HT 2014: Der deutsche Historikerverband im interdisziplinären Vergleich

HT 2014: Der deutsche Historikerverband im interdisziplinären Vergleich

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
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Von
Birte Meinschien / Arvid von Bassi, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Schon seit einigen Jahren ist eine beachtliche Konjunktur historiografiegeschichtlicher Arbeiten zu verzeichnen. Auch auf Sektionen der Historikertage wird daher die Selbsthistorisierung des Faches vorangetrieben und dabei der eigene Verband in den Fokus der Untersuchung gerückt. So hatte man bereits in Mainz damit begonnen, das Gespräch über die Geschichte des Deutschen Historikerverbandes (VHD) zu eröffnen. Nachdem die dortigen Referenten den Weg des VHD von seiner Gründung im Jahre 1895 über die verschiedenen politischen Systemwechsel hinweg bis zum „Wiedervereinigungshistorikertag“ 1990 verfolgt hatten1, ging man nun in Göttingen daran, die spezifischen Eigenarten des VHD im Vergleich mit anderen Wissenschaftsorganisationen zu bestimmen und nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in ihrer Organisationsgeschichte zu fragen.

MARTIN SABROW (Potsdam), leitete die Sektion ein, indem er zahlreiche potentielle Forschungsfragen stellte, die vor dem Hintergrund der disparaten Quellenlage an eine Verbandsgeschichte gerichtet werden könnten. Schließlich handele es sich beim VHD weitgehend um eine „wenig verfestigte“, wenn nicht sogar um eine rein „virtuelle Institution“, die sich vornehmlich auf die Ausrichtung des Historikertages konzentriert habe und stark vom Handeln des jeweiligen Vorsitzenden abhängig gewesen sei. Eine Untersuchung des Verbandes müsse daher diese Überlieferungslage berücksichtigen, vor allem aber den Verband in die weitere Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einbetten. Das ließe den transdisziplinären Institutionenvergleich der Sektion als besonders gewinnbringend erscheinen, so etwa wenn den nicht nur für den VHD zentralen Fragen nach Professionalisierungsverläufen, innerfachlichen Inklusions- und Exklusionsmechanismen sowie allgemein dem Zusammenhang von Wissenschaft und Öffentlichkeit nachgegangen werde.

MATTHIAS BERG (Berlin), der für das laufende Forschungsprojekt die Zeit von der Gründung des Verbandes 1895 bis zur Reorganisation nach dem Zweiten Weltkrieg bearbeitet, gab sodann einen konzisen chronologischen Überblick über die Geschichte des VHD und warf die übergeordnete Frage auf, ob die Entstehung des eigenen Fachverbandes als Erfolgsgeschichte zu werten sei. Wenn man Erfolg anhand von Nachfrage und Zuspruch beurteile, so müsse auch nach Chancen und Hemmnissen bei der Gründung des VHD gefragt werden, wie Berg mit Verweis auf Rüdiger vom Bruch bemerkte. Bezeichnenderweise sei nämlich die Gründung des Verbandes keineswegs vom Zentrum, sondern vielmehr von der Peripherie des Faches ausgegangen, als süddeutsch-katholische Vertreter ihrer Marginalisierung durch verstärkte Vernetzung untereinander entgegenwirken wollten. Zudem habe gerade die Konkurrenz mit anderen Fachverbänden, vor allem die Konkurrenz durch den Juristentag, dazu geführt, die eigene innerfachliche Profilierung voranzutreiben. Überhaupt sei es am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer charakteristischen Ausdifferenzierung der Geisteswissenschaften gekommen, von der das junge Fach massiv profitiert habe; ein eigener Verband sei daher folgerichtig gewesen. Erst der Weltkrieg von 1914 bis 1918 und die daran anschließende politische wie ökonomische Instabilität hätten dazu geführt, dass die Entwicklung des Verbandes abgebremst worden sei. Der allgemeinen Krisenstimmung dieser Jahre habe sich auch der VHD nicht entziehen können, vielfach wohl auch nicht entziehen wollen. Weite Teile der Zeit nach 1918 bezeichnete Berg daher prononciert als „verbandslose Jahre“. Schließlich markierten die Jahre des Nationalsozialismus den Tiefpunkt, als der Verband vollständig im Schatten des Reichsinstitutes für Geschichte des neuen Deutschland unter der Leitung von Walter Frank gestanden hatte und lediglich zum Transmissionsriemen des Führerprinzips herabgesunken war. Matthias Berg stellte daher in einem kurzen Ausblick auf den noch zu bearbeitenden Zeitraum der Verbandsgeschichte nach 1945 die entscheidende Frage, welche Bedeutung personellen und inhaltlichen Kontinuitäten bei der Rekonstituierung des Verbandes zuzumessen sind.

