Ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und die Berliner Justiz, 1939-1945

Ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und die Berliner Justiz, 1939-1945

Organisatoren
Christine Glauning, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide; Michael Wildt, Lehrstuhl für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus, Humboldt-Universität zu Berlin; Herbert Reinke, Forschungsnetzwerk 'Justice and Populations', Belgian Science Policy Office
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.02.2015 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrich Huemer, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

Erst spät wandte sich die Geschichtswissenschaft dem Schicksal der ausländischen ZwangsarbeiterInnen in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs zu. Die Initiative dazu kam dabei wesentlich aus dem außeruniversitären Bereich, den Geschichtswerkstätten, die sich von Beginn an schwerpunktmäßig mit dem Alltag im Nationalsozialismus beschäftigten. Daneben steht der Anstoß aus dem europäischen Ausland, wo die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zwangsarbeit für das Deutsche Reich aus verschiedenen Gründen zwar ebenfalls erst mit zeitlicher Verzögerung begann, von wo aber inzwischen nicht nur die mangelnde Entschädigung ehemaliger ZwangsarbeiterInnen sondern auch das mangelnde historische Unrechtsbewusstsein kritisiert wurde.

So war es durchaus folgerichtig, dass das Kolloquium zu aktuellen Forschungen zur Zwangsarbeit in Berlin vom Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide gemeinsam mit dem Lehrstuhl der Humboldt-Universität für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus und im Rahmen des Forschungsnetzwerkes ‚Justice and Populations‘ des Belgian Science Policy Office organisiert wurde.

Die Bedeutung der Zwangsarbeit für die Kriegswirtschaft betonte CHRISTINE GLAUNING (Berlin) in ihrer Einführung: 421.000 ausländische ZwangsarbeiterInnen waren im Sommer 1944 allein in Berlin, dem wichtigsten Rüstungsstandort des Reiches, beschäftigt. Zwangsarbeit war sichtbarer Alltag in der Reichshauptstadt, die Barackenlager waren überall in der Stadt verteilt und häufig von außen einsehbar. Neben Polen und aus der Sowjetunion geholten „Ostarbeitern“ waren in der Reichshauptstadt auch überdurchschnittlich viele westliche Zwangsarbeiter beschäftigt. Nicht alle waren unfreiwillig gekommen, im Verlauf des Krieges wurde die Rückkehr in die Heimatländer aber verboten. Ein Wechsel innerhalb Berlins zu einem anderen Arbeitgeber sei dagegen teilweise möglich gewesen. Für das Reichssicherheitshauptamt bedeutete die Masse an Ausländern im Reichsgebiet nicht zu kontrollierende Risiken, wie die Referentin ausführte. Entsprechend ihrem Auftrag und Selbstverständnis fürchtete diese zentrale Sicherheitsbehörde nicht nur Arbeitsverweigerungen, Aufstände und Sabotageakte, sondern sie sorgte sich auch um die Reinhaltung der Rasse. Aber schon angesichts der schieren Masse an Ausländern im Reichsgebiet waren Liebesbeziehungen zwischen deutschen Frauen und ausländischen Männern nicht zu verhindern.

Die im Kolloquium vorgestellten Forschungen basieren allerdings nicht auf Akten der Gestapo – diese sind weitgehend vernichtet – sondern auf Akten der Strafjustiz. Zu westeuropäischen Zwangsarbeitern ist die Quellenlage sehr gut, in Bezug auf polnische Zwangsarbeiter und Ostarbeiter hingegen weniger. Sie standen in der rassischen Hierarchie des NS-Systems noch niedriger, ihre Sanktionierung lag hauptsächlich in der Willkür der Polizei, sodass sie in den Akten der Justiz nicht so oft auftauchen.

