Familie? Blutsverwandtschaft, Hausgemeinschaft und Genealogie. 8. Detmolder Sommergespräch

Familie? Blutsverwandtschaft, Hausgemeinschaft und Genealogie. 8. Detmolder Sommergespräch

Organisatoren
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
Ort
Detmold
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.06.2013 -
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Von
Hermann Kinne, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Detmold

Am 18. Juni 2013 fand in der Abteilung Ostwestfalen-Lippe des nordrhein-westfälischen Landesarchivs das 8. Detmolder Sommergespräch statt. Unter dem Titel „Familie? Blutsverwandtschaft, Hausgemeinschaft und Genealogie“ beschäftigte sich die Tagung in diesem Jahr mit dem historischen Wandel in der Konstruktion und Perzeption von Familienbildern von der Antike bis in die Neuzeit. Hierzu konnten Referentinnen und Referenten aus dem universitären, behördlichen und genealogischen Bereich gewonnen werden, die mit ihren Vorträgen ein umfassendes Bild des Forschungskomplexes „Familie“ zeichnen konnten. Ergänzt wurden die Vorträge durch Führungen, in denen ausgewählte Archivalien präsentiert wurden, welche die Bandbreite der Überlieferung zu personen- und familiengeschichtlichen Fragestellungen aufzeigten.

Mit den Detmolder Sommergesprächen greift die Abteilung Ostwestfalen-Lippe des Landesarchivs die Wünsche und Interessen von zahlreichen ihrer genealogisch interessierten Nutzerinnen und Nutzer auf, die in den Beständen des Personenstandsarchivs Westfalen-Lippe ihre Herkunft erforschen. Die seit 2004 veranstaltete Tagung bietet ein etabliertes Diskussions- und Begegnungsforum für Familienforscher, Fachwissenschaftler, Erbenermittler, Standesbeamte und Archivare und fördert den wechselseitigen Austausch über die jeweiligen Arbeitsmethoden und Interessenlagen, baut bestehende Vorurteile ab und ebnet eine gemeinsame Diskussionsgrundlage.

Nach der Begrüßung durch HERMANN NIEBUHR (Detmold) umriss BETTINA JOERGENS (Detmold) in ihrer kurzen Einführung die Vielfalt der unterschiedlichen Vorstellungen von Familie, die in der Gesellschaft, aber auch unter Wissenschaftler/-innen und Genealog/-innen, bis heute fortbestehen. Dabei stellte sie insbesondere den permanenten Wandel dieser sozial konstruierten Kategorie in den Vordergrund, welcher Aussagen über vorgeblich „natürliche“ oder historisch legitimierte Formen des Zusammenlebens in Frage stellt. Verschiedene Konzepte wie zum Beispiel diejenigen der Kern- oder Dreigenerationenfamilien seien in ihrem historischen Kontext zu untersuchen und auf ihre gesellschaftspolitischen Hintergründe hin zu hinterfragen. Dies zeige sich nicht zuletzt in den Leerstellen, welche sie in oftmals als neutral oder quellennah angesehenen Repräsentationsformen wie Ahnentafeln und Stammbäumen hinterließen.

In ihrem Eröffnungsvortrag ging CAROLA GROPPE (Hamburg) der Frage nach, wie Familie als soziales Geschehen durch aktive Herstellungsleistungen ihrer Mitglieder immer wieder neu konstituiert wird und welche Rolle „Familienräume“ bei diesem Prozess spielen. Unter den Stichworten „doing family“ und „spacing“ seien Räume nicht nur als Rahmen, sondern auch als Akteure in Sozialisierungsprozessen zu verstehen. Am Beispiel einer Unternehmerfamilie zeichnete Groppe Wandel und Entwicklung dieses Verhältnisses zwischen 1800 und 1880 nach. Lebte die Familie zunächst in wenig fixierten Raumverhältnissen ohne feste Trennung zwischen Geschlechtern, Generationen sowie Arbeits- und Wohnsphäre, veränderte die Ausdifferenzierung von Funktionsräumen um 1840 nicht nur die Beziehungen der Generationen untereinander, sondern konturierte durch die Festlegung von Lebenswelten in Raumprogrammen auch die Geschlechterrollen neu. Im Kaiserreich schließlich machte die Trennung von Familien- und Personalräumen Machtverhältnisse deutlich, prägte durch neu fixierte Raumfunktionen Familienverhältnisse und gab Lebensmuster vor. Eine Analyse des „spacings“ könne daher wichtige Erkenntnisse zur Erstellung von Generationsabfolgen und Familienkontexten erbringen.