An diese Ausführungen schlossen UWE DÖRK (Essen) und HENNING BORGGRÄFE (Bochum) ihre ersten Ergebnisse aus einem laufenden Forschungsprojekt über die Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) an. Uwe Dörk zeichnete dabei zunächst in großen Linien die unterschiedlichen Fachentwicklungen nach. Im Unterschied zur Geschichtswissenschaft sieht er die Entstehung der Soziologie ungleich stärker durch die Industrialisierung geprägt. Dennoch habe die Soziologie über einen langen Zeitraum hinweg über keinen verbindlichen fachlichen Kanon an Methoden und Institutionen verfügt. Anders als der VHD, der auf eine Grundlagenkrise flexibel reagiert habe, habe die DGS auf eine „epistemische Pluralität“ antworten müssen, die nur schwer integrierbar gewesen sei. Infolgedessen habe sich der Verband, so Dörk, bald professionalisiert und schließlich alle wesentlichen Funktionen eines wissenschaftlichen Fachverbandes erfüllt.2 Hierdurch sei es der DGS gelungen, anders als dem VHD, eine ganze Reihe von Großforschungsprojekten zu initiieren, die sich an industriellen Organisationsformen orientierten. Allerdings sei diese „hybride Form aus industriellem Betrieb, Arbeiterpartei und bürgerlichem Verein“ rasch an ihre Grenzen gestoßen. Ein Habitus-geprägter Hang zum Einzelgängertum sei nur schwer mit dem auf Kooperation ausgelegten Fachverband vereinbar gewesen. Insgesamt sei daher noch vor dem Ersten Weltkrieg das Engagement stets geringer als die Erwartungen gewesen. Bei ihrer Wiedergründung im Jahre 1922 reagierte die DGS auf diese Erfahrungen, indem sie die Zuständigkeiten des Verbandes begrenzte und vor allem die Steuerung des Verbandes nunmehr in die Hand einer kleinen, elitären Zahl hochqualifizierter Wissenschaftler legte – mit erheblichen Rückwirkungen auf das intellektuelle Selbstverständnis.

Sodann richtete Henning Borggräfe den Blick auf die Entwicklung der DGS nach ihrer Wiedergründung im Jahre 1946, die nicht ohne die Erfahrungen im Nationalsozialismus verstanden werden könne. Denn die westlichen Besatzungsmächte hätten der Soziologie ausdrücklich eine wichtige Rolle bei der Demokratisierung Deutschlands zugewiesen. Die äußeren Voraussetzungen zur Neugründung standen damit für die DGS deutlich günstiger als für den VHD, dessen national-konservative Fachtradition auf deutliche Vorbehalte bei den Besatzungsmächten stieß. Aber entgegen der lange Zeit vorherrschenden Sichtweise, die die deutsche Soziologie vorwiegend den Opfern der NS-Politik zurechnete, machte Borggräfe deutlich, dass dieses Bild differenzierter betrachtet werden müsse. Auch die Soziologie habe an vielen Stellen dem beschleunigten Prozess der (Selbst-)Gleichschaltung nicht widerstanden. Nach Kriegsende zogen dann Kreise um den langjährigen DGS-Präsidenten Leopold von Wiese ihre ganz eigenen Schlüsse aus dieser Erfahrung, indem sie noch mehr Macht auf den Präsidenten verlagerten, um – so die Argumentation – eine Wiederholung der Ereignisse zu verhindern, vor allem aber wohl, um auf diese Weise ihre Machtstellung im Verband weiter abzusichern. Ins Wanken geriet diese Organisation mit recht autoritärem Zuschnitt dann zunächst durch zahlreiche Reforminitiativen aus dem Umfeld von Ralf Dahrendorf und M. Rainer Lepsius. Vor allem aber forderte die Studentenrevolte von 1968 die DGS ungleich stärker heraus als den VHD.

