Migration und Familie

Migration und Familie

Organisatoren
Arbeitskreis Historische Familienforschung (AHFF) in der Sektion Historische Bildungsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft; Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Hildesheim,
Ort
Hildesheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.01.2015 - 31.01.2015
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Von
Wiebke Hiemesch, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Universität Hildesheim

Der Arbeitskreis Historische Familienforschung in der Sektion Historische Bildungsforschung und sein Sprecher_innengremium Meike Sophia Baader (Hildesheim), Wolfgang Gippert (Köln), Petra Götte (Augsburg) und Carola Groppe (Hamburg) luden vom 30. bis 31. Januar 2015 zu einer öffentlichen Jahrestagung an die Universität Hildesheim. Im Fokus der Tagung stand die Bedeutung und Funktion von Familie und verwandtschaftlichen Netzwerken für die verschiedenen Phasen der Ein- und Auswanderung aus fachübergreifender und historisch vergleichender Perspektive. Ein Sektionsworkshop im Januar 2014 war der Tagung vorbereitend vorausgegangen.

In dem Einführungsvortrag der Organisatorinnen und Organisatoren plädierte PETRA GÖTTE (Augsburg) dafür, Fragestellungen von Familien- und Migrationsforschung zusammen zu denken. Auf diese Weise könnten von ihr skizzierte Problemlagen der Forschung dezidierter beleuchtet werden. Historische und aktuelle Migrationsforschung arbeiteten bisher weitestgehend getrennt, da gegenwartsorientierte Studien Migration in erster Linie als Phänomen von Modernisierung begriffen und ihre Analyse an nationalstaatlichen Wanderungsprozessen orientierten. Aufgrund differierender gesellschaftshistorischer Lagerungen könnten historische Fragestellungen nicht daran anschließen. Weiterhin bedürfe es der Differenzierungen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen, um Prozesse offenzulegen, in denen Menschen und Familien als besonders markiert werden. Unter Einbezug gegenwärtiger und historischer Familienforschung sei Migration vielmehr als eine gesellschaftshistorisch und kulturell variierende „Seinsform“ zu verstehen, die wesentlich in familialen Netzwerken entschieden und organisiert würde.

An dieser Verknüpfung von historischer und gegenwärtiger Familien- und Migrationsforschung setzte die Tagung an und diskutierte laufende empirische Forschungsprojekte in sechs zweigliedrig organisierten Panels.

Zwei Panels thematisierten die Bedeutung und Funktion „familialer Netzwerke“ für den Migrationsprozess. ANDREAS HÜBNER (Jena) zeigte auf der Grundlage von gesichteten Kirchenregistern, wie deutsche Auswanderer im 18. Jahrhundert in dem Gebiet der Côte des Allemands/Louisiana neue familiale Netzwerke aufbauten, nachdem diese durch die Belastungen der Migration zerbrochen waren. Die Auswirkungen einer Migration aus Württemberg nach Amerika auf zwei Kernfamilien zeichnete KATHARINA BEIERGRÖSSLEIN (Stuttgart) anhand lokaler Überlieferungen und eines Reiseberichts nach. Im Vordergrund stand die Frage, wie sich Veränderungen und Trennungen auf die Familienteile „dies- und jenseits des Atlantiks“ auswirkten. Dass es sich nicht immer um ein gemeinsames Familienprojekt handelte, sondern einzelne Menschen beispielsweise durch kriegs- oder arbeitsbedingte Faktoren zur Migration gezwungen waren, beleuchtete SIMONE TIBELIUS (Mannheim) in ihrem Vortrag zur Rechts- und Sozialgeschichte von Vaterschaft und Unterhalt in transnationalen Familienformen.

