Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption

Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption

Organisatoren
Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald; Professur für Regionalgeschichte, Historisches Seminar / Germanistisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Ort
Greifswald
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.04.2013 - 13.04.2013
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Von
Sebastian Holtzhauer, Germanistisches Seminar, Christian-Albrechts-Universiät zu Kiel

Im Mittelpunkt der Tagung „Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption“, die von OLIVER AUGE (Kiel) und CHRISTIANE WITTHÖFT (Kiel) organisiert wurde, stand die Frage nach der vermeintlichen „Ambiguitätsferne“ der Vormoderne, wie sie vor allem auch dem Mittelalter mitunter von der modernen Forschung attestiert wird. Die Referenten und Referentinnen waren daher aufgefordert, zum einen den nicht immer eindeutig verwendeten Begriff der „Ambiguität“ aus dem Blickwinkel unterschiedlichster geisteswissenschaftlicher Disziplinen und Fachbereiche definitorisch zu schärfen, und zum anderen eine allzu rigide Tendenz der Forschung aufzuweichen, die eine teleologische Entwicklung zwischen Vormoderne und Moderne postuliert. Zum Auftakt der Tagung wurde ein kurzer Abriss der Ambiguitätsforschung in den Literatur- und Kunstwissenschaften als Kontextualisierung des Tagungskonzeptes in der heutigen Forschungslandschaft geboten. Oliver Auge betonte, dass die „Ambiguität“ von mittelalterlichen Phänomenen vor allem aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive bisher kaum beleuchtet worden sei, wobei er das Konzept von Krankheit als geistlicher Medizin dem von Krankheit als Auszeichnung von Sünde beispielhaft gegenüberstellte. Christiane Witthöft veranschaulichte exemplarisch, wie sich die mittelalterliche Literatur sowohl von der Produktions- als auch von der Rezeptionsseite aus Disambiguierungsbestrebungen immer wieder bewusst entzieht. Erzählt werde oftmals in (Sinn)Bildern, Allegorien und Personifikationen, die Gegensätze in sich vereinigten, welche zugleich gültig seien.

Die Tagung wurde im Folgenden vom diesjährigen Leibniz-Preisträger und Islamwissenschaftler THOMAS BAUER (Münster) eröffnet, der sich bei seinen jüngsten mentalitäts- und kulturgeschichtlich ausgerichteten Forschungsarbeiten der Ambiguität und dem Islam widmete.1 Sein Beitrag konnte aufzeigen, dass man sich in der klassischen arabischen Rhetoriktheorie – im Gegensatz zur europäischen – sehr differenziert mit der Ambiguität als Stilmittel auseinandersetzte. Das positive Bild, das man von der Ambiguität hatte, führte spätestens seit dem 11. Jahrhundert dazu, dass die „arabische Rhetorik Freude am Umgang, an der Rezeption, aber auch an der Erzeugung von Ambiguität zeigt“ (Bauer). Durch ihre Funktionalisierung als Mittel zur „Prüfung der Intelligenz und der religiösen Glaubensfähigkeit“ (Bauer) habe sie einen wichtigen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft eingenommen. CHRISTEL MEIER-STAUBACH (Münster) knüpfte mit ihrem Vortrag nahtlos an den Ansatz von Thomas Bauer an, indem sie für das christlich-jüdische Abendland die Tradition einer Ambiguitätstoleranz aufzeigte, die so in der einschlägigen Forschungsliteratur bisher kaum zu finden ist. Gerade in Hinblick auf die theologische Diskussion um Bibeltextvarianten im Übergang von der Spätantike zum Frühen Mittelalter könne man immer wieder Positionierungen von bedeutenden Kirchenvertretern nachweisen, die sich für eine gottgegebene im Bibeltext angelegte Mehrdeutigkeit (Lehre vom mehrfachen Schriftsinn) aussprachen. Ambiguität sei als Potential aufgefasst worden, das Denken der Exegeten wie Poeten dieser Epoche eben gerade nicht „vereindeutigend“ oder gar normativ gewesen. Trotzdem habe es neben der Offenheit und Toleranz anderen Meinungen gegenüber durchaus Strategien zur „Ambiguitätsbändigung“ gegeben. Den Drang zur Vereinheitlichung vor allem der Bibelexegese sowie der Liturgie und des Kults in der Kirche stellte Christel Meier-Staubach hingegen als Phänomen der Frühen Neuzeit, insbesondere des 16. Jahrhunderts, heraus.