Aufgrund der in den einzelnen Verfahren geschilderten Hintergründe, ergibt sich ein erstaunlich vielfältiges Bild der Lebensumstände. HERBERT REINKE (Berlin) führte in seinem Vortrag aus, dass die Kriminalität und insbesondere Diebstähle im Gefolge des Krieges allgemein massiv zunahmen. Gerade westeuropäische Zwangsarbeiter gerieten als Fremde, die sich jedoch weitgehend frei in der Stadt bewegen konnten, häufig unter Verdacht. Die Zahl der Verurteilungen korrespondierte allerdings nicht mit der Zunahme an Anzeigen und Ermittlungen, auch gegen Zwangsarbeiter wurden Verfahren häufig aus Mangel an Beweisen eingestellt. Für die Sicherheitsbehörden konstatierte Reinke einen drastischen Kontrollverlust.

BIANCA WELZING-BRÄUTIGAM (Berlin) vom Landesarchiv Berlin gab Auskunft über die dort befindlichen Archivbestände. Einerseits lagern hier Akten der Generalstaatsanwaltschaft beim Berliner Landesgericht, wovon sich aus den Kriegsjahren etwa 14.000 Signaturen auf Ausländer als Täter oder Opfer beziehen. Darüber hinaus sind Akten der Gefängnisse Tegel, Plötzensee, Spandau und Barnimstraße überliefert, in denen sich ebenfalls Hinweise auf Verfahren gegen ausländische ZwangsarbeiterInnen finden.

Über die Praxis des Münchner Sondergerichts referierte ANDREAS HEUSLER (München). Vor dem Krieg verhandelten die Sondergerichte vorwiegend politische Delikte, nach 1939 mehrheitlich Eigentumsdelikte und Mord. Der Anteil der beschuldigten Frauen stieg ebenso an, wie der Anteil der Ausländer. Letztere wurden in der Mehrzahl des Diebstahls bezichtigt, Diebstähle unter Ausländern kamen allerdings kaum vor Gericht. Aufgrund mangelhafter oder fehlender Übersetzung konnten beschuldigte Zwangsarbeiter häufig dem Verfahren nicht folgen. Verurteilt wurden sie vom Münchner Sondergericht mehrheitlich zu Zuchthausstrafen, auch 36 Todesurteile wurden ausgesprochen und zur Abschreckung durch Plakate öffentlich bekannt gemacht.

KATARZYNA WONIAK (Berlin) sprach über Fluchten polnischer Zwangsarbeiter aus Berlin. Durch die Polen-Erlasse von März 1940 waren sie in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. So wie später auch die sowjetischen Ostarbeiter mussten sie Abzeichen auf der Kleidung sichtbar tragen. Dennoch waren Fluchten ein Massenphänomen, wobei die meisten Fluchtversuche spontan erfolgten. Wie auch Zwangsarbeiter aus anderen Ländern nutzten viele Polen den Heimaturlaub, um sich der Zwangsarbeit zu entziehen, bevor dieser für Polen 1943 abgeschafft wurde. Zuständig für die Fahndung war die Gestapo. Flüchtige Zwangsarbeiter brachte sie zum Teil ins Arbeitslager, zum Teil zurück zum bisherigen Arbeitgeber, vor Gericht kamen sie meist wegen mit der Flucht zusammenhängender Diebstähle oder wegen des Bruchs des Arbeitsvertrages.

Da JULIA ALBERT (Berlin) nicht selbst am Kolloquium teilnehmen konnte, hat Herbert Reinke ihre Forschungsergebnisse über die Lebenswelten belgischer Zwangsarbeiter vorgetragen. Bis Herbst 1942 hatten sich mehr als 130.000 Belgier freiwillig zur Arbeit in Deutschland verpflichtet, erst ab Oktober 1942 nahmen die Besatzer auch Zwangsverpflichtungen vor. Die Belgier arbeiteten selten in großen Betrieben sondern meist als Handwerker oder Hausmädchen. Eine private Unterbringung war nicht ungewöhnlich, auch ein Nachzug der Familie war zum Teil möglich. Der im Verglich zum katholisch geprägten Belgien freizügige Lebensstil in Deutschland, wurde in Belgien zum Thema und Grund zur Sorge. Katholische Organisationen protestierten insbesondere gegen die Einbeziehung von jungen Frauen, das Deutsche Reich und insbesondere Berlin galten als Sündenpfuhl. Die Berliner Strafgerichtsakten zeigen, dass gegen Belgier meist wegen Eigentumsdelikten, Schwarzhandel, Betrug oder Passvergehen ermittelt wurde. Viele Verfahren wurden eingestellt, unter den Verurteilungen überwogen Strafbefehle gegenüber härteren Strafen. Auch Liebesbeziehungen zu deutschen Frauen wurden weniger hart bestraft als bei Polen und Ostarbeitern.