Anhand der Volkszählung aus dem Jahr 1950 zeigte FRANK RAGUTT (Münster) den wissenschaftlichen Ertrag von Sozialstatistiken für sozial- und kulturgeschichtliche Studien. Er setzte sie zu Familien- und Sozialstatistiken der 1930er- und 1940er-Jahre in Bezug und beschrieb Kontinuitäten und Diskontinuitäten des sozialen und materiellen Wandels der Familie sowie deren Migrationsbestrebungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Einen Blick auf die Lebenswelten und verwandtschaftlichen Netzwerke von alleinerziehenden Migrantinnen und Migranten richtete CHRISTINA LOKK (Hildesheim). Das Projekt, aus dem sie berichtete, stützt sich auf narrativ-biographische Interviews mit überwiegend weiblichen Migrantinnen und fokussiert explizit die Handlungsfähigkeit der Frauen. Auf der Grundlage ethnographischer Datenerhebungen und Interviews referierte SEBASTIAN KURTENBACH (Bochum) über transnationale Familienorganisation unter den Bedingungen von Armut im „Roma Getto Plovdiv Stolipinovo“ in Bulgarien. Die familialen Netzwerke zeichneten sich durch spezifische Kommunikationspraktiken und innerfamiliäre Entfremdungstendenzen aus.

Ein drittes Panel diskutierte „Veränderungen von Familienstrukturen und Familienkonzepten im Kontext von Migration“. Diese zeichnete WOLFGANG HARTUNG (Duisburg/Saratow) für die Wolgadeutschen im 18. und 19. Jahrhundert nach. Multifaktoriell bestimmte Umstrukturierungen der familialen Lebensformen könnten sowohl mehrere Generationen vor als auch nach dem Migrationsereignis beschrieben werden. Diese seien durch den Wegfall von gesellschaftlichen, obrigkeitlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen und kirchlichen Zwängen durch die Migration bestimmt. Entscheidungsprozesse von reimigrierten (Spät-)Aussiedlerfamilien in Westsibirien beleuchtet TATJANA FENICIA (Trier) aus gendertheoretischer Perspektive. Auf Grundlage einer Interviewstudie skizzierte ihr Beitrag die Sicht der Frauen auf migrationshemmende und migrationsfördernde Aspekte sowie die Zufriedenheit beziehungsweise Unzufriedenheit nach der Emigration. Frauen würden stärker von der Migration nach Deutschland profitieren, sodass ihre Rückkehrentscheidungsfindung oftmals inkonsistent verlaufe. ANNE-KRISTIN KUHNT (Duisburg) präsentierte ein Projekt am Schnittpunkt von Migrations- und Fertilitätsforschung. Basierend auf dem Beziehungs- und Familienpanel (pairfam) stellte sie statistische Ergebnisse zum Kinderwunsch von Menschen mit Migrationserfahrung in der ersten und zweiten Generation sowie zwischen dem vierzehnten und vierunddreißigsten Lebensjahr dar.

Das Panel zu „Familiengedächtnissen“ wurde von einem Beitrag von LAURA WEHR (München) eröffnet. Sie berichtete aus ihrem akteurszentrierten Interviewprojekt zu Familien von DDR-Übersiedler_innen. Anhand eines Fallbeispiels skizzierte sie nicht nur familiale Funktionen und Strategien, um den gesellschaftspolitischen Einflüssen und Herausforderungen zu begegnen, sondern auch die Prozesse eines familialen Gedächtnisses über drei Generationen. Auf der Grundlage von Interviews referierte ALEXANDER WALTHER (Jena) über Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien. Er verdeutlichte, wie die Flucht nach Deutschland durch ein familiales Netzwerk entschieden und organisiert wurde, aber auch, wie sich dies angesichts der traumatischen Erlebnisse und der oftmals katastrophalen Bedingungen im Zielland wandelte. Bis heute sei die gemeinsame Erfahrung, so schlussfolgerte er, fester Bestandteil des familialen Gedächtnisses.