Zu Beginn der historischen Sektion betrachtete GERD ALTHOFF (Münster) das Phänomen der kulturellen Ambiguität aus einer dezidiert geschichtswissenschaftlichen Perspektive, wobei er an die neueren Diskussionen zu den Praktiken mittelalterlicher Gesellschaften anknüpfte, um die Frage nach der (bezweckten?) Ein- oder Mehrdeutigkeit der Aussagen damaliger Rituale zu klären. Seine Antwort beinhaltete eine durchweg positive Bewertung von Ambiguität: Ihre Stärke sei es, dass sie in einer ehrbewussten Gesellschaft ohne staatliches Gewaltmonopol ein labiles Gleichgewicht möglich machte, indem sie in bestimmten Konfliktsituationen geholfen habe, das Gesicht der Beteiligten zu wahren. Auf unterschiedlichen Feldern der Kommunikation der mittelalterlichen Eliten zeigte Gerd Althoff die bewusst angelegte Komplexität und Ambiguität vieler Rituale auf. So barg beispielsweise das Vorantragen des königlichen Schwertes vor diesem für den Träger das Sinnpotential von Ehre, konnte aber auch als Disziplinierungsmaßnahme ausgelegt werden. In diesem Sinne wurde Ambiguität in den Ritualen nicht nur klar akzeptiert, sie war sogar das „Mittel erster Wahl“ (Althoff) in politischen (Ver-)Handlungen, bevor man eindeutige und damit potentiell eher offensiv-aggressive Formulierungen wählte. Ähnlich wie in den theologischen Diskursen und exegetischen Texten des Mittelalters (vgl. Christel Meier-Staubach) habe man auch in den Ritualen schließlich Strategien zur Disambiguierung finden müssen, da die Ambiguität – als kommunikative Technik eingesetzt – mit zunehmender Komplexität defizitär geworden sei und somit ihre ursprüngliche Funktion verfehlt habe.

Die genuin desambiguierende Funktion von gerichtlichem Zweikampf und Ordal im Mittelalter hingegen untersuchte UWE ISRAEL (Dresden) in seinem Tagungsbeitrag. Auch diese bezweckten, wie die von Gerd Althoff untersuchten Phänomene, die Vermeidung von Fehde und Krieg, bargen also ein genuin Konflikt vermeidendes Potential in sich. Dabei sahen sich diese im Detail durchaus divergenten Methoden der Wahrheitsfindung im Laufe der Zeit immer mehr der Kritik vor allem von Seiten der Kirche ausgesetzt. Verantwortlich dafür war, neben einer als „ungebührliche temptatio Dei“ (Israel) betrachteten Auffassung vom Ordal, ein zu großer Interpretationsspielraum bei den einseitigen Element-Ordalien, welche eine eindeutige und einvernehmliche Entscheidungsfindung nicht immer ermöglichten. Ähnliches galt für Entscheidungen im gerichtlich angeordneten Zweikampf, die sich im Nachhinein als unwahr erwiesen, womit ein ursprünglich beabsichtigter Rechtsfrieden in vielen Fällen nicht hergestellt werden konnte. Aus der Vielzahl der zeitgenössischen – befürwortenden wie ablehnenden – Stimmen konnte Uwe Israel in der Sache zwar keine „Sehnsucht nach Eindeutigkeit“, sehr wohl aber eine „Sehnsucht nach Frieden und Ausgleich“ heraushören, so das Fazit.

Einen Übergang zu den literaturwissenschaftlichen Beiträgen schuf MARINA MÜNKLER (Dresden), die sich – in Anknüpfung an ihre Habilitationsschrift 2 – ganz grundsätzlich mit dem Begriff der „Ambiguität“ auseinandersetzte, der aus wissenschaftlicher Sicht immer wieder selbst ambige Konnotationen erfahre.3 Über die Ausdifferenzierung des Ambiguitätsbegriffs aus linguistischer Sicht (lexikalische, semantische, syntaktische Ambiguität) kam sie auf die Beziehung von Ambiguität und körpersprachlich gebundener Performanz zu sprechen (vgl. Althoff). Anhand dieser und anderer, narrativer Spielarten von Ambiguität führte sie anhand von Wolframs von Eschenbach „Parzival“ einen literaturwissenschaftlich fundierten Gegenbeweis für die oftmals postulierte „Ambiguitätsferne“ des Mittelalters. Zudem plädierte Marina Münkler für die Einführung einer Kategorie der „kontra-intentionalen narrativen Ambiguität“, die sie als grundlegendes Merkmal von literarischen (vor allem poetischen) Texten herausarbeitete, denn selbst „Kommentare und Paratexte können aufgrund der Komplexität der Narration und multiplen Perspektiven nicht immer Eindeutigkeit schaffen“ (Münkler).

