„1813“ und die Folgen für Europa: Entgrenzung und Einhegung

„1813“ und die Folgen für Europa: Entgrenzung und Einhegung

Organisatoren
Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts, Humboldt-Universität zu Berlin; Ranke Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben; Arbeitsgemeinschaft zur Preußischen Geschichte
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.10.2013 - 19.10.2013
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Von
Susanne Schmidt, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Überraschende Neugier“ beim Publikum, geschichtspolitische Diskretion und Zurückhaltung aber in der historischen Zunft diagnostizierte die Süddeutsche Zeitung angesichts des 200. Jahrestages der Entscheidungsschlacht der Koalitionstruppen gegen Napoleon bei Leipzig.1 Mit dem Ziel, jenseits älterer national orientierter Deutungen ein neues Verständnis für die Relevanz der Chiffre „1813“ zu gewinnen, das heißt für die Veränderungen, die durch den Umbruch 1813–1815 in Gang gesetzt wurden, war das Jubiläum der „Völkerschlacht“ Anlass einer Tagung, die, wie BIRGIT ASCHMANN (Berlin) in ihrer Einführung unterstrich, unter dem Paradigma „Entgrenzung und Einhegung“ die Widersprüche und Spannungen der Entwicklungen am Anfang des 19. Jahrhunderts in den Blick nahm und Formen der Aufhebung traditioneller Beschränkungen in ihrem dialektischen Verhältnis zu neuen Formen der „Einhegung“ und Abgrenzung untersuchte.

„Überschreiten der Grenzen und nationale Neuaufladung“ lautete der Titel der ersten Tagungssektion, in der zu Anfang DIETER LANGEWIESCHE (Tübingen) in seinem Vortrag „Imperium – Nation – Volkskrieg“ die These vertrat, dass die antinapoleonischen Kriege nicht im Kontext nationaler Debatten gestanden hätten – auch wenn es diese damals bereits gegeben habe –, sondern vielmehr imperial motiviert gewesen seien. Dabei, so Langewiesche, sei der Weg zum Nationalstaat durch den Krieg geöffnet worden, indem aus dem Engagement breiter Bevölkerungsschichten im „Volkskrieg“ die Forderung der Bürger nach politischer Partizipation erwachsen sei. Die nationalen Mythen, mit denen „1813“ retrospektiv aufgeladen worden sei, hätten im Dienste dieser Teilhabeforderungen gestanden. Damals wie heute gewänne die Chiffre „1813“ ihr Potenzial als Erinnerungsort eines vereinten Europas erst aus der gegenwartspolitischen Verfremdung.

Die Möglichkeiten und Grenzen einer ahistorischen Übertragung des Begriffs der „Europäisierung“ aus dem späten 20. auf das frühe 19. Jahrhundert lotete HARTMUT KAELBLE (Berlin) in seinem Vortrag aus. Kaelble hob die Unterschiede der napoleonischen Zeit zur Europäischen Union hervor. Er unterstrich zugleich den Gewinn des Vergleichs von Vergangenheit und Gegenwart, insofern dieser einerseits die Fragen aufwerfe: „Was würde es bedeuten, eine europäische Armee zu installieren?“, „Was bedeutet die Hegemonie eines Landes für die EU?“, „Und was der charismatische Einfluss Einzelner?“. Andererseits lege die Diskrepanz zwischen der heutigen Zeit und dem Zeitalter Napoleons den Schluss nahe, die Geschichte der EU nicht mehr nur wie bisher geradlinig als eine Geschichte der Integration zu schreiben, sondern auch von ihrer dunklen Vergangenheit zu erzählen – nicht zuletzt anhand der Chiffre „1813“.

HEINZ-GERHARD HAUPT (Bielefeld) beschloss die Sektion mit einem Vortrag über die „Grenzen nationaler Mobilisierung“ im besetzten Frankreich. Er legte dar, wie der bürgerlich-nationale Flügel unter dem Eindruck der Revolutionsjahre eine nationale Aufladung der Politik regelrecht vermieden und den Begriff der Nation auf eine kleine Gruppe reduziert habe, welche den Dritten Stand nicht mehr gänzlich einschloss. Während die Französische Revolution zu einer Entgrenzung des politischen Feldes geführt habe, sei es nach 1815 zu einer Einhegung des Nationalismus und zu einer Beschränkung der Nation in öffentlichen Diskursen auf das Bürgertum gekommen – eines frühen Vorläufers des französischen Nationalismus der Zeit um 1870.

