Zielregion Ostmitteleuropa – Migration im 20. Jahrhundert

Zielregion Ostmitteleuropa – Migration im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas Leipzig (GWZO), Universität Leipzig; Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft Marburg; Collegium Hungaricum Berlin; Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.07.2014 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Katharina Seibert, Geisteswissenschaftliches Zentrum für Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Die von Stefan Troebst (Leipzig) und Peter Haslinger (Marburg/Gießen/Jena) initiierte internationale Konferenz fand in Zusammenarbeit zwischen dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig und dem Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft Marburg in Verbindung mit dem Collegium Hungaricum Berlin statt. Ziel war es, den Migrationsräumen und –bewegungen in die westliche Hemisphäre im „kurzen“ 20. Jahrhundert eine neue Lesart entgegenzusetzen. Entgegen populärer Ansätze der Forschungen zu Migrationsbewegungen während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde Ostmitteleuropa dabei nicht als klassische Entsenderegion von politisch, religiös oder ökonomisch motivierten Auswanderungsströmen oder kriegsbedingten Fluchtbewegungen in Richtung „Westen“ aufgefasst, sondern als Zielregion von Migration.

Die ReferentInnen der Tagung fragten daher einerseits nach Motivationen von MigrantInnen Länder Ostmitteleuropas als Ziel zu wählen sowie nach sozialen Strategien, wie sie sich in den Aufnahmegesellschaften integrieren konnten. Andererseits wollten sie wissen, wie EntscheidungsträgerInnen in den Zielgesellschaften mit diesen Gruppen umgingen. In einer gelungenen Mischung aus Beiträgen, die in größeren zeitlichen Zusammenhängen Muster, Motive und Konfliktfelder darstellten, sowie Vorträgen, die einzelne AkteurInnen in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückten, wurde ein breites Panorama der verschiedenen Migrationsformen nach Ostmitteleuropa eröffnet.

Den Einstieg in die Tagung bildete die Einführung durch Stefan Troebst (Leipzig). In ihrer Auftaktrede befasste sich die Ostmitteleuropahistorikerin TARA ZAHRA (Chicago) mit den „zurückkehrenden Emigranten“: „The Emigrants Return – Remigration in East-Central Europe, 1900-1955“. In ihrem sehr dichten Beitrag setzte sie den Schwerpunkt auf das Phänomen der Re-Migration in Mittelosteuropa. Zum einen identifiziert sie chronologisch drei Migrationsphasen, die – jede für sich – wiederum Ausgangspunkt für politisch beworbene aber auch individuelle Re-Migration wurden. Diesen Rückkehrbewegungen ordnet Zahra das sich wandelnde Bild des „Heimkehrers“ zu, das im deutlichen Kontrast zu den individuellen Erfahrungen der Re-MigrantInnen stand. Zum anderen zeigt sie, dass die Vorstellung des Westens durch die Figur des „Heimkehrers“ in Frage gestellt wurde. Während ökonomischer Leidensdruck den größten Push-Faktor für Massenemigration zur letzten Jahrhundertwende darstellte, so war das Motiv der Flucht maßgeblich für die Migration während des Zweiten Weltkriegs. Das Bild des „Heimkehrers“ entsprach in den 1920er-Jahren vor allem Klischees des erfolgreichen Re-Migranten, der im Ausland sein „Glück gemacht“ habe. Erfolglose Rückkehr wiederum trug dazu bei, das idealisierte Bild des modernen Westens in Frage zu stellen. Abschließend stellte die Referentin dar, wie sich das Bild des „Heimkehrers“ ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs veränderte und die neuen politischen Eliten vor Herausforderungen stellten.

Eingeführt von Peter Haslinger (Marburg/Gießen/Jena) folgte der Beitrag von KARL SCHLÖGEL (Frankfurt an der Oder), der sich auf die Spurensuche russischer MigrantInnen in Ostmitteleuropa begab: „Die russische Emigration in Ostmitteleuropa nach der Russischen Revolution“. Ähnlich wie seine Vorrednerin beschränkte sich Karl Schlögel nicht auf einen Staat Ostmitteleuropas. Stattdessen identifiziert er eine Geographie russischer Migration, in der die Länder Ostmitteleuropas nach der Russischen Revolution beides, Ziel aber auch Transitort, waren. Die MigrantInnengruppe, die er in den Blick nahm, waren überwiegend VertreterInnen oder UnterstützerInnen des Ancien Régime. In der politischen Umgebung der Zwischenkriegsordnung standen sie entsprechend vor der Herausforderung, sich politisch neu positionieren zu müssen. Sichtbar sei diese Migrationsgeschichte vor allem an Überresten bzw. dem Fortbestehen bestimmter Infrastrukturen, z. B. russisch-orthodoxer Kirchen, Netzwerke, Bibliotheken. Trotzdem ist dieser Teil russischer Migrationsgeschichte bislang weitgehend vernachlässigt.