Ein bewusstes Spiel mit Ambivalenzen entfalten auch die mittelalterlichen Erzählungen um Alexander den Großen, wie MONIKA UNZEITIG (Greifswald) betonte; und zwar über die Kategorien „Wunder“ und „Wahrheit“. Dabei zeigte sie die narrativ äußerst komplexe Konstruktion von „Wunder als Sinnüberschuss“ und „Wahrheit als Sinndeutung“ – also als Verfahren der Disambiguierung – auf. Diese seien vor allem in der Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts stets von „Formen reflektierenden Erzählens“ begleitet worden. Eine weitere narrative Kategorie, die des „Wilden“, beleuchtete BRUNO QUAST (Münster) im „Fortunatus“. Den lexikalischen Markierungen von Wildheit folgend konnte Bruno Quast herausstellen, dass der Roman in einem die Perspektive wechselnden Dreierschritt das ambivalente Verhältnis von Wildheit bzw. Verwilderung und gesellschaftlichem Auf- und Abstieg verhandelt. So sorgt Wildheit als Naturanlage im „Fortunatus“ einerseits durch finanzielle Verausgabung für den sozialen Abstieg (Theodorus), andererseits in Verbindung mit ökonomischem Streben, das vor Mord- und Totschlag nicht zurückschreckt, für Reichtum und damit sozialen Aufstieg (Fortunatus). Den Spuren dieses zeitgenössischen Diskurses folgte Bruno Quast auch bis in die Kunstgeschichte hinein, indem er ein Gemälde Dürers, auf dem dieser den wohlhabenden Patrizier Oswolt Krel porträtierte, auf sein „polyfokales Verhältnis“ zur Wildheit hin analysierte.

Das Verhältnis von Ambiguität bzw. Ambivalenz und epistemischen Ordnungen analysierte MICHAEL WALTENBERGER (Frankfurt am Main) anhand volkssprachlicher Tierepik, wobei er seinen Fokus auf den „Tierteil“ im „Buch der Wunder“ des Raimundus Lullus legte. Abgesehen davon, dass man es hier mit einer äußerst komplexen Verschachtelung von Erzählebenen zu tun habe, welche Mehrdeutigkeiten erzeuge, seien die Tierfiguren selbst oftmals zweideutig angelegt – allen voran der Löwe, welcher hier der Tradition folgend einerseits zur Herrschaftssicherung und Machtstabilisierung prädestiniert auftritt, andererseits durch seine Willkür und seinen Eigennutz als moralisch äußerst fragwürdig gezeichnet wird. Michael Waltenberger machte deutlich, dass moralische und juridische Diskurse durch die Eigenheiten der Tierepik besser verhandelbar werden. Die Tierepik kann Inkonsistenzen, Ambiguitäten und Ambivalenzen der Realpolitik auf literarische Art und Weise auserzählen, vermag sie also narrativ und diskursiv zu bewältigen.

Ein weiterer literaturwissenschaftlicher Beitrag von UDO FRIEDRICH (Köln) setzte sich unter Bezugnahme auf den Abendvortrag von Thomas Bauer aus der Sicht des Abendlandes mit Aspekten der Referenz und der Ambiguität in rhetorischen sowie anderen Texten des Mittelalters auseinander. Im Zentrum seiner Ausführungen stand dabei die Metapher, die oftmals, quasi unentscheidbar, zwischen Ähnlichkeits- und Analogiebeziehungen changiere. Literarisch nutzbar gemacht wurde sie stets in Grenzziehungsdiskursen zwischen Natur und Kultur, zum Beispiel in Form von Körpermetaphern (so ist Dietrich von Bern im „Eckenlied“ als ambige bzw. ambivalente Figur ausgestaltet: auf der einen Seite mit höfischer consuetudo, auf der anderen Seite mit animalischem Affekt).