Die zweite Sektion verhandelte die Herausbildung neuer Identitäten in Kunst, Musik und Emotionen. Den Anfang machte BÉNÉDICTE SAVOY (Berlin), die in ihrem Vortrag über „Kunstraub unter Napoleon“ darlegte, dass sich mit der Überführung europäischer Kunstsammlungen nach Frankreich ein nationales Museumspathos herausbildete. Dies zeigte sich insbesondere 1815 in der Ausstellung der restituierten preußischen Kunst in der Akademie der Künste in Berlin. Werken, die zuvor wenig bekannt gewesen waren – darunter nicht zuletzt Gemälde, die heute als Hauptwerke der romantischen Malerei gelten –, wurde nun große Aufmerksamkeit zuteil, nachdem sie durch ihren Abtransport nach Frankreich in den Fokus der tagespolitischen Aufmerksamkeit gerückt und nationalpolitisch aufgeladen worden waren. Kunst, deren räumliche Bewegung Savoy zufolge bis heute Herrschaft und Macht verkörpert, wurde auf diese Weise Teil der nationalen Symbolik des 19. Jahrhunderts.

In welchen Zusammenhang wurden Nation und Emotion durch „1813“ gestellt? Dieser Frage ging Birgit Aschmann (Berlin) in ihrem Vortrag nach. Sie stellte dar, wie traditionelle Gefühlsregime, insbesondere das des Mitgefühls, angesichts traumatischer und unverständlicher Erfahrungen von Grausamkeit und Schrecken auf dem Schlachtfeld ins Wanken gerieten. Der Verlust emotionaler Orientierung, so Aschmann, bilde den Hintergrund, vor welchem der Erfolg nationaler Deutungsangebote um 1813 zu begreifen sei. Denn diese griffen auf ein emotionales Register zurück, erfolgten sie doch im Zuge einer Aufwertung der Leidenschaften gegenüber der Vernunft und arbeiteten mit Schemata wie denen der nationalen „Liebe“ und des nationalen „Hasses“. Angesichts der Auflösung bisheriger emotionaler Strukturen im Krieg, so Aschmann, sei das national-emotionale Deutungsmuster als eine willkommene Orientierungshilfe auf breite Akzeptanz gestoßen: Das Nationale konnte sich als Deutungsrahmen des Emotionalen etablieren.

Mit einem Vortrag über die soziopolitische Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Beethovens 3. Sinfonie (1803–1804) beschloss WALTER WERBECK (Greifswald) den ersten Konferenztag. Veröffentlicht als „Sinfonia eroica composta per festeggiare il sovvenire di un grand’ uomo“ („Heroische Sinfonie, komponiert, um das Andenken eines großen Mannes zu feiern“), wurde die Eroica bereits von Zeitgenossen als eine musikalische Biographie Bonapartes gedeutet. Betonten sie dabei zunächst den Aspekt des Heroischen und Kriegerischen, so trat bald der des Nationalen in den Vordergrund – bis die Sinfonie im Berlin des späten 19. Jahrhunderts sogar zur Widmung an Bismarck umgedeutet wurde. So stand, wie Werbeck resümierte, die Eroica nicht außerhalb der gesellschaftlichen Umstände, sondern war in das tagespolitische Geschehen eingebettet, sodass sich ihr Verständnis im Laufe der Zeit wandelte.

