Verflochtene Vergangenheit. Geschichtscomics in Deutschland seit den 1950er Jahren

Verflochtene Vergangenheit. Geschichtscomics in Deutschland seit den 1950er Jahren

Organisatoren
Justus-Liebig-Universität Gießen; Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.04.2013 - 12.04.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Eva Maria Gajek, Historisches Institut, Fachjournalistik Geschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

Comics können Geschichte(n) erzählen, sie sind ein eigenständiges Medium der Erinnerungskultur. Dabei gelingt es ihnen nicht nur, Vorstellungswelten und historische Deutungen zu transportieren, sondern auch Erinnerungskulturen selbst zu thematisieren. Diesen Verflechtungen von Vergangenheit widmete sich der Workshop zu Geschichtscomics seit den 1950er-Jahren, der vom 11. bis zum 12. April in Zusammenarbeit mit der LMU an der JLU Gießen stattfand. Die Organisatorinnen SYLVIA KESPER-BIERMANN (München) und BETTINA SEVERIN-BARBOUTIE (Gießen) luden Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, aber auch Praktiker zu einem ersten Gespräch über Comics als historische Quelle ein. Das Ergebnis war eine anregende Diskussion, die unter anderem drei Potentiale des Comics als Mittel der Erinnerungskultur festhielt: Verflechtungen von Zeitlichkeit sowie Techniken der Visualität und Dramaturgie sind das Spezifische im historischen Erzählen des Comics.

Bereits in der Einleitung betonten die beiden Gastgeberinnen den Gedanken der Verflechtung: Sie verstehen Comics erstens als transkulturelle Medien, die mit der Gegenwart, in der sie entstehen, verflochten sind. Zweitens besitzen Comics verflochtene Distributionswege: Sie überschreiten Sprachgrenzen, sind von Transfers und Importen geprägt und leisten damit Übersetzungsprozesse. Drittens stellen Comics einen transnationalen Geschichtsraum her, in dem Erinnerung ausgehandelt wird. Anders als die objektive Geschichtsschreibung wählen Comics dabei einen zunehmend personalisierten Zugang: Die subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen von Akteuren stehen im Mittelpunkt des Erzählens. Es existieren deswegen oft widersprüchliche Deutungsangebote der Vergangenheit im Comic und verschiedene nationale Erinnerungen können aufeinandertreffen. Diesen verschiedenen Zugängen widmeten sich in den folgenden zwei Tagen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung fünf Vorträge und beleuchteten damit das Potential des Comics als historische Quelle.

Den Anfang machte KORNELIA LOBMEIER (Leipzig), die im Haus der Geschichte in Leipzig eine Ausstellung zum DDR-Comic „Mosaik“ im Jahre 2012 kuratierte. Lobmeier zeigte die enge Verflechtung mit dem Comiczeichner und Erfinder von Mosaik Johannes Hegenbarth auf, der seinen Lesern mit großen Geschichtsserien seit Ende der 1950er-Jahre Einblicke in ferne Länder gab. Wie Lobmeier herausstrich, legte Hegenbarth auf eine historische Detailtreue wert und ließ sich unter anderem aus den großen Disney-Kinoproduktionen aus dem Westen inspirieren. Hieran lassen sich nicht nur Transfers über Grenzen, sondern auch über Medientechniken hinweg ausmachen. Darüber hinaus zeigte Lobmeier einen doppelten Zugang im Umgang mit dem Geschichtscomic auf: Erstens bieten sich die geschichtlichen Darstellungen in „Mosaik“ zur Untersuchung an. Zweitens kann auf einer Metaebene, die Kontexte und politischen Rahmenbedingungen des Comics selbst zum Thema werden, um es als ein Stück „geteilte Erinnerung“ zu analysieren: Lobmeier kam zu dem Schluss, dass es sich bei „Mosaik“ um keinen sozialistischen Comic handelt, obwohl sich immer wieder Themen finden lassen, die auf eine bipolare Welt verweisen und somit die Botschaften zwischen den Zeilen sendeten.