Moderiert von Claudia Kraft (Siegen) folgten nach dem Mittagessen zwei Sektionen mit unterschiedlichen lokalen Fallbeispielen. Den Anfang machte XOSÉ NÚÑEZ SEIXAS (München) mit seinem Beitrag „Die spanische politische Emigration in Ostmitteleuropa seit 1945.“ In seinem Beitrag stellt er fest, dass die Länder Ostmitteleuropas in der spanischen Migrationsgeschichte eine eindeutig nachgeordnete Rolle spielen, was auch darin begründet sein mag, dass dieser geographisch-politische Raum in der spanischen Öffentlichkeit (nach wie vor) kaum wahrgenommen wird. Migration nach Osten war im 20. Jahrhundert in die Sowjetunion gerichtet und erfolgte im Kontext und Nachgang des Spanischen Bürgerkriegs. Neben den sogenannten Niños de la Guerra (Kriegskinder) und deren Begleitpersonen migrierten vor allem Teile des Parteikaders der Partido Comunista de España PCE (Kommunistische Partei Spaniens) nach dem Sieg Francos über die republikanischen Truppen in die Sowjetunion – wobei Xosé Núñez Seixas betonte, dass ein Großteil der politischen ExilantInnen entweder nach Frankreich oder Mexiko floh. Er zeichnete in seinem Vortrag das Bild einer zwar kleinen, dennoch sehr sichtbaren MigrantInnengruppe, die sich vor allem in der Sowjetunion, vereinzelt in anderen Sowjetrepubliken wie beispielsweise Rumänien etablieren konnte.

Im Anschluss daran befasste sich KORNÉLIA PAPP (Potsdam) mit Eliten-Remigration nach Ungarn und in die SBZ/DDR nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: „Remigranten aus der Sowjetunion nach Ungarn und in die SBZ nach 1945“. In einer sehr detailgenauen Studie folgte sie ungarischen, politischen Flüchtlingen während des Zweiten Weltkriegs. Ihre Ziele des politischen Exils waren neben Wien, Paris, Berlin auch Moskau, wo sie – ähnlich wie die Angehörigen des Nationalkomitee Freies Deutschland – Netzwerke bildeten und gesellschaftliche Nachkriegsordnungen für Ungarn entwarfen. Ähnlich wie in der SBZ/DDR kam es nach Kriegsende zu Konflikten zwischen den heimkehrenden Exilanten und den Überlebenden, die gleichermaßen am Aufbau der Nachkriegsgesellschaften Anteil haben wollten. Kornélia Papp betonte, dass aus den einstmals verängstigten Flüchtlingen im Nachkriegsungarn „Angst-macher“ wurden. Sie zeigt verschiedene Parallelen, aber auch Unterschiede zwischen dem ostdeutschen und dem ungarischen Fall auf.

Von MICHAEL WILDT (Berlin) vorgestellt, folgten im Anschluss zwei Beiträge, die sich ebenfalls mit spezifischen MigrantInnengruppen befassten. STEFAN TROEBST (Leipzig) setzte in seinem Votrag „Flüchtlinge aus dem Griechischen Bürgerkrieg und deren Fluchtwege in Ostmitteleuropa, insbesondere Polen, Tschechoslowakei und SBZ/DDR während der 40 Jahre von 1948-89“ die Bürgerkriegsflüchtlinge Griechenlands ins Zentrum seiner Überlegungen. Er legte in seinen Ausführungen deutlich dar, dass auch wenn die Aufnahme der griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge in die Volksdemokratien zentral gelenkt war, der Umgang mit ihnen sehr unterschiedlich und abhängig von den regionalen Befindlichkeiten ablief. Zu den Hauptaufnahmeländern griechischer Bürgerkriegsflüchtlinge zählten die Sowjetunion, Polen und die Tschechoslowakei. Während Polen eine Politik der Inklusion verfolgte, was beispielsweise daran sichtbar wurde, dass man sich um Integration der Flüchtlingskinder in die regulären Schulen bemühte, verfolgte die SBZ/DDR vielmehr eine Politik der Separation. Im Zuge von Familienzusammenführungen gab es jedoch innerhalb dieser Migrationsgruppe in den 1950er- und 1960er-Jahren eine hohe Binnenmigration, wenngleich die Re-Migration zunächst eher die Ausnahme blieb und erst ab 1983 verstärkt genutzt wurde.

Mit seinem Beitrag „Chinese migration to East-Central Europe in the 1990s: Harbingers of a ‚rising China’“ ergänzte PÁL NYIRI (Amsterdam) das Repertoire an Fallbeispielen um eine zeitlich aktuellere Migrationsgeschichte. In seinem Vortrag setzte er sich mit den chinesischen Migrationsbewegungen ab Mitte der 1980er-Jahre auseinander. Einen besonderen Schwerpunkt legte er dabei auf die chinesische Migration nach Ungarn, die 1993 ihren Höhepunkt erreichen sollte und dem Fehlen von Visabeschränkungen durch die ungarischen Behörden geschuldet war. Als maßgebliche Push-Faktoren identifizierte Pál Nyiri die Rezession infolge der Sanktionen, die der Westen gegen China im Zusammenhang mit dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens verhängt hatte, sowie einen massiven Produktionsüberfluss. Am Beispiel der Entwicklung und Wahrnehmung chinesischer Märkte verortete er diese Migrationsgeschichte im Zusammenhang mit dem Übergang der ehemaligen Ostblock-Staaten hin zum globalisierten Weltmarkt.