Mit der Sektion „Wissensformen und Repräsentationen“ wurde der zweite Konferenztag eingeleitet. CHRISTOPH JÜRGENSEN (Wuppertal) analysierte den Umgang deutschsprachiger Schriftsteller mit dem Kriegsausbruch und unterschied dabei drei unterschiedliche Reaktionsweisen: Erstens jene Literaten, die um 1813 eine Wendung von ideengeschichtlichen zu militärischen Motiven vornahmen. Zweitens solche, die, wie etwa Joseph von Eichendorff, literarisch-romantische Topoi politisch aufluden – freilich ohne tagespolitische Lyrik zu verfassen – und drittens diejenigen, die ihre politischen Äußerungen literarisch formulierten und ihr Leben und Werk untrennbar miteinander verbanden – am Prominentesten wohl im Falle Theodor Körners, dessen Tod auf dem Schlachtfeld ihn in einen moralischen Helden verwandelte.

VOLKER HESS (Berlin) befasste sich in seinem Vortrag mit den Unterschieden zwischen den medizinischen Dokumentationspraktiken in Frankreich und Deutschland am Beginn des 19. Jahrhunderts. Fand die Aufzeichnung der Befunde in Paris in einem separaten Büro statt und erfolgte in Form eines ausformulierten Textes, so war in Berlin der Krankensaal der Ort der Verschriftlichung, verzeichnet wurde in Tabellen. Diese Ausdifferenzierung der medizinischen Aufschreibesysteme begriff Hess allerdings weniger als durch die Umbrüche um 1813 motiviert, sondern führte sie in erster Linie auf lokale gesellschaftliche Rahmenbedingungen zurück. Der Krieg, so Hess, sei nicht der Vater aller Dinge, zum Gegenstand der akademischen Medizin habe er sich erst im Laufe der therapeutischen Revolution im 19. Jahrhundert entwickelt.

NILS HEGEWISCH (Greifswald) fragte in seiner Untersuchung der nationalistischen Publizistik des frühen 19. Jahrhunderts nach deren Verhältnis zu Rassentheorien. In einer Analyse der Texte Johann Gottlieb Fichtes, Ernst Moritz Arndts und Friedrich Ludwig Jahns argumentierte er, dass es in der nationalistischen Publizistik zwar wesentliche Elemente rassistischer Theoriebildung gegeben habe, jedoch keine kohärente Rassentheorie. Hegewisch sprach von einem undifferenzierten „rassistischen Wetterleuchten“ der Texte um 1813 und entwarf die Kategorie eines „romantischen Rassismus“, um zentrale Eigenschaften jener protorassistischen Denkmuster – insbesondere die Betonung von Individualität und Emotionalität sowie pseudowissenschaftliche Elemente – gezielt herauszuarbeiten.

Die vierte Tagungssektion mit dem Titel „Formen des Krieges – Begegnungen, Vergleich, Transfer“ wurde eröffnet mit einem Vortrag von KATRIN BRÖSICKE (Rostock) über „Kulturkontakt – Deutschsprachige Soldaten im Spanischen Unabhängigkeitskrieg“. Sie analysierte die zeitgenössisch populären Memoiren der aus Spanien zurückgekehrten deutschsprachigen Kriegsteilnehmer, die zahlreiche Informationen über die spanische Kultur enthielten. Brösicke plädierte dafür, die deutschsprachigen Soldaten in Spanien als Kulturvermittler zu begreifen, hätten doch ihre Berichte nicht nur ein facettenreiches Bild der spanischen Kultur und Identität geschaffen, sondern darüber hinaus auch der Auseinandersetzung mit Ordnungskategorien und Bezugssystemen sowie der Inkorporation von neuem Wissen und fremden Kulturtechniken, kurz: dem Kulturtransfer gedient.

Anschließend präsentierte MARTIN RINK (Potsdam) eine Geschichte des Partisans. Wie er darlegte, fand bereits im 18. Jahrhundert neben dem regulären Krieg der so genannte „kleine Krieg“ statt, wie Beutezüge oder Lager- und Marschsicherung bezeichnet wurden. Man sprach von dieser Form des Krieges als „auf Partei gehen“, von den daran Beteiligten als „Parteigängern“. In der napoleonischen Zeit, so stellte Rink dar, wurde der Parteigänger unter dem aus dem Französischen stammenden Begriff des Partisanen neu definiert; er galt nunmehr als irreguläre Gestalt. Diese Veränderung, so Rink, sei bedingt durch die Wandlung des Volkes vom Objekt zum Subjekt des Krieges: Die veränderte Legitimationsweise der Kriegsführung habe zu neuen Formen der Mobilisierung geführt.

