auf den Kopf gestellt werden. Hatten die Inschriften demzufolge in ihrer westlichen Zweitverwendung nur noch ornamentalen Wert, wurden sie dennoch klar als „arabisch“ und damit als nicht christliches Element wahrgenommen.

ISABELLE DOLEZALEK (Berlin) ging am Beispiel der normannischen Herrscher Siziliens dem Transfer arabischer Inschriften in die Hofkultur des lateinischen Westens nach. Durch einen Vergleich der kufischen Inschriften auf den für die Normannenkönige Roger II. und Wilhelm II. hergestellten Gewändern (Teile des späteren Krönungsornats des Reiches, heute in Wien) mit Inschriften auf sog. tiraz-Textilien der fatimidischen Kultur Ägyptens konnte sie bisherige Interpretationsansätze der Forschung ergänzen. So sind die Inschriften auf den normannischen Gewändern weder als Zeichen christlichen Triumphes über die islamische Religion zu verstehen noch als eine rein ornamentale, für den Mittelmeerraum charakteristische höfische Formensprache. Die politisch-repräsentative Funktion der fatimidischen Objekte wurde durch die Normannen adaptiert, aber darüber hinaus an ihre eigenen Bedürfnisse angepasst. Dadurch wurden die Inschriften zu konstitutiven Elementen einer eigenständigen Formensprache normannischer Herrschaftsrepräsentation.

KRISTIN BÖSE (Köln) präsentierte aus muslimischer Produktion der iberischen Halbinsel stammende Textilien aus den kastilischen Königsgräbern des Zisterzienserinnenklosters S. Maria de las Huelgas in Burgos. Insbesondere ging sie dabei auf die Gewebe des Grabes des Infanten Fernando de la Cerdas (1256-75) ein, deren Formenrepertoire persische, islamische und christliche Motive miteinander vermengt. Schriftquellen aus dem Umfeld des kastilischen Hofes geben Aufschluss über die zeitgenössische Wahrnehmung der Stoffe und ihren bewussten Einsatz als Medien der Herrschaftsrepräsentation. Mit Hilfe einer spezifisch durch das kastilische Königshaus geprägten Formen- und Materialsprache bringen die Textilien dessen Anspruch auf Vorherrschaft innerhalb der iberischen Halbinsel zum Ausdruck.

Das Wechselverhältnis der Transferprozesse zwischen Orient und Okzident bildete einen Schwerpunkt der Tagung, wobei insbesondere das Phänomen der Rückwirkung westlicher Entwicklungen auf den Osten untersucht wurde.

Am Beispiel der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzenden europäischen Samtweberei zeigte MICHAEL PETER (Riggisberg), dass die europäische Seidenproduktion nicht als linear verlaufender Übernahmeprozess östlicher Techniken zu beschreiben ist. Obwohl im Lauf des 13. Jahrhunderts orientalische Samte nach Europa gelangten, ist die italienische Samtweberei zunächst als eigenständige Entwicklung anzusehen, was vor allem anhand der Unterschiede in Webtechnik und Webstuhlkonstruktion deutlich wird. Erst die gegen Ende des 14. Jahrhunderts im Westen eingeführten Samtwebstühle nach östlichem Vorbild bildeten die Grundlage einer rasch wachsenden europäischen Samtproduktion, die schon bald die der orientalischen Samte in technischer wie künstlerischer Hinsicht übertraf. Bezeichnend für diese Entwicklung ist die Tatsache, dass die frühesten osmanischen Samte des 15. Jahrhunderts sich technisch wie motivisch an italienischen Vorbildern orientieren.

Der Austausch hochwertiger Seidengewebe und -kleider bildete einen integralen Bestandteil der venezianisch-türkischen Diplomatie des 15. und 16. Jahrhunderts. LISA MONNAS (London) sprach über osmanische Seidengewebe, die im Zuge diplomatischer Kontakte ab 1453 als Geschenke nach Venedig gelangten und zum Teil in der christlichen Liturgie zweitverwendet wurden.