Das Panel zu „Migrantenfamilien im Kontext sozialer Bürokratie und pädagogischer Arbeit“ eröffnete CLAUDIA ROESCH (Münster) mit einem Vortag über mexikanische Einwandererfamilien in den USA. An einem Fallbeispiel skizzierte sie die Lebensrealitäten von Einwandererfamilien im Kalifornien der 1920er-Jahre. Sie zeichnete nach, wie hegemoniale und hybride Familienideale in praktischer Sozialarbeit sowie in den Lebensrealitäten der Einwandererfamilien verhandelt wurden. MEIKE SOPHIA BAADER (Hildesheim) befasste sich mit sozialpädagogischer Stadtteilarbeit mit türkischen Migrantenfamilien in Berlin um 1970. Sie wertete dabei Dokumente von Sonderprojekten aus, die 1972-1977 vom Berliner Senat insbesondere in Sanierungsgebieten finanziert wurden. Ein Drittel der Familien und Kinder, mit denen in diesem Rahmen pädagogisch gearbeitet wurde, waren türkischer Herkunft. Dabei folgten die Konzepte jedoch keinesfalls der sogenannten „Ausländerpädagogik“, wie es die Historiographie der Migrationspädagogik für die Bundesrepublik behauptet.

Ein letztes Panel umfasste Projekte zum „Intergenerativen Wandel und intergenerativen Transferprozessen“. LJUBA MEYER (Dortmund) präsentierte eine habitustheoretische Interpretation von Bildungstransferprozessen russischer Dreigenerationenfamilien. Ihr Projekt fokussiert auf jüdisch-russische sowie Spätaussiedler-Familien und zeichnet familieninterne und peergeprägte Prozesse zwischen Herkunfts- und Ankunftsland nach. Zum Zusammenhang von Migrationsgeschichte und (bildungs-)biographischen Entwicklungen junger italienischer Migrantenfamilien sprach KATHRIN BÖKER (Hamburg). Das vom BMBF geförderte Projekt basiert auf Genogrammanalysen und Einzelinterviews und zeichnet migrationstypische familiale Dynamiken sowie adoleszente Möglichkeitsräume der Söhne nach. KRISTINA SCHIERBAUM (Frankfurt) rekonstruierte mithilfe der Genogrammanalyse (Hildenbrand) die Familiengeschichte der Goldzmits. Die Geschichte der Herkunftsfamilie des berühmten polnisch-jüdischen Mediziner und Pädagogen Janusz Korczak sei sowohl durch Bildungs-, Binnen-, als auch arbeitsbedingte Emigration geprägt gewesen.

Mit zwei Plenumsvorträgen von PIA SCHMID (Halle an der Saale) und CHRISTOPH LORKE (Münster) schloss die Tagung. Schmid referierte über die Erfahrungen mährischer Religionsflüchtlinge in die Herrnhuter Brüdergemeine während des 18. Jahrhunderts. Anhand schriftlicher Lebensläufe verdeutlichte sie Funktion und Bedeutung ihrer Frömmigkeitspraxen für die Entscheidung und die Umsetzung der Flucht in die Brüdergemeine. Lorke präsentierte einen geschichtswissenschaftlichen Ansatz, um binationale beziehungsweise interkulturelle Ehen konzeptionell, theoretisch und praktisch zu erschließen. Die Frage nach Paarbeziehungen könne die Bedeutung transnationaler sozialer Räume differenziert erschließen, den Nationalstaat in seiner gesellschaftshistorischen Entwicklung genauer beleuchten und Grenzen bisheriger Ansätze kritisch hinterfragen.

WOLFGANG GIPPERT (Köln) skizzierte bereits zu Beginn der Tagung das vielfältige Themenspektrum, welches sich über drei Jahrhunderte sowie über verschiedenste Gruppen aus unterschiedlichen Regionen mit spezifischen Emigrationsbestrebungen bis hin zu Flucht und Vertreibung erstreckte. Die Fragestellungen wurden mit heterogenen Quellen und Methoden bearbeitet. Darunter waren Familienstatistiken, Panelstudien, dem Migrationsereignis zeitnah entstandene Quellen und ihm zeitlich entfernt geführte Interviews sowie ethnologische Feldzugänge oder die Genogrammanalyse nach Hildenbrand. Die Heterogenität, die das Thema Migration als Familienprojekt eröffnet, wurde auf der Tagung in einem transdisziplinären Austausch zusammengeführt. Deutlich wurde, dass der Austausch nicht nur durch ähnliche Fragestellungen gekennzeichnet ist, sondern dieser auch bezüglich methodischer und methodologischer Herausforderungen gewinnbringende Verschmelzungen zwischen Familienforschung und Migrationsforschung, ebenso wie zwischen gegenwärtiger und historischer Perspektive, eröffnen kann. Letztlich sei Geschichtsschreibung immer Geschichtserzählung und habe damit narrativen Charakter, so lautete ein Fazit aus dem Plenum. Für diese Erzählungen, so machte die Tagung deutlich, sind institutionelle und organisationale Rahmungen durchaus generierend. Sie wirken in der Geschichte von Migration oftmals als Kontrollinstanzen von Wanderungsprozessen. In akteurszentrierten Projekten wurde andererseits deutlich, dass die Familie nicht allein als Planungs- und Realisierungsnetzwerk von Wanderungsprozessen fungiert, sondern auch Erosionen von familiären Gefügen und deren Zerstörung durch die gesellschaftshistorischen Bedingungen im Kontext von Familie und Migration mitgedacht werden müssen.