JEANNETTE VAN LAAK (Gießen) konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Darstellung der Alltags- und Erfahrungsgeschichte im Comic „Drüben“. Das als Abschlussarbeit an der künstlerischen Hochschule in Hamburg entstandene Comic erschien zwanzig Jahre nach dem Mauerfall und belegt den individuell-biographischen Zugang zu Geschichte im Comic. „Drüben“ verflechte dabei verschiedene Zeitebenen, um die Geschichte von Dissidenz über verschiedene Generationen hinweg zu erzählen, so van Laak. Hieran zeigt sich nicht zuletzt die besondere Form des Erzählens im Comic. Das sequentierte Erzählen ermöglicht, eine spezifische Art von Zeitlichkeit: poliszenische Bilder können Entwicklungen von Figuren und Geschichte in einem einheitlichen Bildraum herstellen und spielen damit mit der Verflechtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Darstellungsform überlässt es dem Leser wie und wann er die einzelnen Sequenzen sieht und liest und fordert ihn gleichzeitig dazu auf, die Zwischenräume selber zu füllen: Denn nur die Verflechtung der Bilder stellt das historische Erzählen her.

Auch SUSANNE BRANDT (Düsseldorf) zeigte an dem Comic „Notre Mère la Guerre“ der Comiczeichner Kris und Mael die speziellen Erzähltechniken des Comics. Brandt, die in der Ausstellung „Tout le monde kaputt“ – Der Erste Weltkrieg im Comic 2012, eng mit den Zeichnern zusammengearbeitet hat, gab wertvolle Einblicke in den Entstehungsprozess von Comics: das bewusste Einsetzen von Text- und Bildebenen, die Orientierung an ikonenhaften Bildern und Fotos aus der Nachkriegszeit, der Austauschprozess mit Experten und dokumentarischen Techniken zeigen das comicspezifische Erzählen. Zudem betonte Brandt den bewussten Anspruch der Comiczeichner, nicht die Realität abbilden zu wollen, sondern Geschichte subjektiv zu erzählen. „Notre Mère la Guerre“, so Brandt, belegt zudem, dass eine nationale Erinnerung durch eine transkulturelle Erinnerungskultur ergänzt wird und bietet dadurch eine demokratische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg an: die Sinnlosigkeit des Krieges betreffe Sieger und Verlierer, dessen Versionen von Geschichte in „Notre Mère la Guerre“ alle ihre Berechtigung haben.

BARBARA EDER (Wien) stellte in ihrem Beitrag das persönliche Erzählen von Geschichte in den Migrations-Comics der 2000er-Jahre in den Vordergrund. Migrationsgeschichte, so Eder, wird bisher oft aus Sicht der Auffanggesellschaft geschrieben. Die Migrationscomics müssen deswegen als eine wichtige Quelle zur Erfahrungsgeschichte von Migranten verstanden werden, die ansonsten wenig Dokumente hinterlassen. Eder zeigte, dass gerade das Erzählen von dem „Davor“ wichtige Einblicke über Kindheit und Jugend der Migranten gibt. Auffällig sei zudem, dass weibliche Comiczeichnerinnen die Irancomics dominieren. Die Migration gebe erst die Freiheit zum Erzählen und ermögliche, eine Gegenposition zur unterdrückten Frau einzunehmen. Die Erzähler blicken somit des Öfteren im Rückblick auf das Herkunftsland und begegnen einem alten Ich. Solch eine Rückwende und Verflechtung von Zeitlichkeiten zeigte Eder an einzelnen Techniken der sequentierten oder simultanen Anordnung der Bilder.

Nach einem Überblick über die Entwicklung des Geschichtscomics benannte BERND DOELLE-WEINKAUFF (Frankfurt) schließlich in dem letzten Vortrag des Workshops vier Merkmale des historischen Erzählens (Retrospektivität, Selektivität, sequentielle Ordnung, Partialität) und teilte die historischen Comics in faktuale und fiktionale Gattungen ein. Für die verschiedenen Gattungen fächerte Doelle-Weinkauff eine Reihe an Beispielen auf. Wichtig, so Doelle-Weinkauff, sei nach der Intention des Comics zu fragen, historisch erzählen zu wollen. Doelle-Weinkauff problematisierte in seinem Vortrag damit auch die Definition von Geschichtscomic. Generell konstatierte er eine bisherige Ignoranz der historischen Forschung, Comic als Quelle zu nutzen. Die verschiedenen Beispiele zeigten aber, dass Comics nicht nur etwas über die Entstehungszeit aussagen, sondern auch über die Repräsentation und Deutung von Geschichte.