An ihr derzeitiges Projekt „Zwischen Fürstendienst und ritterlicher Selbstbehauptung. Heroismus als adlige Gruppenkultur im deutschen und französischen Spätmittelalter“ anschließend, welches Teil des SFB 948 („Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne“) ist, beleuchtete BIRGIT STUDT (Freiburg) spezifische dichotomische Modelle der Gesellschaft (Eintracht – Konflikt; Nähe – Ferne etc.), die sich mit dem Konzept der Ambiguität besonders gut erfassen ließen. Als ideales Vehikel für Ambiguität sieht sie den Helden als literarische Figur an, der sich als Projektionsfläche für die adelige Ritterjugend des 15. und 16. Jahrhunderts anbot. Am Beispiel der Biographie des Ritters Wilwolt von Schaumberg, zwischen 1510 und 1512 von Ludwig von Eyb dem Jüngeren verfasst, könne man erkennen, wie neben der topischen Tugendhaftigkeit Wilwolts auch Gewalt und Grausamkeit als Kehrseite des Helden narrativ dargeboten würden.

Mit einem kunstwissenschaftlichem Beitrag wiederum konnte auch das Medium des Bildes für die Fragen der Tagung berücksichtigt werden. Dass Bilder, gerade wenn sie räumlich entfaltet werden, kein „ikonischer Ersatz für eine textuelle Struktur“ sind, führte MATTHIAS MÜLLER (Mainz) dem Plenum anhand des Iwein-Zyklus auf Schloss Rodenegg vor. Im Gegensatz zu den in Handschriften überlieferten Bilderzyklen könne sich der Beobachter hier frei im Raum bewegen und die Szenen physisch nachempfinden. Matthias Müller zeigte anhand von Blickachsen im Raum angelegte dialogische Strukturen auf, die sich durch eine Gegenüberstellung der Ost- und Westwand bzw. der Nord- und Südwand ergäben. So stünde beispielsweise eine friedliche Einkehr am Hof (Ostwand) in Opposition zu einer gewalttätigen (Westwand), wodurch das höfisch-kritische Potential – in seiner literarischen Ausprägung bereits im „Iwein“ Hartmanns von Aue angelegt – in Form des Bilderzyklus räumlich vollends ausgeschöpft werde. Diese völlig neuartige Konzeption einer profanen Literaturverbildlichung verfolgte Matthias Müller dann auf mögliche Vorbilder zurück, wobei er die französische Glasmalerei ins Visier nahm, die in bestimmten zeitgenössischen Ausformungen ebenfalls oppositionelle Grunddispositionen, antithetische Strukturen oder Abfolgen antithetischer Narrativa – und damit auch eine inhaltlich dem Iwein-Zyklus auf Schloss Rodenegg vergleichbare Kritik – aufweist.4

Aus einer dezidiert philologischen Sicht betrachtete TIMO REUVEKAMP-FELBER (Kiel) das Thema der Tagung, indem er Polyvalenz und Offenheit als besondere Bedingungen von literarischen Texten, auch mittelalterlichen Texten gerade des 12. Jahrhunderts, ansieht. Im Fokus seines Interesses stand dabei der „Erec“ Hartmanns von Aue, dessen heterogen angelegte Sinnstrukturen in der Forschung bisher ignoriert worden seien, was sich in einer unzulänglichen Editionslage niederschlage. Die über 1500 Konjekturen sowie die Tilgung von mehr als 1000 Versen (sogenanntes „Mantelfragment“) entbehren seiner Meinung nach jeglicher handschriftlicher Grundlage des annähernd vollständig nur unikal (im sogenannten „Ambraser Heldenbuch“) überlieferten Textes. Sie sind vielmehr Ausdruck einer desambiguierenden Lesart „kritischer Zwischentöne“ (Reuvekamp-Felber) durch Philologen vor allem des 19. Jahrhunderts und seitdem ungebrochen tradiert worden. Timo Reuvekamp-Felber argumentierte weiter, dass das „Mantelfragment“ nicht als eigenständiger Text, sondern konzeptionell zusammen mit dem restlichen „Erec“-Textteil gedacht werden müsse. In dieser Form habe es wohl bereits um 1200 existiert, was eine Neuausgabe des „Erec“ rechtfertige.