Konferenzübersicht:

Wolfgang Gippert (Köln)/Petra Götte (Augsburg), Migration und Familie - Einführung in das Tagungsthema

Panel 1: Familiale Netzwerke I

Andreas Hübner (Jena), Kolonie und Familie: Die Kirchengeister der Côte des Allemands und die Ausbildung familialer Netzwerke im Louisiana des 18. Jahrhunderts

Katharina Beiergrößlein (Stuttgart), 7270 km über den Atlantik – Auswirkungen von Migration auf Familie

Simone Tibelius (Mannheim), Familien über Grenzen. Zur Rechts- und Sozialgeschichte von Vaterschaft und Unterhalt

Panel 2: Veränderung von Familienstrukturen, Familienkonzepten im Kontext von Migration

Wolfgang Hartung (Duisburg/Saratow), Umstrukturierung der Familie vor, während und nach der Migration. Die Wolgadeutschen im 18. und 19. Jahrhundert

Tatjana Fenicia (Trier), Rückkehrentscheidungen aus Genderperspektive: Reimigrierte (Spät-) Aussiedlerfamilien in Westsibirien

Anne-Kristin Kuhnt (Duisburg), Kinderwünsche von Migrantinnen und Migranten

Panel 3: Familiengedächtnisse

Laura Wehr (München), Familienprojekt Ausreise: Die Ost-West-Migration im familiären Gedächtnis von DDR Übersiedler-Familien

Alexander Walther (Jena), Familiäres Gedächtnis jugoslawischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland

Panel 4: Migrantenfamilien im Kontext sozialer Bürokratie und pädagogischer Arbeit

Claudia Roesch (Münster), Mexikanische Einwandererfamilien, soziale Beratung und der Wandel von Familienwerten im Kalifornien der 1920er-Jahre

Meike Sophia Baader (Hildesheim), Sozialpädagogische Stadtteilarbeit mit türkischen Migrantenfamilien in Berlin um 1970

Panel 5: Familiale Netzwerke II

Frank Ragutt (Münster), Migration und Lebensstand von Familien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Spiegel der Volkszählung von 1950

Christina Lokk (Hildesheim), Familiär-verwandtschaftliche Netzwerke in der Lebenswelt alleinerziehender MigrantInnen

Sebastian Kurtenbach (Bochum), Transnationale Familienorganisation unter den Bedingungen von Armut

Panel 6: Intergenerativer Wandel und intergenerative Transferprozesse

Ljuba Meyer (Dortmund), Bildungstransfer russischer Dreigenerationenfamilien in Berlin

Kathrin Böker (Hamburg), Migrationsgeschichte und (bildungs)biographische Entwicklungen junger Männer aus italienischen Migrantenfamilien – Transmission und Transformation in adoleszenten Generationsbeziehungen

Kristina Schierbaum (Frankfurt), Die Goldszmits – Eine Familiengeschichte des Hin und Her

Forum

Pia Schmid (Halle an der Saale), Die Erfahrung von Migration in den Herrnhuter Lebensläufen des 18. Jahrhunderts

Christoph Lorke (Münster), Interkulturalität und Asymmetrien – Binationale / interethnische Ehen. Konzeptionelle, theoretische und praktische Zugänge