Wachstum ohne Alternativen? Geschichtskulturelle und wissensgeschichtliche Dimensionen von Wachstumsnarrativen

Wachstum ohne Alternativen? Geschichtskulturelle und wissensgeschichtliche Dimensionen von Wachstumsnarrativen

Organisatoren
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Forschungsgruppe „Eine Wissensgeschichte der menschlichen Vielfalt im 20. Jahrhundert“
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.11.2014 - 07.11.2014
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Von
Florian Ferger, Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld

Wirtschaftliches Wachstum wird heute als Patentlösung der meisten gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Probleme angesehen. Ob es sich um Arbeitslosigkeit, Armut, die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates oder Staatsverschuldung handelt, ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) scheint alternativlos. Gleichzeitig mehren sich wachstumskritische Stimmen. So nahmen an der Anfang September in Leipzig ausgerichteten 4. degrowth-Konferenz über 3.000 Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen teil, die alle die Vorstellung einte, dass das moderne Wachstumsparadigma ein Teil des Problems und nicht der Lösung darstellt.

In einem von Veronika Lipphardt (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin), Martin Lücke (Freie Universität Berlin) und Birger Priddat (Universität Witten/Herdecke) veranstalteten interdisziplinären Workshop wurde nun gefragt, wie der Wunsch nach stetigem Wachstum zu einer so mächtigen Leitidee werden konnte. In ihren einführenden Statements stellten die Veranstalter_innen die leitende These des Workshops in den Raum, dass Wachstumsnarrative nur über ihre inhärente Zeitlichkeit verstanden werden können. Die Wachstumsidee sei deshalb so mächtig, weil die Geschichte als Wachstums- und Fortschrittsgeschichte erzählt werde und diese Erzählung wiederum unsere Zukunftserwartungen forme. Auf dem Workshop sollte darüber hinaus den Fragen nachgegangen werden, unter welchen spezifischen Bedingungen das Wachstumsnarrativ seine Wirkmächtigkeit entfalten konnte und ob kritische Positionen überhaupt in der Lage sind, die Wachstumsgläubigkeit herauszufordern.

Der Workshop begann mit einer von BIRGER PRIDDAT (Witten) präsentierten wirtschaftshistorischen Ideengeschichte – die dann aber doch über diese hinausging. In Priddats Vortrag wurde sehr deutlich, dass das wirtschaftliche Wachstumsparadigma nicht verstanden werden kann, ohne den grundlegenden Wandel der Weltbilder im Zuge von Aufklärung, Säkularisierung und Ökonomisierung in den Blick zu nehmen. Solange die gesellschaftliche Ordnung und Positionsverteilung (beispielsweise Armut) als gottgegeben verstanden werde, mache die Idee einer „Verbesserung des Lebens“ schlicht keinen Sinn. Erst säkulare Vorstellungen ermöglichten es, eine ökonomische Verbesserung des Lebens überhaupt zu denken. Im Zuge der Aufklärung wird dann das Erlösungsversprechen vom Himmel auf die Erde geholt. Die utilitaristischen Glückseligkeitslehren spiegeln genau das wider: Glück kann nun bereits auf Erden verwirklicht und im Prinzip unendlich gesteigert werden. Heute gilt es, „seine Zeit zu nutzen“ und in der begrenzten Dauer des irdischen Lebens möglichst viele (der unendlich vorhandenen) Optionen umzusetzen. Dies ist der Hintergrund, vor dem Priddat seinen Vortrag mit „Wachstum als heaven on earth-Narrativ“ übertitelte. Wachstum ist das säkulare Erlösungsversprechen des Kapitalismus.

Für Priddat lässt sich Wachstum als „fundamentale Kategorie“ nicht durch kritische Diskurse beseitigen. Stattdessen sieht er (was letztlich empirisch zu überprüfen wäre), dass die Menschen vor dem Hintergrund der realen Entwicklungen den Glauben an eine ewige materielle Steigerung verlieren. Damit verschwinde auch der Glaube an den Kapitalismus und es eröffneten sich Räume für „neue Religiosität“.

Während für Priddat die Entstehung des Wachstumsversprechens mit der Entstehung des modernen Kapitalismus einhergeht und daher nicht ohne diesen verstanden werden kann, ist Wachstum für WOLF DIETER ENKELMANN (München) ein „unhintergehbares Phänomen aller Zivilisation“. Wachstum beginnt für Enkelmann mit der „Gewinnökonomie“, die er da ausmacht, wo die Produktion über das zur bloßen Reproduktion Notwendige hinausgeht. Das gute Leben sei immer mehr als das bloße Leben. Enkelmann stellt damit eine These auf, die für viele Wachstumskritiker die – wie zuletzt Barbara Muraca1 – das gute Leben einer Wachstumsgesellschaft entgegenstellen, überraschend sein dürfte: Gerade das Streben nach dem guten Leben (und nicht der moderne Kapitalismus) wäre damit die Geburtsstunde des Wachstums. Es bleibt zu diskutieren, inwiefern die durchaus unterschiedlichen Schlussfolgerungen von Priddat und Enkelmann lediglich auf die Verwendung eines weiten versus eines engen Wachstumsbegriffs zurückgehen.

Letztlich wirft diese Differenz eine meines Erachtens zentrale Frage auf, nämlich, wo eine Wachstumserzählung beginnt. Ist der Wachstumsbegriff auf materielles Wachstum zu begrenzen? Oder muss schon die abstrakte Idee von Fortschritt, oder sogar des Besseren als Wachstum bezeichnet werden? Ein sehr weiter Wachstumsbegriff wie er von Enkelmann verwendet wurde, lässt die Wachstumskritik jedenfalls ins Leere laufen. Dann ist, wie Enkelmann in der Diskussion anmerkte, selbst die Erzählung des bekannten Wachstumskritikers Niko Paech2 eine Wachstumserzählung: Es gehe ihm schließlich um mehr Glück durch weniger materielle Güter. Oder mit den Worten Clemens Albrechts: Die Wachstumskritik muss sich selbst als Wachstum darstellen, um geglaubt zu werden.

Nach den theoretischen Vorträgen präsentierte MATTHIAS SCHMELZER (Genf) eine empirische Untersuchung der Entwicklung des Wachstumsnarrativs innerhalb der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD). Schmelzer verwies darauf, dass die Durchsetzung von Wirtschaftswachstum als selbst-evidentes Ziel keineswegs selbstverständlich, sondern ausgesprochen erklärungsbedürftig sei. Die quantitative Auszählung des Begriffes „Wirtschaftswachstum“ in der Fachliteratur zeigte dann auch sehr deutlich, dass Wachstum als zentrales Thema selbst der Wirtschaftswissenschaft historisch gesehen neueren Datums ist. Im Zeitraum zwischen 1950 und 1970 nahm die Popularität des Begriffes rasant zu und verbleibt seitdem auf hohem Niveau. Die qualitative Analyse zeigte sodann, dass das Wachstumsparadigma der OECD aus vier verschiedenen Elementen besteht. Erstens wird davon ausgegangen, dass das BIP Wirtschaftswachstum adäquat misst. Zweitens wird Wachstum als Allheilmittel für viele gesellschaftliche Probleme angesehen und, drittens, davon ausgegangen, dass Wachstum unendlich verfügbar sei – vorausgesetzt, die richtigen Politiken würden verfolgt. Zuletzt wird Wirtschaftswachstum als universeller Indikator für grundlegende gesellschaftliche Ziele wie Fortschritt, Wohlstand und nationale Macht verstanden. Laut Schmelzer hat damit die OECD eine wichtige Gegenöffentlichkeit zur wachstumskritischen Erzählung des Club of Rome geschaffen.

Auch OLIVER KUTTNER (Berlin) präsentierte die Ergebnisse einer empirischen Studie. Er analysierte, wie sich Wachstumsnarrative in zeitgenössischen Berliner Schulbüchern darstellen. Seine Ergebnisse zeigen, wie Geschichte dort als Fortschritt durch sozioökonomisches Wachstum erzählt wird. Kuttner untersuchte die drei Themenkomplexe Frühkapitalismus, Industrielle Revolution und Weltwirtschaftskrise und beobachtete, dass die Themenfelder in ein Fortschrittsparadigma eingebettet werden und sich unter einem Masternarrativ Wachstum subsummieren lassen.

Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin CHRISTINE KÜNZEL (Hamburg) untersuchte das Wachstumsnarrativ im Hinblick auf seine Analogie zur Erzählform des Märchens. Wachstum als aus der Biologie entnommene Metapher erfülle, so Künzel, innerhalb der ökonomischen Theorie die Funktion, die Ökonomik als exakte Wissenschaft zwischen den Naturwissenschaften zu verorten. Sie zitierte den Genfer Entwicklungsforscher Gilbert Rist mit den Worten „obviously, one cannot be against growth if it is considered part of nature“. Mit dieser Naturalisierung von Wachstum aber verrate die Ökonomik ihren naturwissenschaftlichen Scheinstatus, schließlich sei es in den Naturwissenschaften common sense, dass die Natur kein unendliches Wachstum kennt. Stattdessen folge die Wirtschaftswissenschaft der Erzählform des Märchens, in der Wunder alltäglich sind und Schlaraffenland-gleich unendlich verfügbare Ressourcen ewiges Wachstum ermöglichen. Die Wachstumserzählung als Märchen wurde zu einer Beschreibung, die im Laufe des Workshops von den Diskutant_innen gerne aufgegriffen wurde.

Dass Wachstum eine ursprünglich biologische Kategorie darstellt, spielte auch im Vortrag von AXEL HÜNTELMANN (Mainz) eine wichtige Rolle. Auch für ihn scheint die Übertragung von ursprünglich natürlichen auf gesellschaftliche Prozesse ein wichtiger Faktor zur Erklärung des „Siegeszugs“ des Wachstumsparadigmas darzustellen. Hüntelmann zeigte aufgrund historischer Darstellungen auf, wie dass menschliche Leben als zyklischer Prozess von Wachsen, Werden und Vergehen verstanden wurde. Die ökonomische Theorie blende nun diesen Aspekt von Wachstum – das auf Wachstum Stagnation und Tod folgt und aus dem Vergehen wieder neues Leben entsteht – konsequent aus und verwende statt dessen nur den ansteigenden linken Teil einer typischen Wachstumskurve. Damit wirft der Vortrag von Hüntelmann die Frage auf, inwiefern das kollektive Wachstumsnarrativ überhaupt mit lebensweltlichen Erfahrungen von Werden und Vergehen korrespondiert.

VERONIKA LIPPHARDT (Berlin) untersuchte in ihrem Beitrag eine spezifische Wachstumserzählung, nämlich das gesellschaftlich konstruierte Wissen über einen Menschentypus, der oft als Vergleichsfolie zur Moderne herhalten muss: den naturnah lebenden und wirtschaftenden Jäger und Sammler. Dazu analysierte sie Darstellungen der Menschheitsgeschichte in Ökologie-Lehrbüchern. Demnach lebten die Jäger und Sammler aufgrund ihrer Naturabhängigkeit in einer permanenten Unsicherheit. Die Neolithische Revolution ermöglichte es nun, ein Mehr an Gütern zu produzieren und so Versorgungssicherheit zu generieren. Diese Akkumulation war dann geeignet, kulturelle und andere Wachstumsprozesse in Gang zu setzen. Es wuchs nun das Gehirn und die Intelligenz, Wissen, Schrift, Fitness, Technologie und vieles mehr. Der Mensch müsse sich nun nicht mehr an die Natur anpassen, sondern könne diese seinen Vorstellungen entsprechend gestalten. Hier wird dann auch die Geburtsstunde der Wirtschaft verortet. Dabei wird der frühe Homo Sapiens als eine Gattung dargestellt, die von Natur aus der Wirtschaftsform des Kapitalismus zugeneigt ist, die Entwicklung hin zu Mehrproduktion, Konkurrenz und Wettbewerb wird somit naturalisiert. Der Beitrag von Veronika Lipphardt lieferte ein Beispiel, wie Wachstumswissen in populäre Darstellungen über die Geschichte eingebettet ist und dort als vermeintlich sichere, historisch und naturwissenschaftlich fundierte Wahrheit nicht mehr hinterfragt werden kann.

Auch MARTIN LÜCKE (Berlin) analysierte für seinen Beitrag wie Wachstumsnarrative in Erzählungen über die Vergangenheit eingeflochten sind. Exemplarisch untersuchte er die Darstellung von Wirtschaftsgeschichte in zwei Museen, dem Ruhrmuseum Essen und dem Deutschen Historischen Museum Berlin. Nach einer kurzen Einführung in das Analyseinstrument „Geschichtskultur“ legte er dar, dass in beiden Museen keine Alternativen zum Wachstumsnarrativ aufgezeigt werden. Wirtschaftsgeschichte ist dort eine Geschichte des Fortschritts, der im Wesentlichen aus immer mehr und besserer Warenproduktion besteht. Paradigmatisch für diesen Fortschritt stehe dabei das Automobil. Interessant ist insbesondere auch, wie mit Elementen umgegangen wird, die die Wachstums- und Fortschrittserzählung stören. Lücke führt als Beispiel die ausgestellte „Staublunge“ eines Kumpels aus dem Ruhrgebiet an. Solche Elemente werden als temporäre negative Begleiterscheinungen des Fortschritts dargestellt, nicht aber als Entwicklungen, die die Fortschrittserzählung grundlegend in Frage stellen. Diese Untersuchung, aber auch die Vorträge von Lipphardt und Kuttner plausibilisieren damit die These des Workshops, dass Wachstumserzählungen ein fester Bestandteil unserer Geschichtskultur sind. Diese positiven historischen Erfahrungen im Hinblick auf Wachstum (beispielsweise beim Museumsbesuch) würden, so Lücke, in die Zukunft verlängert. Da die menschliche Geschichte als eine Geschichte von Wachstum und Fortschritt erzählt werde, werde aus der Wachstumserfahrung eine Wachstumserwartung.

CLEMENS ALBRECHT (Koblenz) konnte auf der Tagung leider nicht persönlich vortragen, stellte aber dankenswerterweise sein Manuskript zur Verfügung. Darin untersucht er das Wachstumsnarrativ anhand von Modernisierungstheorien. Er stellte dabei zunächst eine linear ansteigend verlaufende historisch-ökonomische Semantik (das sind die großen Wachstums- und Fortschrittserzählungen in Bezug auf die Gesellschaft oder Nation) einer zyklisch biologisch-biographischen Semantik gegenüber (das menschliche Leben als Prozess von Wachsen, Werden und Vergehen, wie es auch von Hüntelmann stark gemacht wurde). Beide widersprächen sich, so Albrecht, es könne aber sowohl das zyklische als auch das lineare Modell Grundlage einer generalisierenden Wirklichkeitsdeutung werden. Die entscheidende Frage sei nun, unter welchen Bedingungen welche Semantik zur dominierenden werde. Dabei stellt er die These auf, dass den Modernisierungstheorien eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung linearer Wachstumssemantik als „Normalvorstellung“ zukommt.

In der Abschlussdiskussion brachte HARALD WELZER (Flensburg) dann noch einmal die wachstumskritische Position auf die Tagesordnung. Er verwarf allerdings den Begriff „Postwachstum“ als untauglich, da er sich an das kette, was er kritisiere (Matthias Schmelzer dagegen verteidigte den Begriff). Welzer warf sodann die Frage auf, was es eigentlich für eine Gesellschaft bedeute, wenn eine Erzählung wie Wachstum so zentral werde – ohne eine endgültige Antwort geben zu wollen. Er vermutet aber, dass die derzeitige permanente Beschwörung von und das Versprechen auf Wachstum gerade auf die Krisenhaftigkeit unseres, auf Wachstums angewiesenen, Gesellschaftsmodells verweist. Dabei schienen sich die Diskutierenden recht einig in der Einschätzung, dass die Wachstumserzählung mit Christine Künzel als „Märchenerzählung“ verstanden werden könne und damit von Politiken, die Wachstum als Lösung darstellen, nicht viel zu erwarten sei. Die Abschlussdiskussion machte damit erneut deutlich, welche gesellschaftliche Relevanz dem hier zwei Tage intensiv diskutierten Thema zukommt. Gleichzeitig zeigte der Workshop, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema noch recht am Anfang steht. Ein inter- oder transdisziplinärer Zugang scheint jedenfalls notwendig, um der Vielschichtigkeit der Problemstellung gerecht zu werden.

Für mich stellte sich aus soziologischer Perspektive insbesondere die Frage, inwiefern die großen, kollektiven Wachstumserzählungen mit lebensweltlichen Erfahrungen korrespondieren. Diese, von Clemens Albrecht am stärksten explizierte Frage schien in einer ganzen Reihe von Vorträgen durch und wurde meist dahingehend beantwortet (so vor allem bei Albrecht und Künzelmann), dass die biographische Lebenswirklichkeit mit ihrer Logik von Werden und Vergehen einen Gegenpol zu den linearen Wachstumsnarrativen darstelle. Ich vermute allerdings, dass es eine ganze Reihe von „vermittelnden Faktoren“ gibt, die Lebenswelt und lineare Wachstumserzählungen in Einklang bringen. Hier ist beispielsweise das von Priddat als solches bezeichnete heaven on earth-Narrativ zu nennen. Wenn das säkulare Glücksversprechen besagt, dass das individuelle Glück vor dem Tod maximiert werden kann, so führt das zu biographischen Wachstumsmöglichkeiten oder sogar zum Wachstumszwang. Es gilt nun, die unendlichen Möglichkeiten der eigenen Biographie immer effizienter zu nutzen.3

