Growing Up in 20th Century European Borderlands / Kindheit in europäischen Grenzregionen im 20. Jahrhundert

Growing Up in 20th Century European Borderlands / Kindheit in europäischen Grenzregionen im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Machteld Venken, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
15.01.2015 - 16.01.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexandra Mayer / Martina Riebenbauer, Institut für Geschichte, Universität Wien

Erst in den letzten Jahrzehnten zeigte die Forschung immer deutlicher: die Kindheit hat eine eigene Geschichte – eine Geschichte, die wichtige Rückschlüsse auf die Zustände einer ganzen politischen Gesellschaft zulässt und neue, bis dato unbekannte, historische Perspektiven eröffnet. Die Kindheit gilt daher als dringend zu erforschendes Gebiet. Einen besonders interessanten Stellenwert nimmt sie ein, wenn man jene Kinder und Jugendlichen betrachtet, welche im 20. Jahrhundert in den kritischen Grenzregionen Europas aufwuchsen und auch dort zur Schule gingen. Vor allem jene „Pufferzonen“ wie das Hultschiner Ländchen, das Memelgebiet, Westpolen, Eupen-Malmedy, Nordschleswig und das Elsass, welche Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg abtreten musste, aber im Zuge der 1940er-Jahre (bis auf Nordschleswig) abermals annektierte, spielten durch die vermehrten Grenzverschiebungen und die damit einhergehenden Veränderungen der Nationalitäten eine erhebliche Rolle im Leben der jungen Einwohner. Wie erfuhren sie den Alltag der Zwischen- und Nachkriegszeit? Wie sahen Kindheitserfahrungen in diesen machtpolitisch stark umkämpften Gebieten aus? Welchen Einfluss hatten die ständigen Änderungen der Grenzen auf das vorherrschende Bildungsprogramm und die Maßnahmen der Nationalisierung und wie gingen die Kinder und Jugendlichen mit dieser Nationalisierung und Identitätsfindung um? All das sind komplexe Fragen, die es als Bestandteil der europäischen Geschichte zu erforschen und beantworten gilt.

In Wiens Wissenschaftlichem Zentrum der polnischen Akademie der Wissenschaften fand am 15. und 16. Jänner 2015 dazu eine Konferenz, organisiert durch MACHTELD VENKEN (Wien) und das Institut für Osteuropäische Geschichte (Universität Wien), unter dem Titel „Growing Up in 20th Century European Borderlands / Kindheit in europäischen Grenzregionen im 20. Jahrhundert“ statt. WissenschaftlerInnen aus den verschiedensten Disziplinen waren eingeladen ihre Beiträge im kulturellen Rahmen dieser zweitägigen Tagung vorzutragen.

Im ersten Panel wurde Augenmerk auf die Kindheit in Grenzregionen Zentral- und Osteuropas gelegt. RUTH LEISEROWITZ (Warschau) gab einen Einblick in die Kindheit im Memelgebiet, eine deutsch-litauische Grenzregion. Im Fokus stand bei ihr der Vergleich von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Milieus (Stadt, Dorf) in der Zwischenkriegszeit. Es zeigten sich starke Divergenzen sowohl im Schulwesen, in der Freizeit, beim Sport, als auch beim Miterleben politischer Dynamiken. Im Großen und Ganzen, so die Referentin, verlief die Kindheit in der Stadt behüteter als am Land.

FRANTISEK ZNEBEJANEK (Olomouc), in Vertretung für Helena Kubatova (Olomouc), präsentierte den Beitrag über das Aufwachsen von Kindern in der Hlučín Region. Dazu verglich und analysierte er die Kindheit der kurz vor, während oder nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen, als auch der Generation derer Kinder, im Kontext politischer Fortschritte und Modernisierungsprozesse. Das Ergebnis offenbarte die Kluft, welche zwischen diesen beiden Generationen durch das Nicht-Reflektieren und Nicht-Aussprechen der traumatisierenden Ereignisse im Zweiten Weltkrieg entstanden war und als Folge zu Fragen nach der eigenen Identität in der Bevölkerung führte.