Die fünfte Sektion der Tagung befasste sich mit „neuen Grenzziehungen in Wirtschaft und Gesellschaft“. MARKUS DENZEL (Leipzig) beschäftigte sich in seinem Referat mit Kontinentalsystem und Kontinentalsperre. Er fragte zunächst nach den Gründen für das Scheitern des Kontinentalsystems als europäischem Wirtschaftsverband und machte dafür insbesondere den merkantilistischen Ansatz der napoleonischen Wirtschaftspolitik verantwortlich, den er als veraltet begriff. Sodann fragte er nach den ökonomischen Folgen des Kontinentalsystems, zu denen er neben dem Aufstieg Großbritanniens als Wirtschaftsmacht insbesondere die Entstehung eines europäischen Binnenmarktes zählte: Das Kontinentalsystem, so Denzel, habe zu einer Verschiebung der wirtschaftlichen Achse des Kontinents vom Atlantik an den Rhein geführt.

THOMAS BRECHENMACHER (Potsdam) untersuchte unter dem titelgebenden Begriffspaar „Integration und neue Ausgrenzung“ den Einfluss der „Befreiungskriege“ auf die Judenemanzipation in Europa. Er stellte die zentrale Rolle dar, die die Frage des Militärdienstes und des Kriegseinsatzes von Juden in allen Reformansätzen und allen Debatten über die rechtliche Gleichstellung der Juden gespielt habe. Die Teilnahme zahlreicher jüdischer Männer an den Kriegen von „1813“ führte allerdings nicht zu einer unumschränkten staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden, vielmehr avancierte der Aspekt später zu einem der zentralen Agitationsargumente der Antisemiten. Dennoch, so argumentierte Brechenmacher im Anschluss an Horst Fischer, sei die durchweg positive Bewertung der Kriegsteilnahme jüdischer Männer in der Folgezeit wesentlich gewesen, um die Einhegungspolitik gegenüber jüdischen Männern zumindest abzumildern.

Den Abschluss der Sektion machte KAREN HAGEMANN (Chapel Hill, NC), die über die „Bedeutung der antinapoleonischen Kriege für die Geschlechterordnung“ referierte. Sie stellte dar, wie auf Basis des Verständnisses des Landes als einer „Volksfamilie“ in den antinapoleonischen Kriegen ein Bild der „patriotischen Mütterlichkeit“ entstand, welches das Engagement von Frauen „an der Heimatfront“ ermöglichte. Dies blieb jedoch im Kern umstritten und nach dem Ende des Krieges erfolgte schließlich eine umfassende Restaurierung der Geschlechterrollen, die zu einer umso stärkeren Abgrenzung der Rollen von Frauen und Männern führte. Dennoch, so Hagemann, sei die periodische Öffnung der Handlungsspielräume für Frauen von nachhaltiger Bedeutung geblieben, insbesondere weil spätere Frauenbewegungen an die Leistungen der Frauenvereine legitimatorisch anknüpfen konnten.

ANDREAS FAHRMEIR (Frankfurt am Main) beschloss den zweiten Tag mit einem Abendvortrag über die Relevanz von „1813“ für das heutige Europa. Ausgehend von Theodor Schieder, der die „Befreiungskriege“ in seiner Ansprache „Das Jahr 1813 und das heutige Europa“ (1963) in einem nationalen Kontext verortet hatte, fragte Fahrmeir, ob die Chiffre „1813“ für Europa überhaupt eine Bedeutung haben sollte: Repräsentiert „1813“ nicht vielmehr alles, was Europa nicht sein will? Ergibt es jenseits der gefestigten nationalen Bedeutung von 1813 Sinn, eine Brücke von 1813 zum heutigen Europa zu schlagen? Voraussetzung dafür, so Fahrmeir, wäre die Hypothese, zwischen 1812 und 1815 wäre etwas entschieden worden, das bis heute fortwirkt. Dieses Etwas begriff Fahrmeir im Kern als die bis heute gültige Erkenntnis, dass jede politische Ordnung einmal untergehe. Ausgehend von 1813, so Fahrmeir, sei demnach keine Prognose für das heutige und zukünftige Europa möglich. Es lasse sich aber – auch wenn dies in der Sache wenig mit 1813 zu tun habe – hoffen, dass im Jahr 2063 nicht mehr über eine Konflikteskalation im europäischen Raum nachgedacht werden müsse.

