Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Codierungen von Plätzen, Denkmälern und Straßennamen im europäischen Vergleich (19.u. 20. Jhd.)

Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Codierungen von Plätzen, Denkmälern und Straßennamen im europäischen Vergleich (19.u. 20. Jhd.)

Organisatoren
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, in Kooperation mit Archiv hlavniho mesta Prahy, Archiv hlavniho mesta Prahy
Ort
Prag
Land
Czech Republic
Vom - Bis
04.11.2004 - 06.11.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Heidemarie Uhl, Österreichische Akademie der Wissenschaften Kommission für Kulturwissenschaften, Wien

In der Velkopřvorské Námesti, einer ruhigen Straße in der Prager Altstadt nahe der Karlsbrücke, befindet sich eine Mauer mit Graffiti, deren Bedeutung sich dem Besucher, der Besucherin nicht unmittelbar erschließt. Es handelt sich nicht um eine Variante der globalen urbanen Graffiti-Kultur, sondern um einen Ort des Protestes gegen das kommunistische Regime mit den Mitteln der Jugendkultur: Die ersten Graffiti an dieser Mauer entstanden zum Gedenken an den Tod von John Lennon, um die Bemalung dieser Wand – und deren umgehende Entfernung – lieferten sich Jugendliche einen Kleinkrieg mit der staatlichen Gewalt. „Sie haben Lenin, wir haben Lennon“, lautete der Slogan.

Die John-Lennon-Wand verweist auf eine der Leitfragen der Tagung „Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Codierung von Plätzen, Denkmälern und Straßennamen im europäischen Vergleich (19. / 20. Jahrhundert)“, die von den Historikern Rudolf Jaworski (Kiel) und Peter Stachel (Wien) konzipiert wurde und im November 2004 in Prag stattfand. Die 6. Internationale Konferenz des Forschungsprogramms „Orte des Gedächtnisses“ der Kommission für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften konnte so – dank der Kooperation mit dem Archiv hlavniho mesta Prahy und der Unterstützung durch die VW-Stiftung – in einer Stadt stattfinden, in der die politischen Bruchlinien des 20. Jahrhunderts den öffentlichen Raum besonders deutlich prägen.

Auf die Relevanz der medialen Vermittlung, die den Inszenierungen und Bedeutungseinschreibungen im öffentlichen Raum erst Resonanz im kollektiven Bewusstsein und damit gesellschaftliche Wirkungskraft verleiht, haben bereits die historischen Filmdokumente über den öffentlichen Raum als politische und soziale Bühne in Prag – Massenproteste, Aufmärsche, Denkmalerrichtungen und -stürze, Alltagsleben – verwiesen, die vom Archiv hlavniho mesta Prahy zusammengestellt wurden.

Die Vorträge der Tagung thematisierten die Strategien und Ausdrucksformen dieser „signifying practices“ und ihre Veränderungen entlang der politischen und kulturellen Transformationsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und mit zeitlich und räumlich breit gestreuten Fallbeispielen (Prag, Wien, Budapest, Bratislava, Bern, Köln, St. Petersburg).
Den öffentlichen Raum als soziokulturelle Kategorie zu konzipieren, bildete den Ausgangspunkt des Eröffnungsreferats von Peter Stachel (Wien): als Bühne für politische Öffentlichkeit, für die Inszenierungen und Repräsentationen der Macht und des Protests, als Handlungsfeld für Akte der symbolischen Besetzung und Markierung, die sich in konkreten Objektivierungen des kulturellen Gedächtnisses wie Denkmälern und Straßennamen sedimentieren. Diese Sedimentierungen sind allerdings keine statischen Gedächtnisorte, sondern Veränderungen unterworfen - nicht allein durch die Entfernung und Veränderung der Herrschaftszeichen nach politischen Systembrüchen, sondern vor allem auch durch den unabgeschlossenen Prozess des Um- und Überschreibens, des Verblassens und Neucodierens.

