Musik und Vergnügen am Hohen Ufer. Fest- und Kulturtransfer von Venedig nach Hannover in der Frühen Neuzeit

Musik und Vergnügen am Hohen Ufer. Fest- und Kulturtransfer von Venedig nach Hannover in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover; VolkswagenStiftung Hannover; Musikwissenschaftliches Seminar Detmold/Paderborn; Deutsches Studienzentrum Venedig
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.12.2014 - 05.12.2014
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Von
Claudia Kaufold, Forum Agostino Steffani, Hannover / Oldenburg; Martin Loeser, Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die von Nicole K. Strohmann (Hannover) und Sabine Meine (Paderborn/Detmold) veranstaltete internationale und interdisziplinäre Tagung untersuchte den Transfer der Musik- und Festkultur zwischen Venedig und Hannover und die vielfältige gesellschaftliche Bedeutung, die Musik und Vergnügen für den gleichermaßen politisch wie kulturell ambitionierten Welfenhof und die Residenzstadt Hannover hatten. Die Herausforderung einer adäquaten Annäherung bestand dabei nicht nur in den mannigfaltigen Elementen der Feste selbst, sondern in der mit der Einmaligkeit dieser Inszenierungen verbundenen Flüchtigkeit der dargebotenen Sinnesgenüsse. Die Veranstaltung stellte den ersten Teil einer Doppeltagung dar, deren zweiter Teil am 5. und 6.2.2015 am Deutschen Studienzentrum in Venedig stattfinden und sich vor allem der venezianischen Musik- und Festkultur und der Partizipation ausländischer Gäste an dieser widmen wird. Hier in Hannover stand hingegen der Transfer an die Welfenhöfe und vergleichbare europäische Höfe im Zentrum, mit Fokus auf dem 17. und frühen 18. Jahrhundert.

Zu Beginn der maßgeblich von der Volkswagen-Stiftung geförderten Tagung standen drei Keynotes, die methodische Überlegungen ins Zentrum rückten: JOSEPH IMORDE (Siegen) skizzierte anhand der für das späte 17. und frühe 18. Jahrhundert zentralen Zeremonialschriften von Johann Christian Lünig und Julius Bernhard von Rohr die grundlegende Bedeutung materieller und performativer Distinktionshandlungen, die er am Beispiel der im Venedig des 16. und 17. Jahrhunderts üblichen „Schau-Essen“ mit ihren raffinierten Zuckerfiguren veranschaulichte. STEFAN KEYM (Leipzig) führte ein in die maßgeblich von Michel Espagne und Michael Werner etablierte Kulturtransferforschung und hinterfragte vor diesem Hintergrund die europäische Verbreitung und vielfältige Aneignung der „italienischen“ Oper. Dabei legte er seinen Fokus auf die von François Raguenet (1702) angestellte Paralèle des Italiens et des François en ce qui regarde la Musique et les Opéra und auf die schon 50 Jahre zuvor von Jean Baptiste Lully im Ballet de la Raillerie benannten Unterschiede zwischen italienischem und französischem Opernstil. SUSANNE RODE-BREYMANN (Hannover) wiederum zeigte die kaum zu überschätzende Bedeutung italienischer Akteurinnen für den Kulturtransfer in den Norden am Beispiel des Habsburger Hofes in Wien. Zentral waren dabei namentlich die Fürstinnen, die bereits durch den mit ihrer Heirat verbundenen Ortswechsel, etwa wie derjenige von Eleonora I. von Mantua nach Wien, zu zentralen kulturellen Vermittlerinnen wurden, da sie in ihrem „kulturellen Gepäck“ Moden, Normen, Dinge oder auch Künstler mitführten und an deren Akkulturation mitwirkten.

