Grenzen der Pluralisierung? Zur Konflikthaftigkeit religiöser Identitätsbildung und Erinnerungskultur in Europa seit der Frühen Neuzeit

Grenzen der Pluralisierung? Zur Konflikthaftigkeit religiöser Identitätsbildung und Erinnerungskultur in Europa seit der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg; Abteilung Geschichte der Frühen Neuzeit; Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ort
Oldenburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.11.2014 - 15.11.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Marco Bogade, Bamberg

Die Tagung „Grenzen der Pluralisierung“ war eine der Konferenzen des Jahres 2014, die im Kontext der sogenannten Reformationsdekade ihren Fokus insbesondere auf das östliche und südöstliche Europa gerichtet haben. Während die Tagung „Kirche und Politik an der Peripherie. Reformation an den ‚Grenzen‘ der deutschen, protestantischen Einflusszone im Vergleich von Frühneuzeit und Gegenwart“ (Evangelische Akademie Siebenbürgen, Hermannstadt/Sibiu, 25. bis 28. September 2014) die gesamteuropäische Dimension, die verschiedenen Facetten und die personellen Netzwerke des Protestantismus vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart herausarbeitete, untersuchte die Warschauer Konferenz „Reformed Majorities: Confessional Boundaries and Contested Identities“ (Universität Warschau, 22.-24. September 2014) aus kirchenhistorischer Perspektive vor allem die Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts zum Spannungsfeld von konfessionellen Mehrheiten und Minderheiten.

Die vom Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg, in Kooperation mit der Abteilung Geschichte der Frühen Neuzeit der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg organisierte Veranstaltung setzte wiederum ihre Schwerpunkte auf die interethnischen und interkonfessionellen Konflikte zur Zeit der sogenannten Konfessionalisierung im 16. und 17. Jahrhundert und deren Erinnerungsgeschichte. Die zentrale Fragestellung galt den Grenzen der Pluralisierung: Warum und wie konnten (und können) friedliche konfessionelle Koexistenzen in Konflikte und Gewalt umschlagen? – Eine Frage, die gerade für die multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften und Staaten des östlichen Europas eine hohe Relevanz besitzt.

Die erste Sektion befasste sich regionalhistorisch und komparatistisch mit der Konflikthaftigkeit religiöser Erinnerungskulturen und Identitätsbildung. MIHAI-D. GRIGORE (Mainz) stellte die Reformation in den Donaufürstentümern Siebenbürgen, Walachei und Moldau im 16. und 17. Jahrhundert als einen Faktor heraus, der in einer multiethnischen und zunehmend multikonfessionellen Region Nationalisierungsbestrebungen der orthodoxen rumänischen Bevölkerung bereits vor dem 19. Jahrhundert vorwegnahm. Mit Hinweis auf die transnationale Ausrichtung der Orthodoxie stellte der Kommentator HARALD ROTH (Potsdam) diese These in Frage und merkte an, dass konfessionelle Konkurrenz und konkurrierende Erinnerungen durchaus auch sozial ausgleichend wirken könnten. WOCJIECH GRUK (Breslau/Wrocław) untersuchte in einem Vergleich der schlesischen Gnaden- und Friedenskirchen mit den oberungarischen Artikularkirchen die identitätsvermittelnde Funktion der ikonographischen Programme der Kirchenausstattungen für die Protestanten, die nach dem Westfälischen Frieden 1648 als „tolerierte“ Konfession in der Habsburger Monarchie ein neues Selbstverständnis und eine gesellschaftliche Rolle finden mussten. Die konfessionelle Unentschiedenheit Heinrichs IV. von Frankreich benannte DAVID VAN DER LINDEN (Cambridge) als Haupthemmnis für die Ausführung eines repräsentativen Bilderzyklus zu Ehren des Monarchen, was er anhand der Gemälde und nicht ausgeführten Entwürfe für den Pariser Königspalast zu belegen suchte. Im bewussten Ausblenden von historischen Ereignissen (z.B. Edikt von Nantes) zeige sich der geschichtspolitische Hintergrund von künstlerischem Mäzenatentum, wie TOBIAS WEGER (Oldenburg) anmerkte. Die Möglichkeit einer friedensstiftenden Wirkung religiöser Polemik, die bereits bei Harald Roth angeklungen war, postulierte THOMAS WÜNSCH (Passau) am Beispiel der ruthenischen Gebiete in der polnisch-litauischen Republik, wo Religionspolemik im 16. und 17. Jahrhundert sowohl von römisch-katholischer wie auch von protestantischer und orthodoxer Seite vorgebracht wurde. Diese These wurde in der Diskussion kontrovers aufgenommen; so merkte LORENZ ERREN (Mainz) an, dass in diesem Fall Fragen der Machthierarchie deutlich vor theologischen Überlegungen standen.