Die Visualisierung von Verwandtschaft als soziales Ordnungssystem wurde von MICHAEL HECHT (Münster) anhand der beiden Darstellungsformen Stammbaum und Ahnenprobe thematisiert. Diese stellen nicht nur unterschiedliche Organisationsprinzipien genealogischer Informationen (Abbildung der Deszendenz eines „Stammvaters“ einerseits und Darstellung der Aszendenz eines Probanden andererseits) dar, sondern verweisen auch auf vergangene Vorstellungen und Normen von Verwandtschaft. Besonders bemerkenswert ist dabei die ungebrochene Beliebtheit von Stammbäumen als Abstammungsdarstellungen, die erst seit dem 15. Jahrhundert aufgrund ihrer anschlussfähigen Symbolik von verschiedenen Epochen und Ideologien genutzt wurden. Die Analyse von Stammbäumen und Ahnenproben bietet, wie Hecht an verschiedenen Beispielen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit veranschaulichte, eine Zugangsmöglichkeit zu den Hintergründen und Kontexten historischer Verwandtschaftsvorstellungen.

ARND BEISE (Fribourg) stellte die Frage „Wie sieht eigentlich eine Familie aus?“ und prüfte diese anhand zahlreicher bildlicher Familiendarstellungen von der Antike bis zur Gegenwart. Er zeigte dabei, dass die Kernvorstellung von Familie eher invariant ist und das christliche Abendland von der Darstellung der Madonna mit Jesuskind als prototypischem (Kleinst-)Familienbild geprägt ist. Jede weitere Person, meist der Vater oder weitere Kinder, werden als eine kontingente Weiterung der Familie verstanden und vom Betrachter entsprechend interpretiert. Somit erscheinen Familiendarstellungen nicht nur als Visualisierung von Verwandtschaftsverhältnissen, sondern auch als eine Versinnbildlichung familiärer Ideale und Geschlechterrollen.

Die zweite Sektion widmete sich der bäuerlichen Landbevölkerung und ihren Familienstrukturen. Anhand ausgewählter Quellen illustrierte CHRISTINE FERTIG (Münster) in ihrem Vortrag den Hof als komplexen Lebens- und Arbeitsraum von Besitzern, Tagelöhnern, Bediensteten und ihren Familien und beleuchtete die Erbpraxis der Bauern und deren Konsequenzen und Folgen. Sie zeigte auf, dass es nicht zwangsläufig der älteste Sohn sein musste, der den Hof erbte (tatsächlich waren ein Drittel der eingesetzten Erben Töchter) und dass die Kinder, die den Hof nicht erbten, großzügig abgefunden wurden.

Bäuerliche Eheverträge vom 17. zum 19. Jahrhundert bildeten das Fundament des Vortrags von MARGARETE STURM-HEUMANN (Idstein/Bückeburg). Sie veranschaulichte, dass es sich hierbei nicht um Verträge zwischen zwei Personen, sondern zwischen zwei Familien oder zwei Höfen handelte. In ihnen wurde nicht nur die Mitgift und die Übergabe des Hofes geregelt, sondern auch die Abfindung der Geschwister, die Versorgung der Alten sowie der kranken oder behinderten Kinder auf dem Hof, bis hin zum Recht auf Wiederverheiratung der Ehepartner.

Beide Vorträge bestätigten insofern die Eingangsbeiträge, als sie zeigten, wie fern Klischeevorstellungen des Familienlebens den historischen Wirklichkeiten häufig sind. Vielmehr verwiesen sie auf eine Vielfalt von Familienkonstellationen und Lebensformen und zeigten gleichzeitig die Grenzen der Erkenntnis aufgrund der Quellenlage.

Die abschließende Sektion zu „Familien in Bewegung“ wurde von KATHARINA NEUFELD (Detmold) am Beispiel Bernhard Epps und seiner Nachkommen eröffnet. Die Familie von Mennoniten stammte aus Westpreußen und übersiedelte an die Wolga. Anhand genealogischer Quellen zeichnete Neufeld die wechselvolle Geschichte der Familie nach: ihren Aufstieg bis zur russischen Revolution, ihre Enteignung, die Verbannung in den Gulag während des stalinistischen Terrors, ihre Anpassung an das Sowjetsystem und die Rückkehr nach Deutschland zum Ende des 20. Jahrhunderts. Es konnte aufgezeigt werden, dass die Epps Formen erzwungener Akkulturation erfuhren, aber auch die Tradierung von Sprache und kultureller Identität lebten.