TOBIAS S. SCHMUCK (Mainz) stellte zu Beginn seines Vortrages die Frage, warum Geschichtslehrer und Historiker nicht einen gemeinsamen Verband gegründet hätten. Er erklärte, dass bei der Gründung des Verbandes der Geschichtslehrer (VGD) im Jahr 1913 „unterschiedliche Schwerpunktsetzungen“ zur Gründung von zwei getrennten Verbänden führten. Im Vergleich zu anderen Verbänden verwundere es vielmehr, dass die Gründung des VGD (damals VdG) vergleichsweise spät erfolgt sei. In der Folge, dies machten Schmucks Ausführungen deutlich, lässt sich die Geschichte des VdG nur im komplexen Beziehungsgeflecht zum Philologenverband und zum VDH verstehen. Nachdem während des Ersten Weltkrieges die Arbeit des Verbandes fast vollständig zum Erliegen gekommen sei, wurde dieser erst in den 1920er-Jahren wieder stärker aktiv, 1924 kam es auf dem Frankfurter Historikertag erstmals zu einer Kooperation zwischen VGD und VDH. Der VGD habe zu dieser Zeit eine Doppelfunktion gehabt und sich nicht nur wissenschaftlich, sondern auch geschichtspolitisch betätigt, und zwar durchaus im Sinne der Nationalsozialisten. So kann die Wiederbegründung des VGD 1948 auch als Beispiel für Kontinuitätslinien dienen: Sowohl im Hinblick auf Personal – der Gründungsvorsitzende von 1913 war erneut an der Gründung beteiligt – als auch auf inhaltliche Fragen. Jetzt seien jedoch Unterrichtsthemen, nicht zuletzt durch die wachsende Bedeutung der Geschichtsdidaktik, nach der Wiedergründung des Verbandes das zentrale Thema gewesen, obschon im Hinblick auf die Fachzeitschrift GWU eine dauerhafte Debatte um das Verhältnis von „W“ und „U“ seit den 1980er-Jahren bestehe.

Der zweite Teil der Sektion begann mit einem Beitrag von HANS-HARALD MÜLLER (Hamburg) und MYRIAM RICHTER (Lüneburg) zum Thema „Der deutsche Germanistenverband – eine ‚Fachgenossenschaft‘ im Zielkonflikt“. Sie bezeichneten den 1912 gegründeten Verband als „verbandssoziologisch betrachtet, ein Kuriosum ohne Vorgeschichte“, denn er habe zahleiche Funktionen vereint: wissenschaftliche, schulpolitische und berufsständische. Er sei eine „Bewegung, ein nationalistischer Weltanschauungs- und Gesinnungsverein“ gewesen, der nicht als Reaktion auf fachliche Entwicklungen gegründet worden sei, sondern vielmehr um einen deutschkundlichen Diskurs durchzusetzen, der starke antimodernistische Elemente aufwies und zugleich einen umfassenden Bildungsanspruch vertrat. Ausdruck dessen sei die 1920 erfolgte Umbenennung in „Gesellschaft für deutsche Bildung“, einen „populären deutschvölkischen Gesinnungsverband“ gewesen. Mit diesem Programm habe die GfdB großen Einfluss auf die preußische Schulpolitik ausübt. Zwar sei der Verband nicht „gleichsam teleologisch in den Nationalsozialismus [ge]mündet“, jedoch anfällig für die NS-Ideologie gewesen und habe sich angepasst. Nach 1945 seien nach einer ersten gescheiterten Gründung erst 1952 die Verbände von Hochschullehrern und Deutschlehrern zum Germanistenverband vereinigt worden. Dieser Verband habe sich zunächst vorwiegend als moderierendes Gremium verstanden und sich daher als „Fachgenossenschaft“ bezeichnet. Der für Reformen im Fach wegweisende Münchener Germanistentag von 1966 habe zu keiner Reform im Fachverband geführt. Diese sei erst mit dem 1969 unter der Ägide von Walter Müller-Seidel verabschiedeten Reformprogramm erfolgt, das einen Prozess der „Modernisierung und Professionalisierung“ eingeleitet habe. In dieser „Reformära“ habe sich das Fach stark gewandelt und so profilieren können. Zum Abschluss betonten jedoch beide, dass seit den 1980er-Jahren die zentrifugalen Kräfte im Fach immer weiter zugenommen und den Germanistenverband geschwächt hätten.

