Geschichtspolitik: theoretische Ansätze und empirische Fallstudien

Geschichtspolitik: theoretische Ansätze und empirische Fallstudien

Organisatoren
Arbeitskreis "Geschichte und Politik" in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaften (DVPW)
Ort
Siegen
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.06.2004 - 05.06.2004
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Von
Michael Kohlstruck, Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin

Aufschluß über das politische Selbstgefühl und die politische Tatkraft gesellschaftlicher Deutungseliten kann man gewinnen, wenn man nach den dominanten geschichtlichen Zeitdimensionen fragt, die sie thematisieren. Bis Mitte der siebziger Jahre verband man in der Bundesrepublik eine Kritik der Gegenwart mit zukunftsbezogenen Konzepten und Visionen: Was ist, wurde in die Perspektive dessen gerückt, was noch nicht ist. Mit dem Schwinden von Gegenwartssicherheit und Zukunftsgewißheit steht die Gegenwart im Zeichen der Vergangenheit und die Vergangenheit im Lichte ihrer Gegenwart. Gedächtnis, Erinnerung und Vergangenheit sind die Begriffe, in denen eine Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit rekonstruiert wird: Was gewesen war, lebe als Erinnerung fort, und was ist, bestimme sich von dem her, was nicht mehr ist. Auch in der Politikwissenschaft dominiert ein Verständnis von Geschichtspolitik als Erinnerungspolitik.