Beschlossen wurde die Sektion durch eine Einführung in die gegenwärtig geltenden Bestimmungen des Personenstandsrechtes und ihre Auswirkungen auf die standesamtliche Überlieferung. HANS SCHMIDT (Menden), Standesbeamter a. D. und Dozent an der Akademie für Personenstandswesen, machte auf den erheblichen Quellenwert von so genannten Hinweismitteilungen, also den Verknüpfungen unterschiedlicher Registerserien (Geburts-, Heirats-, Sterberegister), für genealogische Einzelstudien oder übergeordnete Forschungsvorhaben aufmerksam. Diese werden umso wichtiger, seitdem der gemeinsame Familienname zur Ermittlung verwandtschaftlicher Beziehungen immer weniger herangezogen werden kann. Nicht zuletzt lassen sich an den Novellierungen des Personenstandsrechtes auch Veränderungen gesellschaftlicher (Ehe- und Lebenspartnerschaftsregister) und politischer Realitäten in ihren Auswirkungen auf Familien deutlich machen.

Den Abschluss der Tagung bildete eine in Kooperation mit der Volkshochschule Detmold veranstalte und von SUSANNE HAVERKAMP (Osnabrück) moderierte Podiumsdiskussion zum Thema „Der ganz normale Wahnsinn? Familie im Wandel!“ An den drei Feldern „Bilder und Ideale von Familie“, „Familiäre Realitäten“ sowie „Prognosen und Utopien“ konnten die Diskutantinnen und Diskutanten von ihren Erfahrungen aus der Gleichstellungsarbeit (REGINA PRAMANN, Lemgo), der Familienberatung (CHRISTOPH POMPE, Detmold), der wissenschaftlichen Forschung (MEIKE BAADER, Hildesheim) und der Praxis der Bewegung der Beginen e.V. (IRMTRAUD RUDER, Schwerte) berichten. Trotz zahlreicher Alternativen (Wahlverwandtschaften, generationenübergreifendes Zusammenleben) bleibt, so ein Ergebnis der Runde, das „klassische Familienbild“ der Vater-Mutter-Kind-Familie vorherrschend. Die Zahlen – etwa 71 Prozent aller Kinder in Deutschland wachsen bei ihren miteinander verheirateten Eltern auf – sprechen anders als die Medien nicht für eine Krise der Familie. Allerdings verweisen die Erfahrungen der vorgestellten Lebensgemeinschaften (der Beginen und in Dalborn) sowie die Erfahrungen aus der Familienberatung eher auf eine häufig als „einsam“ empfundene Situation. Während dieser Strang nicht weiter diskutiert wurde, kam mehrfach die tatsächlich sozial prekäre Situation von alleinerziehenden Müttern zur Sprache. Diese wären in besonderem Maße auf eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie auf öffentliche Kindererziehungseinrichtungen angewiesen. Ohnehin zog sich die Frage nach der Gleichstellung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen als roter Faden und als wesentlich für eine Verbesserung der Situation von Familien durch die Diskussion. Interessanterweise lieferte die Forschung bislang nur wenige Daten zum Familienbild von Männern und zu kinderlosen Männern, und das trotz jahrzehntelanger Forschung zu Gleichstellung und Genderfragen.

Konferenzübersicht

Begrüßung
Hermann Niebuhr, Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe

Einführung
Bettina Joergens, Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe

Carola Groppe, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg: Doing family. Familie als Herstellungsleistung zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert

I. Sektion: Blutsverwandtschaft, Repräsentationen und Bilder
Moderation: Bettina Joergens

Michael Hecht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster: Repräsentationen von Verwandtschaft in Ahnenproben und Stammbäumen: Was sie zeigen und was sie verschweigen

Arnd Beise, Universität Freiburg / Université de Fribourg: Wie sieht eigentlich eine Familie aus? Familienbilder von der Antike bis zur Gegenwart

2. Sektion: Menschen in Haus und Hof
Moderation: Thomas Brakmann, Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe

Christine Fertig, Westfälische Wilhelms-Universität Münster: Hof, Haus und Kammer. Soziale Beziehungen und familiäre Strategien im ländlichen Westfalen

Margarete Sturm-Heumann, Idstein/Bückeburg: Ein ungehobener Schatz: Eheverträge als genealogische und sozialgeschichtliche Quelle

3. Sektion: Familien in Bewegung
Moderation: Hermann Niebuhr, Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe

Katharina Neufeld, Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold: Familienchronik Epp: von Westpreußen durch Wolga und Kotlas nach Detmold

Hans Schmidt, Standesamt Menden / Fachverband der Standesbeamten: (Bluts-)Verwandtschaft im Zeitalter von Migration und „Patchworkfamilien“ in den standesamtlichen Registern


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