CAMILLE FAUROUX (Paris) referierte über die Liebesbeziehungen französischer Zwangsarbeiterinnen in Berlin. Die Frauen, die zu einem großen Teil in der Elektro-Industrie arbeiteten, waren zu 60 Prozent ledig. Auch von den Verheirateten gab ein Teil an, nicht in die Beziehung zurückkehren zu wollen. Private Unterkünfte waren die Ausnahme, in der Regel erfolgte die Unterbringung nach Geschlechtern getrennt in Barackenlagern. Es gab auch Lager für Ehepaare, allerdings nicht für alle, denen dies zugesagt worden war. Vor allem fehlte aber auch in diesen Lagern die Privatsphäre. Liebesbeziehungen – eheliche wie uneheliche – unter Franzosen waren an sich nicht verboten. Tatsächlich haben Frauen immer wieder in Männerlagern übernachtet und umgekehrt, was häufig mit Geldstrafen sanktioniert wurde, da die Zwangsarbeiter ihre Lager nachts nicht verlassen durften. Liebepaare trafen sich tagsüber und abends überall in der Stadt.

In der Abschlussdiskussion wurde noch einmal deutlich, wie unterschiedlich verschiedene Gruppen von Zwangsarbeitern behandelt wurden, was sich in der unterschiedlichen Bezahlung ausdrückte. Die Trennlinie der NS-Rassenhierarchie verlief dabei nicht nur zwischen Ost und West. So standen Tschechen etwa auf einer Stufe mit Franzosen, während italienische Militärinternierte in der Hierarchie weit unten standen. Auch innerhalb einer Gruppe unterschieden sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen regional und zeitlich. Allgemein wurden die Lebensbedingungen im Verlauf des Krieges schlechter, hinzu kam die Angst vor Bombardements, gerade bei Beschäftigten der Rüstungsindustrie. Andererseits führte der immer eklatantere Mangel an Arbeitskräften zuletzt auch zu manchen Lockerungen. Dieser Versuch, Arbeitskräfte durch leicht verbesserte Bedingungen zu halten, kann aber nicht über den bis zur endgültigen Niederlage jederzeit lebensbedrohlichen Rassismus hinwegtäuschen. Gerade unmittelbar vor der Befreiung fanden an vielen Orten im Deutschen Reich Massaker an ausländischen Zwangsarbeitern statt.

Konferenzübersicht:

Christine Glauning (Berlin), Begrüßung / Einführung

Herbert Reinke (Berlin), Krieg, Kriminalität und Fremde. Berlin 1939-1945

Bianca Welzing-Bräutigam (Berlin), Die Überlieferung der NS-Strafjustiz im Landesarchiv Berlin

Andreas Heusler (München), „... nachdrückliche Strafen ...“ Sondergerichte und Zwangsarbeiter – am Beispiel des Sondergerichts München

Katarzyna Woniak (Berlin), Fluchtarten polnischer Zwangsarbeiter anhand Berliner Strafgerichtsakten 1939-1945

Julia Albert (Berlin), Lebenswelten belgischer Zwangsarbeiter

Camille Fauroux (Paris), Liebesbeziehungen französischer Arbeiterinnen in Berlin 1942 – 1945 im Spiegel von Akten der Berliner Strafjustiz

Michael Wildt (Berlin), Volksgemeinschaft und Fremde

Schlussdiskussion


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