Danach richtete LEVKE HARDERS (Bielefeld) mit der American Studies Association (ASA) den Blick auf einen nichtdeutschen und interdisziplinären Verband. Harders benannte in ihrem Vortrag drei zentrale Gründe für den Erfolg der 1951 gegründeten ASA. Zunächst sei das Anknüpfen an „strukturell-organisatorische Traditionen und bestehende Netzwerke“ wie die Modern Language Association oder die American Historical Association, aber auch der Rekurs auf bereits bestehende persönliche Kontakte, bedeutsam gewesen. Zweitens seien „Öffentlichkeit, Wissenschaftspolitik und Ressourcen“ von großer Bedeutung für die Etablierung der ASA gewesen – gelang es ihr doch durch das Einwerben von Fördermitteln von Wissenschaftsstiftungen und das Abhalten von Konferenzen, sich zu professionalisieren und als Expertin zu profilieren. Drittens seien Prozesse der In- und Exklusion und der Abgrenzung von „Laien“ zentral für die Konsolidierung der ASA gewesen. Diese Professionalisierungsprozesse fände man auch in anderen Fächern, diese ließen sich im Wesentlichen als Diskussionen um die „Durchsetzung verschiedener Modelle sozialer Beziehungen im akademischen Feld“ beschreiben, bei denen der sich auf Fakten beziehende researcher das Ideal gewesen sei. Diese Prozesse der Professionalisierung führten schließlich dazu, dass „männliche, weiße Professoren anerkannter Hochschulen“ die ASA dominierten – erst ab den 1960er- und 1970er-Jahren spielten Frauen und Angehörige marginalisierter Minderheiten eine stärkere Rolle.

Mit dem Kommentar von CHRISTOPH CORNELISSEN (Frankfurt am Main) schloss die Sektion. Cornelißen forderte zunächst eine noch eingehendere Kontextualisierung der politischen, fachlichen und gesellschaftlichen Bedingungen für das Verständnis der Geschichte von Fachverbänden insgesamt und fragte nach der Bedeutung von Ausgrenzungsprozessen für die Konsolidierung von Verbänden. Zudem sei eine Reflexion des Begriffs des Verbandes für die Analyse wichtig. Während im deutschsprachigen Raum häufig die klassische Definition Max Webers eines „Herrschaftsverbands“ herangezogen würde, sei das Verständnis im angelsächsischen Raum ein anderes, da hier die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses stärker betont würde. Cornelißen schloss seinen Vortrag mit drei Diskussionsanreizen und fragte erstens nach der Bedeutung der internen Öffentlichkeit für die Diskussion des disziplinären Wissens und die dadurch erfolgten Ausschließungsprozesse mit einer Trennung von „Profis“ und „Amateuren“. Zweitens betonte er die Integrationskraft von Verbänden beim Bündeln von Heterogenität und fragte in der Folge nach „Standardisierung“ und „Normierung“ durch Verbände. So stelle sich abschließend die Frage, ob es eine „Konvergenz“ hin zu einem „Normalverband“ gebe und ob nicht Verbände umso wirkmächtiger seien, je weniger ihre Bezugsdisziplin institutionalisiert sei.

In der anschließenden Diskussion wurde die Frage nach der Bedeutung von exogenen und endogenen Impulsen für die Verbandsentwicklung gestellt und zugleich vor einer zu sehr telelogischen Deutung und damit Selbstheroisierung gewarnt. Insgesamt wurde eine größere Kontextualisierung als wünschenswert betont.

Sektionsübersicht:
Sektionsleitung: Matthias Berg (Berlin) / Christoph Cornelißen (Frankfurt am Main)

Einführung:
Martin Sabrow (Potsdam), Der Fachverband der Historiker und sein historischer Ort. Fragen an eine vergleichende Verbandsgeschichte

Uwe Dörk (Essen) / Henning Borggräfe (Bochum), Wissen und Organisation. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie und der Historikerverband

Tobias S. Schmuck (Mainz), Der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) –eine Interessenvertretung der Historiker in der Schule?

Hans-Harald Müller (Hamburg) / Myriam Richter (Lüneburg), Der Deutsche Germanistenverband – eine „Fachgenossenschaft“ im Zielkonflikt

Levke Harders (Bielefeld), Professionalisierung und ihre Folgen: Die American Studies Association

Christoph Cornelißen (Frankfurt am Main), Kommentar

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu den Sektionsbericht HT 2012: Die organisierte Disziplin als Forschungsproblem. Perspektiven auf eine Geschichte des Historikerverbandes, 25.09.2012 – 28.09.2012 Mainz, in: H-Soz-Kult, 22.11.2012, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4504> (26.11.2014).
2 Vgl. hierzu die von Gabriele Lingelbach beim letzten Historikertag gemachten grundlegenden Reflexionen über die „Funktion und Entwicklung von Historikerverbänden“, in: GWU 64 (2013), S. 139-152.