ARNO HERZIG (Hamburg) führte mit einem Beitrag über das protestantische Entwicklungspotential (einschließlich der innerprotestantischen Konflikte) und dessen historische Rahmenbedingungen in Schlesien, Breslau und in der Grafschaft Glatz in die zweite Sektion zur „Politisierung des kollektiven Gedächtnisses“ ein. Die mehrbändige „Preussische Kirchen=Historia“ Christoph Hartknochs von 1686 verfolgte, wie ANNA MIKOŁAJEWSKA (Thorn/Toruń) zeigte, das Ziel, den protestantischen Glauben durch strenge Verhaltensnormen und Kontrolle zu festigen. Die konfessionelle Einheit sollte auch die politische Stellung der Glaubensgemeinschaft innerhalb des zur Polnisch-Litauischen Monarchie gehörenden Königlichen Preußen festigen. Der Protest der protestantischen Bevölkerungsmehrheit gegen die vom mehrheitlich katholischen Magistrat der Stadt Augsburg im Jahre 1582 veranlasste Kalenderreform (vom Julianischen zum Gregorianischen Kalender) führte zur Ausweisung des lutherischen Pfarrers und Reformkritikers Georg Mylius aus der Stadt. SILVIA SERENA TSCHOPP (Augsburg) untersuchte die mediale Inszenierung Mylius‘ als bonum exemplum und Märtyrer in Flugschriften des späten 16. Jahrhunderts. Alle drei Vorträge, so der Kommentator MATTHIAS WEBER (Oldenburg), zeigten prototypisch die Abhängigkeit der Ausprägung religiöser bzw. konfessioneller Identitäten von der machtpolitischen Gemengelage; in politisch kleinteiligen Region wie Schlesien oder am Beispiel innerstädtischer konfessioneller Konflikte wie in der Reichsstadt Augsburg lasse sich dies besonders gut herausarbeiten.

Die Vorträge von ROBERT BORN (Leipzig) und TOBIAS WEGER erörterten – mit unterschiedlichem medialen Fokus – das Spannungsfeld zwischen elitärem, vor allem ikonografischem Sujet und Erzählstoff für ein breites Publikum. Born beleuchtete vor allem an Erzeugnissen der materiellen Kultur in Ungarn, Rumänien und dem Habsburger Reich das Türkenbild in Ostmitteleuropa im sogenannten „langen 20. Jahrhundert“, das zwischen Bewunderung und negativer Überzeichnung oszillierte. Am Erzählstoff des „blinden Jünglings von Prag“ aus dem 14. Jahrhundert demonstrierte Tobias Weger, wie diese „eschatologische Prophezeiung“ an Kaiser Karl IV. Eingang in die tschechische Hochliteratur (Božena Němcová, Alois Jirásek) und in das kollektive Gedächtnis fand und im 19. und 20. Jahrhundert entsprechend konfessionell bzw. ethnisch gedeutet wurde. FLORIAN KÜHRER-WIELACH (München) verwies in seinem Kommentar auf die in beiden Vorträgen sichtbaren Wandlungsprozesse von konfessionellen zu nationalen/ethnischen Konflikten.