Individuell-biographisches Wachstum wird insbesondere realisiert durch materiellen Konsum und sozialen Aufstieg. Hier ließe sich an Colin Campbell4 anknüpfen, der die Entstehung des modern consumerism aus der Romantik heraus erklären will und dabei enge Bezüge zur sich dort entwickelnden Idee des sozialen Aufstiegs herstellt. Möglicherweise wird der zyklische Verlauf der eigenen Biographie auch dadurch relativiert, dass – wie Veronika Lipphardt anmerkte – der komplette Generationenzusammenhang, und nicht nur das eigene Leben die Lebenswirklichkeit konstituiert. Dann kann die eigene Biographie durchaus als Wachstum erlebt werden: uns geht es (materiell und sozial-hierarchisch) besser als unseren Eltern, und daher erwarten und fordern wir, dass es auch unseren Kindern einmal besser gehen soll.

Einen weiteren Link zwischen biographischer und historisch-ökonomischer Semantik stellt möglicherweise die Nation dar. Die kollektive Wachstumserzählung ist fast immer eine nationale, wie auch die Ökonomik im Hinblick auf Wachstum vor allem national-ökonomisch bzw. volks-wirtschaftlich geprägt ist. Wie Birger Priddat anmerkte, wird Wachstum heute als politische Metapher für den Einfluss von Nationalstaaten verstanden. Nationalismus führt nun dazu, dass die eigene Biographie als eng mit dem Aufstieg (bzw. Fall) der „eigenen“ Nation erlebt wird. In nationalistischer Gemeinschafts-Semantik wird Wachstum zur win-win-Situation: Das Individuum – als untrennbar mit der Nation verbunden – arbeitet für Größe und Wachstum der Nation und gewinnt mit ihr. Das Wachstumsversprechen verbunden mit nationalistischer Semantik löst gesellschaftliche Konflikte scheinbar auf und stabilisiert damit die nationale Gesellschaft – ich vermute hier einen wichtigen Faktor zur Erklärung des Wachstumsnarrativs als gesellschaftlicher Leitidee.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Vorstellung des Projektes

Veronika Lipphardt / Martin Lücke (beide Berlin) / Birger Priddat (Witten)

Vorträge und Diskussion

Rolf Peter Sieferle (St. Gallen), Der universalgeschichtliche Ort des Wirtschaftswachstums

Birger Priddat (Witten), Wachstum als „heaven on earth“-Narrativ

Christine Künzel (Hamburg), Prinzip Schlaraffenland? Die märchenhafte Logik des Wachstumsnarrativs

Wolf Dieter Enkelmann (München), Narrativ „Europa“ – Exzentrik als Prinzip und das szientifische wie populäre Bedürfnis nach Remythologisierung

Clemens Albrecht (Koblenz), Modernisierung

Matthias Schmelzer (Genf), Die Selbstevidenz des Wachstumsparadigmas: Hegemonie, Wirtschaftsexperten und internationale Organisationen

Axel Hüntelmann (Mainz), Wachsen, Werden und Vergehen. Archäologisches Arbeiten an den verschütteten biologischen Fundamenten ökonomischen Wachstums

Veronika Lipphardt (Berlin), Zum Wachstumsnarrativ des Steinzeitmenschen

Martin Lücke (Berlin), Wachstumsnarrative in Geschichtskulturen

Oliver Kuttner (Berlin), Schulbuchforschung als Wachstumskritik. Analyse sozioökonomischer Narrative in Schulgeschichtsbüchern

Diskussionsrunde und offene Diskussion
Moderation: Martin Lücke (Berlin)

Ute Tellmann (Hamburg) / Harald Welzer (Flensburg) / Hartmut Rosa (Jena)

Anmerkungen:
1 Barbara Muraca, Gut Leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums, Berlin 2014.
2 Niko Paech, Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, 5. Auflage,
München 2013.
3 Hier finden sich sicher viele Anregungen in der Beschleunigungssoziologie Hartmut Rosas, vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005.
4 Colin Campbell, Romanticism and The Consumer Ethic: Intimations of a Weber-style Thesis, in:
Sociological Analysis 44.4 (1983), S. 279–296.


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