BEATA HALICKA (Frankfurt an der Oder) konzentrierte sich auf das Leben von Kindern im Westen Polens während der frühen Nachkriegszeit anhand einiger Beispiele von Familien mit verschiedensten ethnischen und nationalen Hintergründen, welche sich in Basin niederließen. Halicka machte in dieser Region vor allem einen Wertewandel aus: Nachdem die Menschen ihre Heimat verloren hatten, seien sie an materiellen Wohlstand nicht mehr gebunden gewesen. Vielmehr hätten nun Werte gezählt, welche nicht weggenommen werden konnten; Werte wie Persönlichkeit, Wissen und Fähigkeiten. Im Vortrag wurde außerdem die Wichtigkeit von mündlichen Berichten der Zeitzeugen und deren Ego-Dokumente als historische Quellen behandelt, welche aber durch den jeweiligen Abstand ihrer Entstehung zu den tatsächlichen Ereignissen als auch durch den politischen Entstehungskontext mit großer Vorsicht zu behandeln und sorgfältig auszuwählen seien.

TOMASZ KAMUSELLA (St. Andrews) berichtete über das Hin- und Hergerissen-Werden der Bewohner der Grenzregion Oberschlesiens zwischen den verschiedenen Nationen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts, was dazu geführt habe, dass sie kein nationales Bewusstsein aufbauten und sich keiner Nation angehörig fühlten. Er führte hier die Begriffe „A-National/ Non-National“ anstelle von „Nationally indifferent“ ein, da diese Bezeichnung zu sehr das Fehlen von etwas Wichtigem bei jenen Gruppen ohne nationale Identität impliziere.

Der zweite Tag der Tagung begann mit einem auf die Kindheit im Westen Europas ausgerichteten Panel. Den Auftakt machte ANDREAS FICKERS (Walferdange) mit der Frage nach den generationellen Spannungen zwischen denen, die den Zweiten Weltkrieg als konstituierendes biographisches Ereignis erlebt haben und ihren Kindern. Hierzu betrachtete er die Kriegskinder-Generation in Eupen-Malmedy, welche er als „73er Generation“ konzipierte. Mit diesem Begriff bezeichnete er beispielsweise Studierende, die durch die politische Selbstentdeckung der flämischen Studenten beeinflusst worden sind und dieses politische Selbstbewusstsein in die Grenzregion gebracht haben.

TOBIAS HAIMIN WUNG-SUNG (Sønderborg) zeigte die Identitätsformation der deutschen Minderheit in Nordschlesien während der Nachkriegszeit anhand der Analyse des Rekonstruktionsprozesses des Bildungswesens von 1945 bis 1970 auf. In seiner Analyse der Geschichte der Kinder und Jugendlichen der deutschgesinnten Minderheit in Schulen konstatierte der Referent, dass schrittweise Feindseligkeiten zwischen Mehrheiten und Minderheiten sowie nationaler Separatismus durch transnationale Inklusion und eine internationale Perspektive ersetzt wurden. Diesen Entwicklungsprozess habe zunehmend auch die Gesellschaft wiedergespiegelt.

MACHTELD VENKEN (Wien) befasste sich mit den Maßnahmen, die durchgeführt wurden, um junge BewohnerInnen von Grenzländern zu Mitgliedern einer Nation zu machen. Des Weiteren erforschte sie die im Zuge dieses Nationalisierungsprozesses gezeigte Zustimmung respektive Ablehnung sowie die Auswirkungen der nationalen Elite-Schulungen. Dazu konzentrierte sie sich auf zwei höhere Schulen in Grenzregionen, die im 20. Jahrhundert mehreren Nationen zugehörig waren: Eupen-St.Vith-Malmedy in Belgien, sowie Ost-Oberschlesien in Polen. Die Unterschiede ließen sich folgendermaßen zusammenfassen: Während ein größerer Teil der polnischen Elite die Schule beendete und stärker militarisiert war, brachte Belgien eine größere bilinguale Grenzjugend hervor.

Im letzten Panel warf HAGEN STÖCKMANN (London) einen genaueren Blick auf die Art und Weise, in der Ausbildung in Grenzgebieten stattgefunden hat. Hierbei konzentrierte er sich vor allem auf die im Zuge der nationalsozialistischen Eindeutschungspolitik gegründeten „Reichsschulen für Volksdeutsche“ und auf die spezifisch nationalsozialistische Doppelpolitik zwischen „Auslesen und Eindeutschen“ und „Selektieren und Vernichten“, was eine immanente Gefahr des Ausgeliefert-Seins für Kinder und Jugendliche im Laufe des schulischen Prozesses bedeutete. Eindrucksvoll wurde dies veranschaulicht durch das Schicksal zweier Minsker Jungen im Elsass.