Die Verbindung von Herrschaft und öffentlichem Raum zeigt sich aber bereits an dessen Struktur, wie Corradino Corradi (Paris/Wien) anhand des „making of public space“ in Wien darstellte. Die Veränderungen in der Struktur und Funktion der 48 Plätze der Wiener Innenstadt geben Einblick in die Beziehung zwischen öffentlichem Raum und Herrschaft, aus den mittelalterlichen Marktplätzen wurden imperiale Machtbühnen und – im Ringstraßenzeitalter – Orte politischer Selbstdarstellung. Bernadette Reinhold (Wien) eröffnete mit dem Blick auf die Geschichte des Wiener Schwarzenbergplatzes eine Mikroanalyse der vielfältigen Funktionalisierungen von Plätzen: So dient der Schwarzenbergplatz heute etwa als Treffpunkt für „permanent breakfast“1 und für die Anti-Opernball-Demonstration. Federico Celestini richtete den Denkmalbegriff auf die monumentalen Denkmäler der Tonkunst und die nationale Codierung des musikalischen Erbes am Beispiel der „Pini e fontane di Roma“ und die damit verbundene Intention der Legitimierung der faschistischen Staatsform durch Musik.

Die politischen Bruchlinien des 20. Jahrhunderts und ihre Sedimentierung im öffentlichen Raum standen im Mittelpunkt jener Beiträge, die sich mit Städten des ehemaligen sozialistischen Herrschaftsbereichs befassten. Rudolf Jaworski (Kiel) wies in seinem Überblick über Denkmalstreit und Denkmalsturz in Zentraleuropa auf die großen Unterschiede in den einzelnen Ländern Osteuropas im Hinblick auf die Radikalität im Austausch der politischen Symbole hin, wobei auch ältere Erfahrungen eine Rolle spielen.
Zdenĕk Hojda (Prag) zeigte den Prager Wenzelsplatz als einen charismatischen, emotional aufgeladenen Ort. Im 19. Jahrhundert als bürgerlich codierter Raum gestaltet, der vom Nationalmuseum beherrscht wird, wurde der Wenzelsplatz zur „ersten Bühne des Staates“ und damit auch zu einem Ort, auf den sich – insbesondere 1918, 1968 und 1989 – die Proteste gegen die Staatsgewalt konzentrieren. Auf Massenproteste – und die ikonische Qualität, die deren Bilddokumente durch die mediale Vermittlung erlangt haben – sowie auf die nationale Codierung von Plätzen ging Jiří Pokorný (Prag) im Zusammenhang mit der Gründung der tschechoslowakischen Republik ein.

Die Frage des Umgangs mit den Relikten der kommunistischen Herrschaftsrepräsentation wurde am Beispiel von Berlin und Budapest erörtert. In Ost-Berlin (Lena Schulz zur Wiesch, Berlin) lässt sich die Bandbreite des Umgangs mit den Herrschaftszeichen eines diktatorischen Regimes in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften zeigen – vom Abriss über die Umgestaltung bzw. die temporäre Umcodierung durch Graffiti bis zur Aufnahme in den städtischen Denkmalbestand und damit die Integration in das historische und kulturelle Erbe der Hauptstadt, wobei die Funktion von Denkmälern und Straßennamen als Anstoß für öffentlich-mediale Grundsatzdebatten um die historische Identität einer Gesellschaft besonders deutlich wurde.
Andreas Pribersky (Wien) analysierte die Veränderung des ehemaligen Siegesdenkmals der Sowjetischen Armee auf dem Budapester Gellért-Berg. Das von einem bereits im Auftrag des Horthy-Regimes tätigen Bildhauer entworfene Denkmal, das einen Aussichtspunkt auf die Stadt besetzt, ist auch heute in veränderter Form ein zentrales Monument der symbolischen Geographie Budapests. Heute erinnern die Reste des sowjetischen Mahnmals an die Opfer für die Unabhängigkeit Ungarns.