Die diesjährige Frühjahrstagung des Arbeitskreises widmete sich in zehn Beiträgen zwei thematischen Schwerpunkten. Neben der Frage nach Theorien von Geschichtspolitik wurden empirische Fallstudien vorgestellt.
Barbara Könczöl (Leipzig) zeigte in ihrer Darstellung des Gedenkens an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in der DDR, wie geschichtspolitische Legitimationsstrategien, die stark auf Sakralisierung setzen, in mythologisierende Erzählungen übergehen können. Zugleich durchlief auch dieser neue Mythos seine eigene Geschichte: die für die DDR riskante Ambivalenz von Rosa Luxemburg wurde zunächst durch eine Trennung von Person und Werk gebannt, später durch eine stärkere Berücksichtigung von Liebknecht gegenüber Luxemburg.
Oliver Diepes verglich die postkoloniale Erinnerung der früheren Kolonialmächte Deutschland, Niederlande und Frankreich hinsichtlich der Akteure dieser Erinnerungspolitik, ihren inhaltlichen Herausforderungen und der ethischen Bewertung. Während in Deutschland an den Krieg gegen die Hereros Organisationen der Meso-Ebene kritisch erinnern, ist in den Niederlanden die Regierung selbst Initiator eines kritischen Diskurses. In Frankreich wiederum wird der Algerienkrieg zwar von der Exekutive thematisiert, allerdings in einer Weise, die man nur als folkloristisch bezeichnen kann.
Der Vortrag "Das Osmanische Reich als Argument" von Franz Mauelshagen (Zürich) behandelte die Rolle von Historikern bei der Entpolitisierung der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei. Er konnte zeigen, inwiefern die Beschwörung der EU als einer kulturellen Gemeinschaft auf einen statischen und von den Kulturwissenschaften ad acta gelegten Kulturbegriff zurückgreift. Die beiden deutschen Nationalhistoriker, die sich in einiger Entfernung von ihren eigentlichen Spezialgebieten in eine politische Debatte eingeschaltet haben, nutzen eine vermeintliche äußere kulturelle Bedrohung zur erinnerungspolitischen Festigung des Abendlandes.
Zum ersten Themenschwerpunkt gehörte die Übersicht von Malte Thießen (Hamburg), der sich kritisch mit vorliegenden Konzepten des sozialen Gedächtnisses auseinandersetzte (Halbwachs, Nora, Assmann). Dem Dualismus zwischen "flüssigem" und "verfestigtem" Gedächtnis, der These eines Überganges von der ersten zur zweiten Formation, der vom Wechsel der Generationen abhängig sei und der Unbestimmtheit der Referenzkollektive setzte er die These einer Pluralität von Gruppengedächtnissen gegenüber, die sich allerdings jeweils zu einem Rahmen legitimer Deutungen schließen. Gerade die andauernde "zweite Geschichte des "Dritten Reiches"" zeige überdies, wie wenig zwingend eine 40-Jahres-Zäsur ist.
Horst-Alfred Heinrich (Stuttgart/ Marburg) stellte Geschichtspolitik ins Verhältnis zur Theorie Sozialer Identität (TSI) (Tajfel, Turner). Ihr zufolge gehört zu einem positiven Selbstkonzept von Individuen auch ein positives Bild ihrer (nationalen) Großgruppen. Dies trifft sich mit einer oft behaupteten Funktion von Geschichtspolitik, insofern diese auf eine positive kollektive Identität abziele. Die Geschichte von nationalen Kollektiven aber eigne sich nicht zu umstandslos positiven Identifikationen. Von der TSI her ist zu fragen, ob Geschichtspolitik tatsächlich die positiven identitätsstiftenden Effekte hat, die ihre Akteure beabsichtigen.
Mark Arenhövel (Gießen) konstatierte unter seiner Frage "Braucht Geschichtspolitik eine Theorie?", daß für die politikwissenschaftliche Forschung vor allem die Analyse konfligierender Erinnerungsdiskurse und eine darauf aufbauende Theoriebildung aussichtsreich seien. Nicht die Fiktion eines Konsens über Geschichtsbilder, sondern die Deutungskonflikte um Vergangenheit seien die Medien einer Integration. Größeren Aufschluß dürfe man gewinnen, sobald man den Ansatz des "methodologischen Nationalismus" verläßt und in einen internationalen und interkulturellen Vergleich eintritt.
Aus der Perspektive der Transformationsforschung betrachtete Harald Schmid (Hamburg) die Entwicklung dominanter Geschichtsbilder. Mit jedem Systemwechsel sind Veränderungen in der politischen Kultur und damit im Geschichtsbild verbunden, die sich in der Phasenfolge von Liberalisierung, Demokratisierung und Konsolidierung verfolgen lassen. Die "doppelte Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland nach 1990 besteht in der verschränkten Auseinandersetzung mit zwei antidemokratischen Systemen. Anders aber als die NS-Vergangenheitsbewältigung ist weder die kritische Auseinandersetzung mit dem Staatssozialismus noch mit dessen Gegnern bislang prägend für die politische Kultur der Bundesrepublik gewesen. Zu beobachten ist hingegen ein renationalisierendes Framing von Geschichtsbildern.
Claudia Lenz (Hamburg/Oslo) stützte sich bei ihren Überlegungen zur vergleichenden Erforschung von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur auf die Befunde von familienbezogenen Forschungen zur intergenerationellen Tradierung von "Geschichtsgeschichten" zur NS-Zeit. Die in Familien erzählten Geschichten idealisieren häufig Vergangenheit stärker als dies die offiziell und öffentlich kommunizierten Geschichtsbildern tun. Ihre international vergleichenden Forschungen zeigen, inwiefern dies in verschiedenen europäischen Staaten variiert. Die Kontrastierung von "Familiengeschichte" und öffentlich legitimer Geschichte kann Aufschluß erbringen über Inkonsistenzen und den mythenhaften Charakter gesellschaftlicher Basiserzählungen.
Birgit Schwelling (Frankfurt/Oder) machte deutlich, wie derzeit das Verständnis von Geschichtspolitik als einem Politikfeld dominiert. Der Erfolg dieses Konzepts hängt mit seiner Forschungsergiebigkeit zusammen: Zu jedem von der "nationalen Memorialpolitik" berücksichtigten Jubiläum werden Deutungen geliefert, die sich dann wissenschaftlich rekonstruieren lassen. Eine Innovation verspricht sie sich von zwei Veränderungen: Einmal soll Geschichtspolitik nicht lediglich als die Produktion des heutigen Bildes eines vergangenen Ereignisses verstanden werden, sondern - in einer dreistelligen Relation - als dasjenige strategische Operieren mit gewollten historischen Bedeutungen, die gegenwärtigen und künftigen politischen Projekten förderlich sind. Zum anderen sollte geschichtspolitisches Handeln auch außerhalb staatlicher Politik und damit unterhalb der nationalen Ebene beobachtet werden. Dazu ist es erforderlich, nicht allein materielle Entscheidungen, sondern Kommunikation in einem allgemeinen Sinn zu untersuchen.

Der Abendvortrag von Thomas Henne (Frankfurt a.M.) stellte den geschichtspolitischen Konflikt um Veit Harlan, den Regisseur des antisemitischen Filmes "Jud Süß" in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre dar. Sowohl die Strategie von Erich Lüth, der 1950 zu einem Boykott der Nachkriegsfilme von Harlan aufgerufen hatte, wie die öffentliche Selbstexkulpation von Harlan, standen im Widerspruch zu der herrschenden Vergangenheitspolitik. Kennzeichnend für sie war die explizite negative Abgrenzung vom Nationalsozialismus auf der institutionellen Ebene bei gleichzeitiger Integration belasteter Personen. Dies konnte nur funktionieren soweit die Betroffenen selbst über ihre Vergangenheit schwiegen. Lüth wiederum begründete seine Offensive gegen Harlan mit seinem Verständnis von Schuld als Untätigkeit - und nahm sich damit gleichfalls wie ein Fremdkörper in einer Kultur des Beschweigens aus. Lange Jahre nach dem Konflikt selbst erhielt Lüth vor dem Bundesverfassungsgericht Recht: Sein Boykottaufruf liege auf der Linie einer Wiederetablierung deutschen Ansehens in der Welt, er werde von höchsten Stellen des Bundestages geteilt und könne von daher nicht rechtswidrig sein.

Neben den einzelnen Befunden zu den materialen Forschungsprojekten lassen sich in systematischer Hinsicht die folgenden Ergebnisse der Tagung festhalten:
(1) Ein qualifizierter Begriff von Geschichtspolitik schließt an einen Begriff des politischen Handelns an. In einem nichtetatistischen Politikverständnis ist der Kreis politischer Akteure nicht auf staatliches Handeln beschränkt.
(2) Geschichtspolitik wird meistens synonym mit Erinnerungspolitik verwendet. Erinnerungspolitik meint in aller Regel zwei unterschiedlich weite Konzepte: Einmal die Etablierung und Durchsetzung von bestimmten Bildern vergangener Ereignisse, Prozesse oder Personen. Der weitere Begriff von Erinnerungspolitik schließt die Funktionalisierung derartiger Geschichtsbilder für aktuelle politische Projekte ein.
(3) Geschichtspolitik ist zunächst ein Operieren mit historischen Bedeutungen. Unter welchen Bedingungen ein solches Sinnangebot bei den Zielgruppen akzeptiert wird, wie es in das Identitätsgefüge von Akteuren der Mesoebene integriert wird, wie es darüberhinaus auch auf der Mikroebene relevant werden kann, sind wichtige Fragen, die weiterer Forschungen harren.
(4) Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn es um die Erklärung des Phänomens der Systemstabilität geht. Ob und inwieweit Systemstabilität tatsächlich von Deutungen, zumal historisch ausgerichteten Deutungen abhängt, ist eine offene Frage. Einiges spricht dafür, daß ökonomische und soziale Entwicklungen eine höhere Bedeutung haben.

An die Tagung schloß sich eine Sitzung des AK an. Der Arbeitskreis wird nun von drei Sprechern vertreten: Claudia Fröhlich (Berlin), Horst-Alfred Heinrich (Stuttgart) und Michael Kohlstruck (Berlin). Der Arbeitskreis hat sich ferner umbenannt und heißt nun "AK Politik und Geschichte". Als Gliederung der DVPW unterstreicht er damit den Schwerpunkt seiner Forschung, der auf politischem Handeln und dessen Geschichtsreferenzen liegt.


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