Sektion 2 und 3 boten Fallstudien zur Gestaltung der Karnevals- und Festkultur in Venedig und nördlich der Alpen. JULIA GEHRES (Mainz) differenzierte eindrucksvoll die historische Verwendung und die Formen unterschiedlicher Maskentypen wie Schauspiel-, Karnevals- und venezianischer Gesellschaftsmaske in der venezianischen Fest- und Karnevalskultur und dekonstruierte damit zugleich den Mythos des „immerwährenden Karnevals“. Das Referat von ULRIKE KAMMERHOFER-AGGERMANN (Salzburg), krankheitshalber verlesen von Sabine Meine, thematisierte anhand der Chronik des Johannes Stainhauser (1612 1619) die Bedeutung höfischer und ländlicher Maskeraden, namentlich der des „Wilden Mannes“, im Salzburg des Fürsterzbischofs Markus Sittikus von Hohenems, ebenso die deutliche Bezugnahme auf Venedig. Anhand des Italien-Reisetagebuchs Ferdinands von Bayern aus dem Jahr 1579 vermittelte FRANCESCO PEZZI (Augsburg/Rom) einen „wittelsbachischen“ Blick auf die Reise von München nach Venedig, Mantua und Ferrara, die besuchten Veranstaltungen wie Gottesdienste, Tänze, Maskenbälle und die vor Ort gehörte Musik, namentlich in San Marco oder im Concerto delle donne. HELEN GEYER (Weimar) diskutierte schließlich die Vorbildrolle Venedigs für die mitteldeutschen Residenzen, insbesondere angesichts deren bescheidener materieller Verhältnisse und der daraus erwachsenden künstlerischen Diskrepanz. Der erste Tagungstag endete mit einem fulminanten Höhepunkt: einem Konzert des auf alte Musik spezialisierten Ensembles Musica Alta Ripa und des italienischen Geigenvirtuosen Riccardo Minasi.

Den Auftakt des zweiten Tagungstages bildete der medizingeschichtliche Beitrag von SABINE HERRMANN (Göttingen) über die Auswirkungen der sinnlichen Vergnügungen auf den Körper. Anhand der einschlägigen – vornehmlich französischen – Memoiren und Enzyklopädien verdeutlichte die Casanovaspezialistin die ambivalente Sichtweise auf die Syphilis vom Ausgang des 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Einerseits führte Galanterie als ein Bestandteil des höfischen Ideals des honnête homme angesichts der Verbreitung der Krankheit und der ärztlichen Machtlosigkeit zur Akzeptanz, andererseits bewirkten die grässlichen Entstellungen und die Auffassung von Begehren als Todsünde zum schamhaften Umgang mit der Seuche. Herrmann arbeitete die unterschiedliche Be- und Verurteilung der Befallenen nach Geschlechtern, Stand und zeitlichem Verlauf heraus: Demnach durften männliche Adlige zur Zeit Ludwigs XIV. auf das meiste Verständnis hoffen.

MARINA RUFFINAZZI-LEUE (Hannover) unterrichtete abschließend in Sektion IV zu Inszenierungen des Körpers über die italienische Komödiantentruppe am Celler Hof und ging nach einem kurzen Blick auf Carlo Goldonis Theaterreform, wonach die bis dahin festen Figuren der Commedia dell´Arte zu echten Charakteren umgearbeitet wurden, auf die vier wesentlichen der ursprünglichen Typen ein. Mithilfe eines Schauspielers wurden zum Vergnügen des Auditoriums geographische und soziale Herkunft des Dieners Arlecchino, des Doktors Balanzone, des Kaufmanns Pantalone und der Dienerin Colombina „visuell“ erklärt sowie ihre typischen Gesten, Ausdrucksweisen und ihre Funktion in den Stücken vorgeführt. Der Spiegel der Celler Quellen machte dann zum Beispiel die unterschiedliche Bezahlung der Schauspieler nachvollziehbar.

Die Sektionen V und VI befassten sich mit der welfischen Musik- und Festkultur, musikalischen Transferprozessen und ihrer Wirkung. Der sehr kenntnisreiche und übersichtlich strukturierte Vortrag von MARGRET SCHARRER (Saarbrücken) hatte die Rezeption des französischen Musiktheaters an deutschen Residenzen zum Thema, insbesondere die Einbindung von Balletten in Bühnenstücke an den Höfen Ernst Augusts in Iburg, Osnabrück und später Hannover. Als Schwierigkeit im Umgang mit den Quellen – Textbüchern aus der Universitäts- und Landesbibliothek Hannover und der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel – erweist sich, dass die Musik oder genaue Angaben zu den Tänzen meistens nicht überliefert sind, sodass nur die Libretti Rückschlüsse für die Sujetanalyse erlauben. Berücksichtigt werden müssen zum Teil auch Abweichungen in den Partituren, was für die von Agostino Steffani in der British Library aufbewahrten Opernkompositionen gilt. Die dramatische Funktion der Ballette ließ sich jedoch klar belegen. Es konnte außerdem nachgewiesen werden, dass sich Bühnentänze durch reisende Adlige und ihre mitgeführten Kapellen europaweit verbreiteten. So erregten die Welfen in Venedig Aufsehen mit englischen Tänzen. Am praktischen Kulturtransfer wirkten alle reisenden Mitglieder der Herzogsfamilie mit, indem sie etwa Komödianten und Musiker in Paris für die Heimathöfe engagierten.

STEFANIE PRITZLAFF (München) entwickelte zu Beginn ihrer Ausführungen über Johann Adolf Hasse, der längere Zeit in Wolfenbüttel angestellt war, und seine Werke für die „Flauto Traversier“ ein modern inspiriertes Modell zum Kulturtransfer, das unter anderem mit dem 1944 entwickelten Begriff der Globalisierung arbeitet. Obwohl das Modell letztlich nicht ganz überzeugen konnte, wirkte der sehr erfrischende Vortrag durch die betriebswirtschaftlich-technische Sichtweise inspirierend. Die Referentin konnte die Geschäftstüchtigkeit englischer Musikverleger – hier am Beispiel von John Walsh, London – nachvollziehbar machen und zeigen, wie Hasse durch Verwendung mehrsprachiger Begriffe für die Traversflöte ebenfalls die Notenverkäufe europaweit erleichterte.

Im Zentrum der Ausführungen von SABINE EHRMANN-HERFORT (Rom) standen die Romaufenthalte des ältesten der vier Welfenbrüder, Johann Friedrich, der hinsichtlich des italienisch-französisch-welfischen Kulturtransfers als Hauptfigur gelten kann. Der 1651 zum katholischen Glauben konvertierte Herrscher, der seine Reisen nach Italien ungewöhnlicherweise auch als Regent fortsetzte, ließ seiner Verbindung zu dortigen Künstlern, Geistlichen und Fürsten auch politische Taten folgen – wie etwa die Waffenhilfe für die Republik Venedig gegen das Osmanische Reich. Die Vortragende beschrieb im Sinne der Patronageforschung seine Kontakte zu dem bedeutenden Mäzen Fürst Colonna und seiner Gattin Maria Mancini, dem geistlichen Komponisten Graziani und de´ Grandis und führenden Jesuiten. Sie zeichnete außerdem die Wanderwege so bedeutender Opern wie Cestis „L´Orontea“ von Rom über Venedig und Innsbruck nach Hannover nach. Dass dabei – wie bei der Anwerbung katholischer Musiker für Hannover – auch politische Aussagen transportiert wurden, illustriert sehr anschaulich das Bildprogramm des Textbuches.

Die Händelforscherin HELEN COFFEY (Milton Keynes) revidierte in ihrem Bericht über die Patronage Georg Ludwigs – nachmals George I – das Bild des „eiskalten“ Mannes, wie ihn seine Tante Lieselotte von der Pfalz von Versailles aus beschrieb. Der allgemeinen Ansicht, mit dem Amtsantritt von Ernst Augusts Sohn 1698 sei am hannoverschen Hof die musikalische Dürre ausgebrochen, widersprach sie unter anderem anhand von Kammerrechnungsbelegen. Wohl gab es keinen Opernbetrieb mehr – der schließlich aus Ernst Augusts Einkünften als Bischof von Osnabrück finanziert worden war, die nun weggefallen waren –, dafür wurde jedoch das Orchester ausgebaut. Die Anzahl der allerdings mehrheitlich deutschen Instrumentalisten nahm zu, sogar noch nach der Verlegung der Hofhaltung nach London. Ebenso wenig war die Verbindung nach Venedig gekappt: Als Zeichen der welfischen Präsenz wurden nach wie vor Opernlogen und der Palast Ca´ Foscari gemietet. Mehrere Agenten waren in Venedig für Georg Ludwig tätig. Nicht zuletzt wurde Händel neu eingestellt, dem Steffanis Librettist Ortensio Mauro Duetttexte schrieb. Das gut belegte Ergebnis lautete also, dass der spätere englische König lediglich weniger extravagant war als sein Vater, von kultureller Stagnation konnte aber keine Rede sein.

Reinmar Emans (Hamburg) nahm bei der Frage nach dem Umfeld der welfischen Festkultur die Höfe von Wolfenbüttel/Braunschweig und Salzdahlum in den Blick, wo venezianische Opern umgearbeitet, ins Deutsche übertragen und um große Ballette erweitert aufgeführt wurden, und zeigte den Unterschied zwischen den höfischen Opern in Wolfenbüttel und Salzdahlum und den öffentlichen Opern in Braunschweig auf. Als Folge der Rivalität unter den welfischen Vettern erlebte demnach der Wolfenbütteler Hof ein ausgesprochen produktives Erblühen des kulturellen Lebens, zu dessen weiterer Erforschung Emans anregte.

Aus den regen interdisziplinären Diskussionen wurde einsichtig, dass Venedig nicht etwa als originäre Modellstation für einen einseitigen Transfer in den Norden anzusehen ist, sondern vielmehr von gesamteuropäischen Wechselwirkungen der Fest- und Vergnügungskultur zwischen den Welfenhöfen, anderen höfischen Zentren nördlich der Alpen und elitären Kreisen in Venedig, Rom und Paris auszugehen ist. Dabei ist zwischen höfisch-politischen Handlungen des Kulturtransfers, der Akkulturation und der Interkulturalität zu differenzieren. Die Kavaliers- und Vergnügungstouren zum Karneval nach Venedig haben daran einen wesentlichen Anteil, wenngleich der Karneval in der Frühen Neuzeit bereits ein weitgehend standardisiertes europäisches Phänomen war. Desiderat blieb die Ausdifferenzierung zwischen städtischen und höfischen sowie elitären und populären Kulturen. Angeregt wurden weitere Einzel- und Vergleichsstudien zum Musik- und Festleben an den benachbarten Welfenhöfen. Mit diesen Vorsätzen wird mit Spannung der zweite Teil dieser Doppeltagung am 5. und 6. Februar 2015 am Deutschen Studienzentrum in Venedig erwartet. Dieser widmet sich der Musik- und Festkultur Venedigs der Frühen Neuzeit und beleuchtet die Partizipation der Welfen und anderer ausländischer Besucher.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und thematische Einführung
Wilhelm Krull (Volkswagen Stiftung), Begrüßung

Susanne Rode-Breymann (Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover), Grußwort

Sabine Meine (Detmold/Paderborn) / Nicole K. Strohmann (Hannover), Thematische Einführung

Sektion I: Musik und Vergnügen am Hohen Ufer Venedigs: Zwischen Fabrikation, Modellbildung und Transfer – Methodische Überlegungen

Joseph Imorde (Siegen), Höfisches Zeremoniell und Herrschaftliche Festkultur (Keynote)

Stefan Keym (Leipzig), Die internationale Aneignung der „italienischen Oper“ im 17. und 18. Jahrhundert als Gegenstand der Kulturtransferforschung (Keynote)

Susanne Rode-Breymann (Hannover), Italienische Akteurinnen des Kulturtransfers in den Norden (Keynote)

Sektion II: Karnevals- und Festkultur in Venedig und nördlich der Alpen. Transfer, Rezeption und Adaption (Teil 1)

Julia Gehres (Mainz), „La città delle maschere“. Maskierungsformen in der venezianischen Fest- und Karnevalskultur

Ulrike Kammerhofer-Aggermann (Salzburg), Höfische und ländliche Maskeraden in Salzburg

Francesco Pezzi (Augsburg/Rom), „[…] ein guette sehr stattliche und herrliche Music, weit besser, allß des khaisers Music ist”: Musik und Feste im Italien-Reisetagebuch Ferdinands von Bayern (1579)

Sektion III: Karnevals- und Festkultur in Venedig und nördlich der Alpen. Transfer, Rezeption und Adaption (Teil 2)

Helen Geyer (Weimar), Blick in weite Fernen – Venedig als repräsentatives Vorbild für ausgewählte mitteldeutsch-thüringische Residenzen

Sektion IV: Die Inszenierung des Körpers, maskiert und unrasiert

Sabine Herrmann (Göttingen), Zwischen Ausschweifung und Prüderie: Libertinismus an europäischen Höfen des 18. Jahrhunderts

Marina Ruffinazzi-Leue (Hannover), Die Karnevalsbrücke von Venedig nach Hannover

Sektion V: Die welfische Musik- und Festkultur. Musikalische Transferprozesse und Wirkungen (Teil 1)

Margret Scharrer (Saarbrücken), Bühnentänze am Hof Ernst Augusts von Hannover

Stefanie Pritzlaff (München), „Il Caro Sassone“ – Johann Adolf Hasse zwischen Hannover und Venedig und seine Werke für die „Flauto Traversier“

Sabine Ehrmann-Herfort (Rom), Italienische Festkultur als Vorbild. Musikalische Transferprozesse von Venedig und Rom an den Hof Johann Friedrichs zu Braunschweig-Lüneburg

Sektion VI: Die welfische Musik- und Festkultur. Musikalische Transferprozesse und Wirkungen (Teil 2)

Helen Coffey (Milton Keynes), Venetian Musical Influences and Carnival Festivities at the Hanover Court of George I

Reinmar Emans (Hamburg), Wolfenbüttel – ein Klein-Venedig?

Abschlussdiskussion


Redaktion
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