Von einer bewusst eingesetzten und nicht auflösbaren Ambiguität ging LUDGER LIEB (Heidelberg) in seiner Untersuchung zum Begriff der „Minne“ in Minnereden und lyrischen Texten Hartmanns von Aue, Walthers von der Vogelweide sowie Friedrichs von Hausen aus. So sei beispielsweise Hartmanns „Minne“ in seinem 3. Kreuzzugslied (MF 218,5) ambig auf die Gottesliebe sowie auf die Liebe zwischen Mann und Frau hin lesbar und lehne sich in einigen Aspekten bereits an das moderne Ambiguitätsverständnis an. In Walthers von der Vogelweide „Saget mir ieman, waz ist minne?“ (L 69,1) werde im ersten Teil des Textes „eine Disambiguisierung qua Begriffsreflexion zum Zwecke der Minnewerbung“ (Lieb) versucht, nur um die „Minne“ in der letzten Strophe erneut als unhinterfragbare Instanz zu installieren. In dieser transzendenten Konzeption von „Minne“, die das Nachdenken über die Ambiguität der „Minne“ fördert, sieht Ludger Lieb denn auch den entscheidenden Unterschied zum modernen Ambiguitätsbegriff.

Der Beitrag der Geschichtswissenschaftlerin IVETTE NUCKEL (Bremen) ging von der ambigen Konnotation des Begriffs „Arbeit“ in der Genesis aus, zeigte in einem diachronen Abriss den Wandel des Begriffs von der Antike bis zum Spätmittelalter auf und konzentrierte sich dann auf unterschiedliche städtische Almosen- und Armenordnungen im Spätmittelalter. Diesen entnahm sie differenziert wertende Haltungen gegenüber der Armut sowie einen jeweils unterschiedlichen rechtspraktischen Umgang mit den Armen in dieser Epoche.

Dass nicht nur Heldenhaftigkeit (vgl. Studt), sondern auch Heiligkeit als literarisches Ambiguitätskonzept fungieren kann, arbeitete ANDREAS HAMMER (Köln) in seinem Beitrag heraus. Er begreift Heiligkeit – im Gegensatz zum Theologen Rudolf Otto – nicht als Distanz, sondern als Überbrückung von Distanz; ein Prinzip, das er anhand einiger hagiographischer Texte des Mittelalters plausibilisierte, in denen Heilige, insbesondere Märtyrer, bereits im Leben Teil an der religiösen Transzendenz gehabt hätten, obwohl sie der Welt noch (immanent) verhaftet gewesen seien. Dabei spielen Körperkonzepte eine tragende Rolle, etwa wenn Georgs transzendenter Auferstehungsleib in der „Georgslegende“ zugleich sein immanenter (menschlicher) Leib ist. In diesem Sinne könne man Heilige zwar nicht als „Gott-Menschen“, durchaus aber als „Ausnahme-Menschen“ verstehen (Hammer).

Während makrostrukturelle Aspekte, wie die Auswirkungen des „Tierteils“ auf die genuin enzyklopädische Struktur des „Buches der Wunder“, im Beitrag Michael Waltenbergers bereits angesprochen wurden, standen derartige Betrachtungen eines Werkkonzeptes bei MARKUS SCHÜRER (Dresden) im Zentrum des Interesses. Er stellte die strukturellen und inhaltlichen Ambiguitäten des unikal überlieferten Traktats „Adversus iudeos et gentes“ des Florentiner Renaissancehumanisten Gianozzo Manetti heraus. Der Titel sei nicht stimmig zum Gesamtkonzept des Werkes – ja nicht einmal zum 1. Buch, das inhaltlich hauptsächlich um die biblischen Israeliten kreist. Gianozzo Manetti positioniere sich für seine Zeit untypisch als Kritiker der paganen Kultur, beweise aber auf der anderen Seite durch seine Techniken der antiken Biographik gleichermaßen eine Affirmation der von ihm verneinten Kultur.