LOUISE MACKIES (Cleveland) Vortrag war dagegen der Bedeutung italienischer Seidengewebe am Osmanischen Hof des 15. und 16. Jahrhunderts gewidmet. Der größte Teil der im Topkapi Palace Museum Istanbuls überlieferten Kaftane osmanischer Sultane besteht aus italienischen Samten und Damasten, welche osmanische Muster imitieren. Die Adaptionen reichen von strengen Kopien bis zu freien Übernahmen. Demgegenüber rezipierte die türkische Samtindustrie zeitgleich Dekorationstypen italienischer Samtgewebe. Aufgrund dieses Wechselverhältnisses der Motivsprache ist die Scheidung von italienischen und osmanischen Samten der Zeit nur anhand technischer Kriterien möglich.

Erhaltene Schriftquellen wie Inventare stellen wertvolle Zeugnisse für die Wahrnehmung und Deutung östlicher Gewebe in westlichen Nutzungskontexten des späten Mittelalters dar. Zwei Vorträge widmeten sich dem Wechselverhältnis zwischen der materiellen und der schriftlichen Überlieferung und damit einhergehenden methodischen Problemen.

MARIA LUDOVICA ROSATI (Florenz) beleuchtete anhand der aus Schenkungen Papst Benedikts XI. (1303-1304) stammenden Paramente in S. Domenico (Perugia) die Wahrnehmung und Rezeption von Geweben orientalischer Provenienz im Italien des Trecento. Der Beschreibungsmodus der „panni tartarici“ und des „opus tartaricum“ in den päpstlichen Schatzinventaren um 1300 spiegelt die hohe zeitgenössische Wertschätzung des Materials und seiner Verarbeitung. Von besonderem Interesse im Kontext päpstlicher Repräsentation ist die Zusammensetzung zahlreicher päpstlicher Paramente dieser Zeit aus Geweben verschiedener Provenienz – der Kompositcharakter dieser liturgischen Textilien machte sie gleichsam zu „Sammlungen“, welche das politische Beziehungsnetz des Papsttums der Zeit widerspiegelten.

EVELIN WETTERs (Riggisberg/Leipzig) Vortrag machte deutlich, dass Gewebebezeichnungen und Provenienzangaben in spätmittelalterlichen Inventaren orts-, zeit- und kontextgebunden sind, da keine allgemein akzeptierte und universalgültige Terminologie existierte. Wetter stellte die materielle und schriftliche Überlieferung der Textilbestände des Prager Veitsdoms einander gegenüber, d.h. die erhaltenen Gewebe aus den Gräbern der böhmischen Könige im Veitsdom und deren Benennung in zeitgenössischen Inventaren von 1354 bis 1387. Für Gewebe östlicher Herkunft verwendeten die Inventarschreiber zwei Bezeichnungen, nämlich „naseto“/„nachone“ und „pannus tartaricus“. Bei letzteren scheint es sich um großformatige, gemusterte Textilien zu handeln, die bei bedeutenden liturgischen Anlässen einen „in medio ecclesiae“ genannten, unmittelbar vor dem Sanktuarium befindlichen Ort der romanischen Kathedrale St. Vitus auszeichneten. Mit dem gotischen Neubau des Domes ab 1344 büßten sie ihre Nutzung ein.

Die Rezeption östlicher Stoffe und ihrer Herkunftsregionen in nicht textilen Medien des Westens wurde in den beiden folgenden Vorträgen behandelt. ANNA BÜCHELER (Toronto) sprach über die sog. „Textilseiten“ in mittelalterlichen Handschriften aus der Zeit von 800 bis 1200. Die Textilseiten sind laut Bücheler weder als reine Imitation von Textilien noch als reines Ornament anzusehen, sondern resultieren aus einem kreativen, inhaltlich motivierten Adaptionsprozess an das Medium Buch und das Material Pergament, aus dem etwas Neues hervorgeht.

FELICITAS SCHMIEDER (Hagen) untersuchte in ihrem Vortrag vormoderne Weltkarten („mappae mundi“) als ein spezifisch westliches Rezeptionsmedium des Orients. Anhand der katalanischen und der genuesischen Tradition der Portolane zeigte sie die westliche Wahrnehmung „fremder“, nicht europäischer Regionen auf. Zur stereotypen Darstellungsweise der Mongolen gehörten neben spezifischen physiognomischen Merkmalen wie Spitzbart und Krummnase auch kostbare Seidengewänder.

Einige wichtige Ergebnisse der Tagung seien an dieser Stelle stichpunktartig zusammengefasst:

1. Im Hinblick auf die (Handels-) Wege der östlichen Stoffe in den Westen wurde deutlich, dass die Seidenstraße(n) ein die Realität stark vereinfachendes und verzerrendes Konstrukt darstellen. Sie resultieren aus einer schematisierten und vereinfachten Perspektive des Handels mit Seidengeweben zwischen Ost und West. Stattdessen ist von kontinuierlichen Veränderungen der Handelsbedingungen und –weisen auszugehen, die neben Kontinuitäten auch Brüche aufweisen.

2. Die mit der Verbreitung orientalischer Luxusstoffe im Westen einhergehenden Transferprozesse sind nicht im Sinne des in der älteren Kunstgeschichte häufig gebrauchten Terminus des „Einflusses“2 als ein einseitig von Osten nach Westen ausgerichtetes Phänomen zu sehen, sondern als komplexer, wechselseitig wirksamer Vorgang, der fortwährende Vernetzungs- und Übersetzungsprozesse beinhaltet. Insofern kann nicht von der Dominanz einer aktiven über eine passive Kultur gesprochen werden. Viele Fallbeispiele zeigten stattdessen aktive und kreative Formen der Aneignung und Rezeption, für welche die (Neu-) Schaffung eigenständiger Formsprachen charakteristisch ist. Die Tagung gab überdies zahlreiche Einblicke in gegenläufige, von Westen nach Osten verlaufende Rezeptionsprozesse.

3. Der Bedeutungswandel von Objekten in ihrer funktionalen „long durée“ ist an Textilien, die von einem kulturellen Kontext in einen anderen wandern, besonders gut sichtbar. Die aus den Ent- und Neukontextualisierungsprozessen resultierenden Umdeutungen östlicher Gewebe in ihrer westlichen Zweitverwendung wurden auf der Tagung anhand zahlreicher Fallbeispiele in ihrer ganzen Vielfalt vorgeführt. Während die westliche Umnutzung in vielen Beispielen schriftlich dokumentiert ist, ist die Bestimmung ihrer östlichen Herkunft meist nur anhand der stilkritischen Verortung der Gewebe möglich. Gerade aufgrund des Mangels an schriftlicher Quellenüberlieferung, insbesondere für das frühe und hohe Mittelalter, ist die textilwissenschaftliche Bestandsaufnahme der Objekte als Ergänzung des quellenbasierten historischen Arbeitens unabdingbar. Trotz des fragmentarischen Charakters der Überlieferung entsteht in dieser Zusammenschau ein erstaunlich detailliertes Bild von der Deutung, Verwendung und Wahrnehmung orientalischer Luxusgewebe im westlichen Mittelalter.

Konferenzübersicht:

Juliane von Fircks, Introduction

Michael Alram, The Political and Economic Impact of Sasanid Persia along the Silk Road

Regula Schorta, Central Asian Silks in East and West in the Second Half of the First Millenium

Anna Bücheler, Textile Material – Textile Meaning: Silk-inspired Pages in Medieval German Manuscripts

Jaroslav Folda, Chrysography on the Drapery of the Virgin: Icon to Altarpiece in the Thirteenth Century

Isabelle Dolezalek, Ornament between East and West: Same Form – Same Function? A Comparative Study of Arabic Writing on Textiles from Norman Sicily and Fatimid Egypt

Irena Vladimirsky, Indian Guests at the Court of the Moscow Tsar, the Community of Indian Merchants in Astrakhan from the Ninth to the Sixteenth Century

David Jacoby, Oriental Silks at the Time of the Mongols: Patterns of trade and distribution in the West

Joyce Denney, Elite Mongol Dress of the Thirteenth to Fourteenth Century, Focusing on China and Gold-Woven Textiles

Caroline Vogt, Across the Mongol Empire: A Cloth-of-Gold Garment in the Abegg-Stiftung Collection

Felicitas Schmieder, Western Images of the Mongols. Observations on Clothing of Foreign Peoples on Medieval World Maps

Nicole Cartier, The Chasuble of Sainte Aldegonde du Chapitre de Maubeuge

Kristin Böse, Beyond Foreignness – Andalusian Textiles from the Castilian Royal Tombs in Santa María de las Huelgas/Burgos

Lisa Monnas, Textiles and Diplomacy: Ottoman Silks Entering Venice as Diplomatic Gifts in the Fifteenth and Sixteenth Centuries

Maria Ludovica Rosati, The So-Called Vestments of Benedict XI in Perugia as Examples of “planeta de panno tartarico albo deaurato de opera curioso minuto por totum”. The Fourteenth-Century Perception of Oriental Textiles in Vatican Inventories and Material Evidence

Katja Schmitz-von Ledebur, “Eyn ander Braun Rok mit swarczen Adelarn” – Reflections on the Eagle Dalmatic of the Coronation Robes of the Holy Roman Empire and its Chinese Silk Damask

Evelin Wetter, “De panno tartarico” or “de nachone”? The Perception of Oriental Silks at the Court of the Bohemian Kings during the Fourteenth Century

Markus Ritter, Changing Iconographies: The Royal Cloth-of-Silk-and-Gold for Sultan Abu Said from Iran in the Burial of Duke Rudolph IV from Austria

Juliane von Fircks, Liturgical Vestments Made of Silks from Asia Venerated as Relics of the Emperor: The So-Called Heinrichsgewänder in the Alte Kapelle in Regensburg

Birgitt Borkopp-Restle, Striped Golden Brocades with Arabic Inscriptions in the Textile Treasure of St. Mary’s Church in Gdańsk

Michael Peter, A Head Start through Technology: Early Oriental Velvets and the West

Louise Mackie, Italian Textiles: Supply, Demand and Ottoman Sultans

Anmerkungen:

1 Zum Akkulturationskonzept und der Frage seiner Anwendbarkeit in der heutigen Mittelalterforschung vgl. Thomas Ertl, Mongolen in Brokat. Das Akkulturationskonzept als Herausforderung für die Mittelalterforschung (im Druck). Zur Übersetzung vgl. Doris Bachmann-Medick, Translational Turn, in: Dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg ²2007, S. 238-283. Zur „Histoire croisée“ vgl. Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607-636. Erprobt und angewendet wird dieses methodische Instrumentarium derzeit in der DFG-Forschungsgruppe „Transkulturelle Verhandlungsräume von Kunst“ an der Freien Universität Berlin, im Exzellenzcluster „Asia and Europe in a global context“ der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und in den dem Themenbereich „Bild, Ding, Kunst. Forschungen zur Kunstgeschichte Italiens und des Mittelmeerraums (4.-16. Jahrhundert)“ gewidmeten Forschungsprojekten Prof. Dr. Gerhard Wolfs am Kunsthistorischen Institut in Florenz (Max-Planck-Institut).
2 Vgl. Michael Baxandall, Excursus against influence, in: Ders., Patterns of Intention. On the Historical Explanation of Pictures, New Haven/London 1985, S. 58-62.


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