Die Autorinnen CATHERINE MAURER (Straßburg) und GABRIELLE RIPPLINGER (Straßburg) präsentierten ihre Fallstudie über ein Waisenhaus in Straßburg. Sie betonten unter anderem dessen Entstehung innerhalb der juristisch einzigartigen Situation des Grenzlandes, den Einfluss nationalistischer Architektur am neugebauten Heim, als auch den täglichen Umgang, der Veränderungen in der Einstellung in Bezug auf Religion, Familie und nationale Zugehörigkeit erfuhr. Dadurch wurde Modernität mit Säkularisierung, Bildung und der französischen Sprache assoziiert.

Zuletzt sprach JULIEN FUCHS (Brest) über die Jugendbewegungen zwischen 1918 und 1970 im Elsass. Seine Forschungen stützten sich auf drei Themengebiete: interkonfessionelle Beziehungen, die Verbindung zwischen Privatinitiative und der öffentlichen Politik sowie die dialektische Beziehung zwischen Region und Nation. Sein Vortrag zeigte, dass Jugendorganisationen im Elsass bei einer pro-französischen Mentalität und späteren Annäherung an Deutschland trotzdem ihren regionalen Charakter bewahrten. Letztlich führten sie zu einer Bekräftigung der Jugend und zur Bildung zahlreicher Gewerkschaftsführer, Jugend- und Sportbehörden sowie hochrangiger Beamter.

Nach der generellen Zusammenfassung der Tagungsereignisse durch Machteld Venken verwies die Organisatorin auf die dringend fortzusetzende Auseinandersetzung mit den durch die Tagung aufgeworfenen neuen Fragen und Perspektiven. Sie wünschte sich dabei vor allem auch noch die stärkere Miteinbeziehung von drei Perspektiven (lokal, jeweilig regional und deutsch) und betonte die Notwendigkeit, auch über die Schwierigkeiten der Quellenlage zum Thema Kindheit aufzuklären. Ein expliziterer und stärkerer Vergleich zwischen den verschiedenen Grenzregionen und ihren Bedingungen für die Kindheit im 20. Jahrhundert sei ebenfalls wünschenswert.

Konferenzübersicht:

Session 1: Central and Eastern Europe
Chair: Tomasz Kamusella (University of St. Andrews), Discussant: Katherine Lebow (Vienna Wiesenthal Institute for Holocaust Research)

Ruth Leiserowitz (German Historical Institute Warsaw): “Childhood in the Memel Region“

Frantisek Znebejanek (on behalf of Helena Kubatova) (Palacký University Olomouc, Czech Republic): “Growing up in Hlučín Region in the 20th Century”

Beata Halicka (Europa University Viadrina in Frankfurt an der Oder): “The everyday life of children in Western Poland during the early post-war period – methodological remarks on working with written memoirs”

Tomasz Kamusella (University of St. Andrews): “Upper Silesia in Modern Central Europe: On the Significance of the A-National / Non-National in the Age of Nations”

Session 2: Western Europe
Chair: Catherine Maurer (University of Strasbourg), Discussant: Benita Blessing (University of Vienna)

Andreas Fickers (University of Luxembourg): “Die Kriegskinder-Generation in Eupen-Malmedy (1930-1945): ‚Vergessene Generation’ oder ‚Gründergeneration’?“

Tobias Haimin Wung-Sung (University of Southern Denmark): “Post-war German Minority Identity in Education: The Case of North Schleswig“

Machteld Venken (University of Vienna):
“Comparing Nationalisation and Elite Training in the East Cantons and East Upper Silesia”

Session 3: Alsace
Chair: Pieter Lagrou (Université Libre de Bruxelles), Discussant: Andreas Fickers (University of Luxembourg)

Hagen Stöckmann (German Historical Institute in London): “Being educated or being selected? Processes and dynamics of childrens’ education in schools for ‚ethnic Germans‘ and ‚national political institutes of education‘ between centre and periphery”

Catherine Maurer, Gabrielle Ripplinger (University of Strasbourg): “Vernachlässigte Kinder im Elsass des 20. Jahrhunderts”

Julien Fuchs (University of Brest): “Living your youth in the Alsace, 1918-1970. A history of youth movements.”


Redaktion
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