Eine Zusammenfassung und Darstellung der Ergebnisse erfolgte schließlich durch PETER HASLINGER (Marburg/Gießen/Jena). Er stellt fest, dass es den Vortragenden gelungen ist, eine dichte Beschreibung einer Migrationsgeographie zu leisten. Soziale Grenzen, Raum-Zeit-Strukturen sowie die Konstruktion lokaler Gemeinschaften wurden in Frage gestellt. Nichtsdestotrotz zeigte sich hier, dass eine systematische Herangehensweise an die Problematik noch fehlt und daher eine der wesentlichen Herausforderungen für zukünftige Forschungsbestrebungen darstellen muss. Daneben bieten Erfahrungszusammenhänge, wie beispielsweise das Motiv des wechselseitigen Kulturschocks, aber auch Zuschreibungen und Erwartungshaltungen an und von MigrantInnen fruchtbare Ansätze, die ausgebaut werden können. Als dritten Aspekt, der für künftige Migrationsforschungen nach Ostmitteleuropa von Bedeutung sein wird, hält er Migration und Remigration als Politikfeld fest und fragt, in welchen Bereichen Aus- und Einwanderung zusammen gedacht werden müssen, welche Steuerungselemente sich erkennen lassen und letztlich wie die unterschiedlichen Gesellschaften oder politischen Systeme hier ein „Gesamtdesign“ entwickeln können.

Insgesamt wurde im Verlauf der Tagung durch die Vorträge und nicht zuletzt vor allem auch durch die angeregten Diskussionen ein breites Panorama sehr unterschiedlicher Migrationsgeschichten aufgemacht. Durch die verschiedenen Fallstudien wurde deutlich, dass mit Blick auf die Figur des Migranten, der Ostmitteleuropa als Ziel wählt, im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine Verschiebung stattgefunden hat. Es zeigte sich, dass zunächst zwei der hauptsächlichen Push-Faktoren für MigrantInnen nach Ostmitteleuropa auszuwandern, ideologisch oder kriegsbedingt waren. Ökonomischer Leidensdruck und die Hoffnung auf materiellen Wohlstand, der viele Menschen zum Auswandern im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach Nord- und Südamerika bewog, spielten für Ostmitteleuropa bis zum Ende des Kalten Kriegs eine nachgeordnete Rolle. Die Gruppe an MigrantInnen, die ihren Weg nach Ostmitteleuropa fanden, war entsprechend heterogen und umfasste Remigranten, Individuen intellektueller Elite, Kinder und deren BetreuerInnen aber auch – wie im russischen Fall – Angehörige vormaliger Ordnungen. Ab den 1990er-Jahren gewinnt das Motiv des ökonomischen Leidensdrucks wieder an Bedeutung. Da leider nur ein Beitrag Migration in den 1990er-Jahren beleuchtete, blieben Entwicklungen ausgespart, die die Attraktivität ostmitteleuropäischer Länder als Ziel von Migrationsbewegungen nachhaltig verändern, wie z. B. die Entwicklung von der Europäischen Gemeinschaft hin zur Europäischen Union. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es den ReferentInnen gelungen ist, mit dem Ansatz Ostmitteleuropa als Zielregion weltweiter Migration zu erfassen, überaus interessante und vielversprechende Dimensionen zu eröffnen. Die Fortführung dieses Formats ist für die Zukunft wünschenswert.

Konferenzübersicht:

Stefan Troebst (Leipzig), Begrüßung und kurze Einführung in die Tagung

Panel 1

Tara Zahra (Chicago), The Emigrants Return – Remigration in East-Central Europe, 1900-1955

Panel 2

Karl Schlögel (Frankfurt an der Oder), Die russische Emigration in Ostmitteleuropa nach der Russischen Revolution

Panel 3

Xosé Núñez Seixas (München), Die spanische politische Emigration in Ostmitteleuropa seit 1945

Kornélia Papp (Potsdam), Remigranten aus der Sowjetunion nach Ungarn und in die SBZ nach 1945

Panel 4

Stefan Troebst (Leipzig), Flüchtlinge aus dem Griechischen Bürgerkrieg in Ostmitteleuropa – Makedonier und Griechen in Polen, der Tschechoslowakei und der SBZ/DDR 1948-1989

Pál Nyiri (Amsterdam), Chinese migration to East-Central Europe in the 1990s. Harbingers of a ‚rising China’

Peter Haslinger (Marburg/Gießen/Jena), Zusammenfassung der Tagungsergebnisse