In den Diskussionen der Vorträge kamen größtenteils vier Punkte immer wieder zur Sprache: die Sinnhaftigkeit von Definitionen und Begriffsbestimmungen, das Verhältnis von Authentizität und Fiktionalität, die Vernetzung mit Experten bei der Recherche und der Umgang mit Zeitlichkeit. Abschließend lassen sich verschiedene lohnenswerte Untersuchungsperspektiven auf Geschichtscomics festhalten: Eine Untersuchung über Comics muss sich die Frage stellen, was eigentlich populäre Geschichtsschreibung sei und leisten muss und gleichzeitig beantworten, was das Spezifische des Comics im Kreis der populären Geschichtserzähler ist. Dabei kann erstens der Entstehungskontext von Comics und seine Entwicklung als zeithistorisches Phänomen untersucht werden. Hierbei sollten auch Fragen der Mediennutzung der Akteure und der Einfluss von Fotografie, Literatur und Kino auf das Comic mitgedacht werden. Zweitens sollte eine Analyse von Geschichtscomics sich nicht nur dem erzählten Was, sondern auch dem Wie widmen: Techniken der Visualisierung und Dramaturgie, der Austausch mit Experten und die Nutzung von Quellen müssen analysiert werden. Eine dritte interessante Untersuchungsperspektive wäre zudem, sich den Übersetzungsprozessen des Comics, also seinen transnationalen Verflechtungen zu widmen und damit zu untersuchen, wie Geschichtscomics tatsächlich einen transnationalen Erinnerungsort von Geschichte herstellen können. Viertens wäre es lohnenswert auch die Rezeption des Comiclesers und Intention des Comiczeichners in die Analyse einzubeziehen. Nicht zuletzt die von den Organisatorinnen Kesper-Biermann und Severin-Barboutie in Zusammenarbeit mit dem Literarischen Zentrum Gießen organisierte abendliche Lesung der Comiczeichnerin Elke Steiner hat das hohe Potential solch einer Perspektive gezeigt. Steiner verdeutlichte detailreich ihre Arbeitsschritte, ihre intensive Auseinandersetzung mit dem historischen Stoff und damit auch ihren Anspruch auf Faktualität. Ein Austausch mit Experten, eine Besichtigung von Originalschauplätzen, das Studium von Quellen benannte sie abseits dem Einsatz von Techniken des Zeichnens als wichtige Elemente ihrer Arbeit. Insgesamt hat der Workshop „Verflochtene Vergangenheit. Geschichtscomics in den Deutschland seit den 1950er-Jahren“ einen ersten und wichtigen Anstoß zur Erforschung gegeben und nicht nur theoretische und methodische Möglichkeiten angeboten, sondern auch praktische Einblicke in Entstehungsprozesse gegeben. Eine Publikation der Vorträge ist geplant.

Konferenzübersicht:

Sylvia Kesper-Biermann (München)/Bettina Severin-Barboutie (Gießen) Vorstellungsrunde und Einführung

Kornelia Lobmeier (Leipzig): Auf den Spuren der Digedags. Geschichten und Geschichte im DDR-Comic MOSAIK

Jeannette van Laak (Gießen): Zur Alltags- und Erfahrungsgeschichte in Comics zur DDR-Geschichte

Susanne Brandt (Düsseldorf): Notre Mère la Guerre – Der Erste Weltkrieg in den Comics von Kris und Mael

Barbara Eder (Wien)´: Der „innere Orient“ der ‚Anderen‘. Autofiktionale Historiografien im Migrations-Comic der 2000er Jahre

Bernd Dolle-Weinkauff (Frankfurt): Zwischen Abenteuergeschichte und Sachliteratur. Historisches Erzählen in Comic, Manga und Graphic Novel 



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