Die Abschlusssektion mit dem Titel „Kontinuität und Wandel: Politische Ordnung und Verfassungsfragen“ fand am dritten Veranstaltungstag statt. ULRIKE MÜSSIG (Passau) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der „Souveränität um 1813“. Am Beispiel der spanischen Cortes legte sie das schwankende Gleichgewicht zwischen monarchischer Souveränität und Volkssouveränität dar. Wie Müßig zeigte, blieb der Monarch in der Verfassung der Cortes zwar als Verfassungsgröße erhalten, zugleich wurde jedoch seine Alleinherrschaft ausgeschlossen. Diese Offenheit habe, so Müßig, einerseits den Weg für die Koexistenz von monarchischer Souveränität und Volkssouveränität gebahnt, andererseits jedoch zu Spannungen zwischen beiden Souveränitätsansprüchen geführt. Wo es zu Verfassungskonflikten gekommen sei, die nicht mehr innerhalb des Verfassungssystems gelöst werden konnten, habe die letztgültige Souveränität jene Instanz bewiesen, die Lösungen jenseits der bereits bestehenden Denkmuster schuf.

In seinem Vortrag „Vom Sturz der Monarchen zur Neuerfindung der Monarchie“ untersuchte CHRISTOPH NÜBEL (Berlin) die Bedeutung der Ereignisse der Jahre 1813–1815 für die Monarchie und stellte die Fähigkeiten der Selbstbehauptung und Machtstabilisierung dar, die diese entwickelte. „1813“ erschien aus Nübels Perspektive als eine Zeit der Entgrenzung, wobei das damit einhergehende Krisenempfinden den Monarchen, die Stabilität, Sicherheit und Ordnung verkörperten und versprachen, freilich neue Handlungsmöglichkeiten eröffnete. Im Anschluss an die Kriegszeit erfanden sich die Monarchen neu, indem sie sich, wie Nübel zeigte, als „Landesväter“ inszenierten, die sich ihrer „Landeskinder“ fürsorglich annahmen. Vor dem Hintergrund dieser restaurativen Einhegung und Monarchisierung in Europa sei, so Nübel abschließend, die Frage zu stellen, wann der Wunsch nach Reform stärker geworden sei als das Bedürfnis nach Ordnung.

THOMAS STAMM-KUHLMANN (Greifswald) beschloss die Tagung mit einem Vortrag über „1813 und die liberale Legende des 19. Jahrhunderts“, in dem er anhand einer Auslese zeitgenössischer politischer Auseinandersetzungen und Debatten geschichtspolitische, insbesondere liberale Argumentationsfiguren dekonstruierte und die nationale Legendenbildung darstellte. Er zeigte dabei den Einfluss jener bürgerlichen Kräfte auf, die schon vor „1813“ vom Prinzip der bürgerlichen Mitverantwortung überzeugt waren – ohne jedoch, wie Stamm-Kuhlmann betonte, ein inklusives Nationsverständnis zu vertreten.

Dieser letzte Vortrag ging in eine Abschlussdiskussion über, in deren Mittelpunkt das Verhältnis zwischen (nationalem) Mythos und Realität, zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit stand, das anhand der wirklichkeitsstiftenden Dimension des Mythos des Kriegsopfers verhandelt wurde: eines Narratives, welches diejenigen, die militärische Opfer erbracht hatten, zu den Trägerinnen und Trägern eines Vermächtnisses erhob, das sie zur politischen Partizipation berechtigte.