Die dem Mittelalter zumeist von der modernen Forschung attestierte „Ambiguitätsferne“ konnte durch religionsübergreifende, literaturwissenschaftliche, philologische und historisch differenzierte Zugriffe auf das Thema verneint werden. Ganz im Gegenteil herrschte im Europa und in der arabischen Welt der damaligen Zeit ein ausgeprägtes Bewusstsein und Gespür für die Spielformen von Mehrdeutigkeit vor. Die Referenten und Referentinnen suchten über unterschiedlichste Quellen (fiktionale und historiographische Texte, Rechtstexte, Urkunden und Fresken) den Zugang zu Konzepten der Ambiguität, Ambivalenz und Polyvalenz. Für alle an der Tagung beteiligten Fachbereiche kann konstatiert werden, dass der bereits in der Vergangenheit in Gang gekommene Dialog zur Ambiguität weiter vorangetrieben und auch fächerübergreifend der ein oder andere neue Impuls gesetzt wurde. Gängige Terminologien wurden dabei kritisch beleuchtet, semantisch ausdifferenziert und teils neu entwickelt, so dass die Tagung einen wesentlichen Beitrag zur aktuellen und zukünftigen Ambiguitäts- und Ambivalenzforschung leistete. Ein Tagungsband ist bereits in Planung und soll die gewonnenen Ergebnisse langfristig sichern.

Konferenzübersicht

Oliver Auge (Kiel) / Christiane Witthöft (Kiel): Zur Einführung: Phänomene der Ambiguität in der mittelalterlichen Kultur und Literatur

Thomas Bauer (Münster): Ambiguität in der klassischen arabischen Rhetoriktheorie

Christel Meier-Staubach (Münster): „unusquisque in suo sensu abundet“ (Röm 14,5). Ambiguitätstoleranz in der Theologie des lateinischen Westens?

Gerd Althoff (Münster): Ambiguität als Stärke und Schwäche einer ehrbewussten Gesellschaft: das Beispiel der hochmittelalterlichen Herrschaftsverbände

Uwe Israel (Dresden): Sehnsucht nach Eindeutigkeit? Zweikampf und Ordal im Mittelalter

Marina Münkler (Dresden): Formen und Aspekte narrativer Ambiguität in Wolframs von Eschenbach „Parzival“

Monika Unzeitig (Greifswald): Verfahren der Disambiguierung mehrdeutiger Reden und Ereignisse in der mittelalterlichen Literatur: die Nektanebus-Episode im Alexanderroman

Bruno Quast (Münster): Ambivalenzen des Wilden. Überlegungen zum Verhältnis von Anthropologie und Ökonomie im „Fortunatus“

Michael Waltenberger (Frankfurt am Main): Ambiguitäten und Ambivalenzen in volkssprachlicher Tierepik

Udo Friedrich (Köln): Referenz und Ambivalenz. Die Metapher im Mittelalter

Birgit Studt (Freiburg): Die Ambiguität des Helden im adligen Tugend- und Wertediskurs

Matthias Müller (Mainz): Artusritter im Zwiespalt: Die Ambiguität mittelalterlichen Heldentums als räumlich disponierte Bilderzählung und Argumentationsstruktur im Iwein-Zyklus auf Schloss Rodenegg

Timo Reuvekamp-Felber (Kiel): Polyvalenzen und Kulturkritik. Zur notwendigen Neuausgabe des „Erec“ Hartmanns von Aue

Ludger Lieb (Heidelberg): minne ist minne. Ambiguität eines fundamentalen Begriffs in Minnesang und Minnerede

Yvette Nuckel (Bremen): Bedeutungswandel des Begriffes „Arbeit“ in der Gesellschaft des Spätmittelalters

Andreas Hammer (Köln): Heiligkeit als Ambiguitätskonzept. Zur Konstruktion von Heiligkeit in der mittelalterlichen Literatur

Markus Schürer (Dresden): Biographik, Hagiographie, Apologie: Uneindeutigkeiten in Giannozzo Manettis Traktat „Adversus iudeos et gentes“

Oliver Auge (Kiel) / Christiane Witthöft (Kiel): Resümee zur Tagung

Anmerkungen:
1 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011.
2 Marina Münkler, Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts, Göttingen 2011.
3 Vgl. Matthias Bauer / Joachim Knape / Peter Koch / Susanne Winkler, Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 158 (2010), S. 7–75, hier S. 7.
4 Außerdem erläuterte Matthias Müller eine Beobachtung, die den bisherigen wissenschaftlichen Forschungen zum Iwein-Zyklus auf Schloss Rodenegg entgangen ist: Das reale Fenster im Raum ist in den Bilderzyklus integriert, stellt also eine intentionale Zusammenfügung von Architektur und Bildprogramm dar.


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