Wie sich die politischen und soziokulturellen Veränderungen des 19. und 20. Jahrhunderts in den städtischen Raum einschreiben, wurde am Beispiel der Transformation der Denkmallandschaft von Bratislava und der Gestaltung des öffentlichen Raums in St. Petersburg exemplarisch dargelegt. Elena Mannová (Bratislava) analysierte die Transformation der städtischen Denkmalkultur in Bratislava vom Maria-Theresien-Denkmal bis zum „Schönen Náci“, wobei diese jüngste Denkmalerrichtung für ein legendäres lokales Original die gegenwärtige nostalgische Suche nach einer verlorenen bürgerlichen „Welt von gestern“ ausdrückt.
Dass die Städtekonkurrenz ein wesentlicher Motor für die urbane Symbolpolitik ist, wurde am Beispiel St. Petersburgs (Jan Kusber, Mainz) sichtbar: Die Gestaltung des städtischen Raumes war auf die Selbstdarstellung als Herz Russlands – im Gegensatz zu Moskau als „Kopf“ – ausgerichtet, wobei die Einbeziehung dieser Selbstbilder in die „invention of tradition“ der Sowjetmacht auf Kontinuitäten über die politischen Zäsuren hinweg verweist.

Für die Frage nach Zäsur und Kontinuität, nach den Prozessen des Writing und Re-Writing eines Kanons an Bezugsereignissen und -personen historischer Identitätsstiftung sind Straßennamen eine besonders aufschlussreiche Quelle, vor allem auch aufgrund der politischen Willensbildung, die den Akten der Benennung und insbesondere der Umbenennung zugrunde liegt. Die Praxis der Namensgebung in Prag (Václav Ledvinka, Petra Vokáčová, Prag) und in Köln (Dietz Bering, Köln) eröffnete Einblick in Unterschiede, aber auch in analoge Rahmenbedingungen für die Politik der Straßenbenennung im 19. und 20. Jahrhundert.

Im Kontrast zu den vielfach dramatischen Veränderungen im öffentlichen Symbolraum entlang der politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts steht die Entwicklung in der Schweiz. Den Transformationsprozessen, die sich etwa in der Denkmallandschaft von Bern nachzeichnen lassen (Francois de Capitani, Bern), fehlen die großen Brüche und „Bilderstürme“. Sie lenken damit den analytischen Blick auf andere Faktoren der Veränderung des öffentlichen Raumes, die andernorts aufgrund der politisch motivierten Interventionen zumeist in den Hintergrund treten: die „Entdeckung“ der Identitätsstiftung durch Geschichte, in deren Rahmen ursprünglich religiös gedeutete Brunnenfiguren zu Heroen städtischer Freiheit umgedeutet wurden, die Konkurrenz zwischen Kommune und Staat in der Repräsentationspolitik, veränderte ästhetische Anforderungen, die mehrmals den Grund für eine Neugestaltung von Denkmälern etc. wurden, und nicht zuletzt, die Funktionalisierung der Natur. Der Durchblick auf die Berge als Symbol der Freiheit war ein zentrales Gestaltungselement des 1902 errichteten Bundeshauses.

Es war gerade die Vielfalt von Verwendungsformen des öffentlichen Raums – als Bühne der Macht und des Protests, als Schauplätze, an denen sich der Rhythmus des urbanen Lebens vollzieht, als Orte des Monumentalen und des Ephemeren – die aus den einzelnen Beiträgen dieser Tagung, deren Ergebnisse in einem Band der Reihe „Gedächtnis – Erinnerung – Identität“ veröffentlicht werden, ersichtlich wurde.
Insofern ist die Analyse der Funktion des öffentlichen Raums für die gesellschaftliche Symbolproduktion, die der Konzeption zugrunde lag, auch als Beitrag zur Debatte um die „Orte des Gedächtnisses“ und ihre Funktion für die Konstruktion nationaler Identitäten zu sehen: Gedächtnisorte im öffentlichen Raum entziehen sich einer stabilen Festschreibung, sie sind prinzipiell vielschichtig und mehrdeutig, in permanente Prozesse der Um- und Neucodierung eingebunden – Bedeutungszuschreibungen gehen verloren, neue Verwendungsweisen und soziale Praktiken schreiben sich in die Objekte ein.
Die Frage, wie das Wissen um die in den öffentlichen Symbolraum eingeschriebenen Bedeutungen kommuniziert und tradiert wird, die in den Diskussionen mehrfach aufgegriffen wurde, macht darüber hinaus deutlich, dass die Analyse von Inszenierungen des Politischen von deren medialer Kommunikation nicht zu trennen ist.

Anmerkungen:
1 Die Website des Netzwerks unter http://www.permanentbreakfast.org/info.html