Der Tagung gelang es, deutlich zu machen, dass der Umbruch von „1813“ sein historiographisches Potenzial dort entwickelt, wo er nicht als Ausdruck „moderner Rationalisierung“ gelesen wird, sondern als Chiffre für die Dialektik von Aufbruch und Neu-Einhegung. Die Vorträge und Diskussionen warfen ein Licht auf die Diversität der Veränderungen um 1813 und unterstrichen die Offenheit solch zentraler Begriffe wie Nation, Volk oder Freiheit. Mehr noch: Sie verdeutlichten, dass der Geschichtswissenschaft um 2103 weniger daran gelegen sein kann, diese Vielgestaltigkeit auf einen Nenner zu subsumieren, als sie vielmehr selbst zum Gegenstand zu nehmen. Dabei erscheinen die Analyse von Transfers sowie vergleichende Perspektiven als besonders fruchtbar, um ein neues Verständnis von „1813“ zu gewinnen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung: Birgit Aschmann (Berlin)

Sektion 1: Überschreiten der Grenzen und nationale Neuaufladung
Leitung: Jürgen Elvert (Köln)

Dieter Langewiesche (Tübingen): Imperium – Nation – Volkskrieg. „1813“ in der europäischen Geschichte

Hartmut Kaelble (Berlin): Europäisierung im Schatten des Krieges?

Heinz-Gerhard Haupt (Bielefeld): Grenzen nationaler Mobilisierung. Das besetzte Frankreich

Sektion 2: Kunst, Musik, Emotionen. Die Herausbildung neuer Identitäten
Leitung: Thomas Stamm-Kuhlmann (Greifswald)

Bénédicte Savoy (Berlin): Kunstraub unter Napoleon und die Genese von Nationalsymbolen

Birgit Aschmann (Berlin): „Liebe“ und „Hass“, „Angst“ und „Mitgefühl“ – die emotionale Dimension der Befreiungskriege

Walter Werbeck (Greifswald): „Intitolata Bonaparte“. Beethoven und die Folgen

Sektion 3: Wissensformen und Repräsentationen
Leitung: Bernd Sösemann (Berlin)

Christoph Jürgensen (Wuppertal): Embedded Poets. Das Verhältnis von Schriftstellern zum Krieg

Volker Hess (Berlin): Bureau oder Krankensaal. Klinische Aufschreibesysteme im nationalen Konflikt?

Niels Hegewisch (Greifswald): Rassentheorien in der Publizistik des frühen deutschen Nationalismus?

Sektion 4: Formen des Krieges: Begegnungen – Vergleich – Transfer
Leitung: Jürgen Angelow (Potsdam)

Katrin Brösicke (Rostock): Kulturkontakt – Deutschsprachige im Spanischen Unabhängigkeitskrieg

Martin Rink (Potsdam): „Spaniens edles Beispiel“ – eine preußische Guerilla? Zum Vergleich der preußischen Insurrektionskonzepte mit der spanischen Realität 1807-1813

Sektion 5: Neue Grenzziehung in Wirtschaft und Gesellschaft
Leitung: Günter Schulz (Bonn)

Markus A. Denzel (Leipzig): Vom Scheitern eines Modells. Das Kontinentalsystem als europäischer Wirtschaftsverbund

Thomas Brechenmacher (Potsdam): Integrationsversprechen und neue Ausgrenzung. „Befreiungskriege“ und Judenemanzipation in Europa

Karen Hagemann (Chapel Hill, NC): Krieg, Frauen und Nation: Die Bedeutung der antinapoleonischen Kriege für die Geschlechterordnung

Abendvortrag: Andreas Fahrmeir (Frankfurt am Main): 1813 – und das heutige Europa

Sektion 6: Kontinuität und Wandel: Politische Ordnung und Verfassungsfragen
Leitung: Esther-Beate Körber (Berlin)

Ulrike Müßig (Passau): Souveränität um 1813 – Die Nation und die europäischen Verfassungen des (Früh)Konstitutionalismus

Christoph Nübel (Berlin:, Vom Sturz der Monarchen zur Neuerfindung der Monarchie
Thomas Stamm-Kuhlmann (Greifswald): 1813 und die liberale Legende des 19. Jahrhunderts

Abschluss/Zusammenfassung: Thomas Stamm-Kuhlmann (Greifswald)

Anmerkung:
1 Jens Bisky, Das grässlichste Schauspiel, in: Süddeutsche Zeitung vom 31.08.2013, S. 31.