Die letzte Sektion „Migration, Diaspora und Erinnerung“ eröffnete SUSANNE LACHENICHT (Bayreuth) mit einem Überblick über religiöse Diaspora-Identitäten, die sie insbesondere an den Hugenotten exemplifizierte. Diesen sei es gelungen, sich zur innovativen und wirtschaftlich erfolgreichen Einwanderergruppe zu stilisieren und dieses Selbstbild in allen Zielländern des hugenottischen Refuge zu etablieren. Wie Lachenicht betonte, war die Begründung und Tradierung einer verbindenden Narration von zentraler Bedeutung für die Identität der Diasporagemeinschaften. Hierbei wurde eine Homogenität angestrebt, mit der Folge, dass Heterogenitäten und Brüche, welche das tatsächliche Leben in der Diaspora prägten, ausgeblendet wurden. Die anschließende Diskussion warf Fragen nach der Konkurrenz unter verschiedenen Diaspora-Gruppen sowie nach deren sozialer Binnendifferenzierung auf. THOMAS SCHIRRMACHER (Bonn) widmete sich der Erinnerung an die Genozide an orientalischen Christen in der Auflösungsphase des Osmanischen Reiches. Er hob hervor, dass es neben der vergleichsweise bekannten Gruppe der Armenier weitere, heute deutlich weniger präsente Opfergruppen wie die Assyrer und die Aramäer gegeben habe, die während des Ersten Weltkriegs verfolgt und entrechtet wurden. Im breiteren Kontext allgemeiner Menschenrechtsdiskurse komme der Erinnerung an diese Ereignisse heute noch politische Relevanz zu. LORZEN ERREN (Mainz) widmete seine Ausführungen den Bewertungen des russischen Kirchenreformers Feofan Prokopovič (1682-1736) durch die deutsche und russische Geschichtsschreibung. Er machte deutlich, dass deren Differenzen bis heute auf alten Zuschreibungen beruhen. Besonders im russischen Diskurs träten neben die Anerkennung von Prokopovič‘ intellektueller Leistung stets Nachwirkungen der zeitgenössischen Diffamierung als „Protestant“ und „Zyniker“, der die Menschen der „Heimat in der Kirche“ beraubt habe. Dagegen werde in der deutschen Geschichtsschreibung zumeist die ideelle Nähe Prokopovič zur Reformation westlicher Prägung hervorgehoben. Den Abschluss der Sektion bildete ein Vortrag zur Herrnhuter Diaspora von JESSICA CRONSHAGEN (Oldenburg). Ihre Quellengrundlage bilden Briefwechsel zwischen Herrnhuter Missionaren in Surinam und in Europa. Dabei kamen die Funktionen der Briefe für die Gemeinschafts- und Identitätsbildung über weite Distanzen ebenso zur Sprache wie ihre Rolle im Missionsgeschehen und die Einblicke ins Alltagsleben, die sie gewähren. Dass es lohnend sei, die Herrnhuter Spezifika in diesem außergewöhnlichen Quellenkorpus deutlicher herauszuarbeiten, wurde anschließend angemerkt.

Der Abendvortrag von GEORGES TAMER (Erlangen) und das Gespräch mit dem Rabbiner Tobias Jona Simon in der Oldenburger Synagoge erweiterten den Blickwinkel der Tagung über den Rahmen der christlichen Konfessionen hinaus. Tamer stellte die Erinnerungskultur im Islam als den zentralen Faktor der Theologie und der Identitätsbildung der Religionsgemeinschaft heraus. Angesichts der Gleichsetzung von Erinnerung mit der Treue gegenüber Gott fungiere der Koran gleichsam als „Erinnerungsspeicher“, der den Maßstab nicht nur für religiöses, sondern auch für politisches Handeln liefern kann. Die Konflikthaftigkeit unterschiedlicher Erinnerungskulturen innerhalb einer Glaubensgemeinschaft thematisierte Simon; er berichtete über die Chancen und Probleme der jüdischen Gemeinden in Nordwestdeutschland in Hinblick auf die vor allem aus den Gebieten der früheren Sowjetunion stammenden Gemeindemitglieder von den 1990er Jahren bis heute.

Der Abschlusskommentar von DAGMER FREIST (Oldenburg) fasste die Ergebnisse der Tagung zusammen. Deutlich geworden sei die Bedeutung politisch-rechtlicher Rahmenbedingungen für das interreligiöse bzw. -konfessionelle Zusammenleben. Demgegenüber stünde die theologische Wahrheitsfrage, die zur Intoleranz konkurrierender Deutungsmatrices führen kann. Eine Reihe wichtiger Fragen müsse jedoch noch geklärt werden, unter anderem das Verhältnis von Toleranz und Duldung, die Rolle der unterschiedlichen Akteure im Erinnerungsdiskurs (unter anderem „Gatekeeper“, familiärer und individueller Rahmen) oder die Relevanz von Artefakten und anderen Medien der Erinnerung.

Die Tagung hat in einem intensiven Austausch die „Konflikthaftigkeit religiöser Identitätsbildung und Erinnerungskultur“ anhand zahlreicher Fallbeispiele aus unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Kontexten untersucht. Sie hat in dieser Vielfalt aber auch deutlich werden lassen, dass es noch weitergehender Reflexionen bedarf, um zu übergreifenden, modellhaften Aussagen zu diesem Themenkomplex zu gelangen.

Konferenzübersicht:

Einführung: Dagmar Freist (Universität Oldenburg), Matthias Weber (Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa/BKGE, Oldenburg)

Sektion I Konflikthaftigkeit religiöser Erinnerungskulturen und Identitätsbildung

Teil I
Moderation: Gerald Volkmer (BKGE Oldenburg)

Mihai-D. Grigore (Leibnitz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz): Der Donauraum als Konfliktfeld konfessioneller Geschichtspolitik vom frühen 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert

Wojciech Gruk (Universität Breslau/Wrocław): Konkurrenz der Konfessionen: Schlesische Friedens- und Gnadenkirchen und oberungarische Artikularkirchen

Kommentar und Diskussion: Harald Roth (Deutsches Kulturforum östliches Europa, Potsdam)

Teil 2
Moderation: Hans-Christian Petersen (BKGE Oldenburg)

David van der Linden (Queen´s College, Universität Cambridge): Painting the Divided Past: How to Remember the French Wars of Religion in a Royal Palace

Thomas Wünsch (Universität Passau): Kontroverse statt Konflikt? Zum integrativen Potential religiöser Polemik (am Beispiel der katholisch-orthodoxen Spannungen in den ruthenischen Gebieten Polen-Litauens im 16. und 17. Jahrhundert)

Kommentar und Diskussion: Tobias Weger (BKGE Oldenburg)

Sektion II Politisierung des kollektiven Gedächtnisses: Martyrologien und apokalyptische Visionen

Teil 1
Moderation: Jens Stüben (BKGE Oldenburg)

Arno Herzig (Universität Hamburg): Impulsreferat

Anna Mikołajewska (Universität Thorn/Toruń): Komplexes mittels des Einfachen erklären – Rottengeister, Märtyrer, Glaubenszeugen in der „Preussischen Kirchen-Historia“ (1686) Christoph Hartknochs

Silvia Serena Tschopp (Universität Augsburg): Ein protestantischer Märtyrer? Georg Mylius und der Augsburger Kalenderstreit

Kommentar und Diskussion: Matthias Weber (BKGE Oldenburg)

Teil 2
Moderation: Heinke Kalinke (BKGE Oldenburg)

Robert Born (Geisteswissenschaftliches Zentrum Kultur und Geschichte Ostmittteleuropas, Leipzig): Der Erbfeind im Freundschaftspark. Überlegungen zur unterschiedlichen Funktionalisierung des Türkenbildes in Ostmitteleuropa im „langen 20. Jahrhundert“

Tobias Weger (BKGE Oldenburg): Die Prophezeiungen des blinden Jünglings aus Böhmen – von der religiösen Endzeitstimmung zur nationalen Stereotypisierung

Kommentar und Diskussion: Florian Kührer-Wielach (Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München)

Sektion III Migration, Diaspora und Erinnerung
Moderation: Burkhard Olschowsky (BKGE Oldenburg)

Impulsreferat
Susanne Lachenicht (Universität Bayreuth): Wenn nur noch die Erinnerung bleibt – Diasporaidentitäten zwischen Vormoderne und Postmoderne

Thomas Schirrmacher (Bonn): Als wäre es gestern und nicht vor 100 Jahren geschehen... Erinnerungskulturen der Nachfahren der Genozide an orientalischen Christen in der Auflösungsphase des Osmanischen Reiches

Lorenz Erren (Universität Mainz): Orthodoxer Aufklärer oder zynischer Protestant?
Feofan Prokopovič im Urteil der deutschen und russischen Geschichtsschreibung

Jessica Cronshagen (Universität Oldenburg): Herrnhuter Diaspora, Erinnerungskultur und religiöse Identitätsstiftung „in Abwesenheit“ – Briefnetzwerke zwischen Europa und Surinam

Abendvortrag: Georges Tamer (Universität Erlangen): Erinnerung und Identitätsbildung im Islam

Einführung: Beate Störtkuhl (BKGE Oldenburg)

Schlusskommentar: Dagmar Freist (Universität Oldenburg)


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts