Organspende und Transmortalität: Die Perspektive der Medical Humanities

Organspende und Transmortalität: Die Perspektive der Medical Humanities

Organisatoren
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, RWTH Aachen University
Ort
Aachen
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.03.2015 -
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Von
Stephanie Kaiser, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik (GTE) der Medizin, Rheinisch-Westfälisch Technische Hochschule Aachen

Am 20. März 2015 fand am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik (GTE) der Medizin an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen die interdisziplinäre Tagung „Organspende und Transmortalität: Die Perspektive der Medical Humanities“ statt. Der Tagungsidee zugrunde lag das von der VolkswagenStiftung geförderte Forschungsprojekt „Tod und toter Körper: Transmortalität“, dessen Teilgebiete Medizingeschichte und Medizinethik am Aachener Institut bearbeitet werden. Gastgeber und Tagungsleiter war Dominik Groß (Aachen), unterstützt von Julian Mausbach (Zürich), welcher stellvertretend für Brigitte Tag als Leiterin des rechtswissenschaftlichen Teilprojektes agierte. Ausgangspunkt der Tagung war das Phänomen Transmortalität im Themenfeld Organspende: Der Begriff steht hierbei für neue, durch medizintechnische Praktiken erzeugte Möglichkeiten, den Tod und seine konkrete Erscheinungsform – die menschliche Leiche – zu relativieren bzw. in letzter Konsequenz sogar zu überwinden. Wie bei kaum einem anderen Phänomen werden hierbei psychologische, metaphorische, soziale und metaphysische Elemente von biologischen und kulturellen Konstrukten überlagert. Damit einher ginge ein Verlust der ärztlichen Deutungs- und Definitionsmacht im Hinblick auf das Lebensende sowie die verbindliche Feststellung des Todes. Das Verständnis von und die Geschichte der Transmortalität wurden mit unterschiedlichen Zugangsweisen und Blickwinkeln der Medical Humanities untersucht. Aus heutiger Perspektive sollten Aussagen über den Umgang mit dem Tod und darüber hinaus eine Definition des Todes ermöglicht und die bestehenden Positionen diskutiert werden.

Vom Standpunkt „Geschichte, Theorie und Ethik“ ausgehend, skizzierte der Institutsleiter DOMINIK GROSS (Aachen) vier Handlungsfelder, die typischerweise mit dem Gebiet der Transmortalität in Verbindung gebracht werden können: (1) Organe und damit Teile eines Verstorbenen können durch transplantationsmedizinische Interventionen in den Körpern der Empfängern zum ‚Weiterleben‘ gebracht werden; (2) Plastinate – die anatomische Präparation von Körpern durch Kunststoff zur dauerhaften Erhaltung – ermöglichen Körperspendern eine materielle Fortexistenz und damit ein Überdauern des Todes in einem ‚verlebendigten‘ unvergänglichen Körper; (3) die Diamantierung, also die Verarbeitung menschlicher Asche zu einem Diamanten, erlaubt die Transformation des organischen Körpers in eine anorganische, ästhetisierte und ebenfalls dauerhafte Erscheinungsform; (4) durch die Technologie der Kryonik werden kürzlich Verstorbene in einen Kälteschlaf versetzt, verbunden mit der Hoffnung, in der Zukunft wiederbelebt zu werden. Tote im kryokonservierten ‚Tiefschlaf‘ werden von den Anhängern dieser Theorie zu ‚Weiter-Lebenden‘ umgedeutet. Die Voraussetzung für diese vier Handlungsfelder liegt in der Instrumentalisierung des eigenen Körpers.

Die zweite Begrüßung und Einführung in die Thematik aus der juristischen Perspektive von JULIAN MAUSBACH (Zürich) stellte das Spannungsverhältnis zwischen Transplantationsmedizin und Transmortalität in den Mittelpunkt und warf viele Fragen des Rechts hinsichtlich dieser Aspekte auf. So thematisierte er beispielsweise die Frage, ob es Bereiche im Transplantationswesen gibt, die über das Todeskriterium hinweg wirken sollen, dürfen oder sogar müssen. Aber auch die daraus resultierende Frage, ob es gemäß der Angehörigeninformation einen Anspruch auf Kenntnis des Empfängers respektive der Adresse des ‚weiterlebenden‘ Teils des Spenders gibt, wurde von Mausbach problematisiert. Als besonders schwierig muss hierbei die Frage gelten, ob durch medizinische organprotektive Maßnahmen zugunsten der potentiellen Empfänger bereits vor Eintritt des Todes in das Selbstbestimmungsrecht des Lebenden eingegriffen werden darf und es damit zu einer „umgekehrten Transmortalität“ käme. Der Rechtswissenschaftler diskutierte diese Fälle kritisch, wobei die bis dato noch offenen Fragen auch unbeantwortet bleiben mussten.

Anschließend wurden aus den verschiedenen Fachdisziplinen Vorträge präsentiert, deren Inhalte am Ende jeder Präsentation vertiefend diskutiert und kommentiert wurden. KARSTEN WITT (Duisburg) titelte „Praktisch tot“ und stellte seinen Vortrag der Strömung „Theoretisch tot“ entgegen. Er rekurrierte auf die offene Kontroverse über das Hirntodkonzept seit den 2000er-Jahren und strengte ethische Fragen an. Er setzte sich kritisch mit der pluralistischen Todeskonzeption – ‚Pro-choice view about standards of death‘ – des Bioethiker David DeGrazia auseinander. DeGrazia habe dafür plädiert den autonomen Entscheidern ein Todeskriterium für ihren individuellen Fall auswählen zu lassen, was letztendlich zu der Annahme führen müsste: Ob eine Person sich als lebendig oder tot betrachtet, ist unabhängig davon, ob man sie als tot oder lebendig betrachte. Hierdurch bestehe allerdings die Gefahr, dass wichtige ethische und moralische Fragen, beispielsweise die Frage nach aktiver bzw. passiver Sterbehilfe und Organspende verschleiert werden könnten.

Im Anschluss erläuterte MELANIE SCHÄFER (Aachen) ihre Erfahrungen mit Angehörigen in Aufklärungsgesprächen. Dabei referierte sie den gesetzlichen Rahmen für die Organspende am Beispiel der deutschen Regelungen, klärte über religiöse Standpunkte auf und sprach die Schwierigkeiten der verbalen und non-verbalen Verständigung aus der Perspektive der Ärzte an. Aus Schäfers Innenansicht als Medizinerin und Transplantationsbeauftragte wurden die einzelnen Schritte des Angehörigengespräches erläutert sowie das dahinterstehende Kommunikationskonzept, Gründe für Zustimmung und Ablehnung der Spende aufgezeigt. Hervorgehoben wurden die medizinischen Berufe und die Massenmedien als Transporteure einer positiven Einstellung pro Organspende.

STEPHANIE KAISER (Aachen) widmete ihren Vortrag „postmortales ‚Weiterleben‘ durch Organspende – zur öffentlichen Diskussion im deutschen Printmediendiskurs“ der Berichterstattung über die Organspende in Deutschland. Die Medizinhistorikerin ging der Frage nach, inwiefern die Idee einer postmortalen (Teil-)Existenz mit Hilfe einer Organspende medial behandelt wurde. Über den Zeitraum von 1960 bis 2015 wurden für eine standardisierte, systematische Inhaltsanalyse sechs meinungsführende und überregionale Zeitungen herangezogen. Die Untersuchung ergab, dass der Grundgedanke eines partiellen ‚Weiterlebens‘ nach dem Tod durch Organspende ein rezentes und relativ marginales Phänomen darstellte, das jedoch seit den 2000er-Jahren an Aufmerksamkeit hinzugewonnen hat.

ANNA BERGMANN (Frankfurt/Oder) stellte in Ihrem Beitrag „Transplantationsmedizinische Explantationspraktiken und Kollisionen mit unserer Bestattungskultur“ die, auch in der modernen Gesellschaft aktiv gebliebenen, magischen und religiösen Vorstellungen von einer Weiterexistenz der Toten dar und skizzierte, wie diese im kulturellen Umgang mit sterbenden und toten Menschen wirksam sind. Bergmann konfrontierte die Zuhörer mit Regeln und Sterberitualen des Totenkults. Diese wurden mit dem Prozedere einer Multiorganexplantation und der medizinisch-naturwissenschaftlichen Herleitung sowie Infragestellung der Hirntoddefinition verglichen. Ebenso thematisierte die Kulturwissenschaftlerin die neueren Entwicklungen der (experimentellen) Transplantationspraxis, die sich zum Ziel macht den per se begrenzten Spenderpool durch die Vergabe von marginalen Organen zu maximieren.

In ihrem Vortrag „Verstrickungen der Organspende“ stellte NADIA PRIMC (Heidelberg) das reduktionistische Menschenbild der Transplantationsmedizin Wilhelm Schapps Theorie der lebensweltlichen Ganzheit gegenüber. Gemäß dem Werk ‚In Geschichten verstrickt‘ des deutschen Juristen und Philosophen ist der Zugang zu uns selbst und unseren Mitmenschen nur über die unzähligen Geschichten möglich, in die wir ‚(mit)verstrickt‘ sind. Diese Geschichten haben keinen absoluten Anfang und kein Ende. Mit Schapp ließe sich die Transmortalität dahingehend erklären, dass durch die Mitverstrickten der Organspende sowie den Körper und dessen Verwendung unsere eigenen Geschichten eine Fortsetzung fänden. Diese Transmortalität spiegelt sich darin wider, dass der Empfänger und die Angehörigen in die Geschichte des Spenders und dessen Angehörigen verstrickt würden und vice versa. Gemäß Schapps Theorie gäbe es so keinen leiblichen und keinen geistigen Tod mehr und ein postmortales Fortleben müsste als gesichert gelten.

SOLVEIG LENA HANSEN (Göttingen) und LARISSA PFALLER (Erlangen) stellten „soziologische und ethische Fragen an das Unbehagen mit der Organspende“ vor und präsentierten ein interdisziplinäres Projekt zur Praxis der Kritik an der Organspende. Das Spannungsfeld zwischen dem medial geführten Organspende-Diskurs, der die Spendebereitschaft zum moralisch richtigen Verhalten erklärt und dessen Erhöhung als Hauptziel ausgibt, sowie den zu einer Entscheidung Aufgeforderten stand im Fokus. Das soziologische Teilprojekt wird den Unsicherheiten, Enttäuschungen, Ängsten von Bürgern als potentiell Betroffenen nachspüren. Das bioethische Teilprojekt beschäftigt sich darüber hinaus mit dem aktuellen medialen Diskurs und dessen Akteuren und Strategien. Deutsche Poster- und Informationskampagnen pro Organspende des letzten Jahrzehnts wurden in moralisch-politischer Hinsicht für den gemeinsamen Vortrag exemplarisch analysiert.

In seinem Vortrag „Partikulare Vitalität. Postmortale Körperpräsenz zwischen Medizin und Metapher“ stellte THORSTEN BENKEL (Passau) die Aussage voran, dass mit dem Leben die soziale und die leibliche Präsenz einer Person endet, medizinische bzw. naturwissenschaftliche Techniken den toten Körper aber wieder sichtbar machen können. Daran schließe sich angesichts des Fortschreitens medizinischer Intervention an der Schwelle von Leben und Tod nicht nur die Frage an, ‚wie tot‘ diese Körper tatsächlich seien, sondern auch ‚wie tot‘ sich unabhängig davon der menschliche Körper – oder gar einzelne Körperteile – denken und definieren ließen. Feststünde, dass etwas bleibt respektive entsteht, wenn ein Mensch stirbt. Damit erhalte dieser Körper eine Sinnzuschreibung. Das Sprechen über Körperteile im Rahmen der Organspende bedeute ein Sprechen über Migration. Forschungsarbeiten auf 800 Friedhöfen hätten gezeigt, dass kein Grabstein Hinweise erhalte, ob dort ein Organempfänger ‚und‘ sein Spender liegen. Anhand dieses Beispiels problematisierte der Soziologe, dass eine Aufteilung des Körpers zu Problemen der Zuordnung führen kann und unsicher würde, welches das eigentliche Ich sei.

In „Die Evidenz des Physischen. Der tote Körper – ein postmortaler Informationsträger auf dem Seziertisch der Forensik“ zeigte MATTHIAS MEITZLER (Duisburg) auf, dass ein menschlicher Körper post mortem Anschlusshandlungen in Gang setzt. Besonders deutlich würde dies durch die Forensik, die den Leichnam auf ihrer Spurensuche nach dem spezifischen Körperschicksal zu einem Informationsträger und einem Mitteilungsobjekt zugleich mache. Erst mit seiner ‚Entstehung‘, ergo durch sein Gestorbensein, ermögliche der tote Körper diese Wissensgenerierung. Der Soziologe und Historiker argumentierte, dass durch das Auftrennen der Körperintegrität in Folge rechtsmedizinischer Praktiken zwar kein postmortales Fortleben, wie etwa durch eine Organspende, ermöglicht würde, jedoch die Funktion des Leichnams als physisches Beweismittel für ein postmortales Weiterwirken spräche.

Die Vorträge der Tagung standen unter der Prämisse, dass der Tod nicht mehr das per definitionem Ende des Lebens bilde, sondern die Schwelle zu einem neuen Zustand der Existenz sei. Transmortalität bedeutet, dass es für den Menschen nicht nur ‚eine‘ Grenze gibt, sondern ‚viele‘. Dennoch kristallisierte sich ein Kernproblem heraus: Wie viel Mensch ist der tote Körper? Daran schlossen sich weitere Fragen an: Wann endet das Sein des Organspenders, wo fängt das Sein des Organempfängers an? Bedeutet das Weiterleben eines Teils bzw. eines Organs, dass der ‚Mensch‘ weiterlebt? Für die Tagungsteilnehmer war der sorgsame Umgang mit Begrifflichkeiten und Definitionen hierbei besonders wichtig. Da der Gedankenaustausch zu dem rezenten Phänomen Transmortalität aber erst begonnen hat, konnten zwar viele Fragen aufgeworfen werden, die aber erst im Laufe weiterer intensiver Forschungsarbeit beantwortet werden können. Angestrebt werden sollte auch eine internationale, wenn nicht gar eine transnationale, Ausrichtung zu dieser Thematik. Es gab ein deutliches Plädoyer, das Argument des postmortalen, partiellen Weiterleben von Organspendern innerhalb des Themenfeldes Organspende und Gewebespende ernst zu nehmen, wenn auch Einigkeit herrschte, dass aus ethischer Sicht mit diesem Motiv bei Angehörigengesprächen oder Werbekampagnen nicht geworben werden darf. Als Bewältigungsstrategie muss dieses Argument anerkannt werden.

Somit stellte sich die Frage, ob das ‚Memento Mori‘ nicht um eine wertvolle, neue Perspektive erweitert werden müsste? Doch die Konsequenzen, die sich dadurch für Technik, Medizin, Philosophie, Kunst, Religion und Literatur ergeben würden, gilt es in der Zukunft neu auszuloten. Ebenso dürfte sich eine stärkere Fokussierung auf das angrenzende Thema Unsterblichkeit als förderlich herausstellen.

Konferenzübersicht:

Dominik Groß (Aachen), Transmortalität: Einführung in die Thematik (GTE-Perspektive)

Julian Mausbach (Zürich), Einführung in die Thematik (Jura-Perspektive)

Sektion I

Karsten Witt (Duisburg), Praktisch tot

Melanie Schäfer (Aachen), Erfahrungen mit Angehörigen in Aufklärungsgesprächen – Motiv für Spende: Weiterleben

Stephanie Kaiser (Aachen), Postmortales „Weiterleben“ durch Organspende. Zur öffentlichen Diskussion im deutschen Printmediendiskurs

Anna Bergmann (Frankfurt/Oder), „Der Tote lebt weiter“, „der Tote ist mächtig“, „der Tote ist gut und böse zugleich“. Transplantationsmedizinische Explantationspraktiken und Kollisionen mit unserer Bestattungskultur

Sektion II

Nadia Primc (Heidelberg), Die Verstrickungen der Organspende

Solveig Lena Hansen (Göttingen)/Larissa Pfaller (Erlangen), Soziologische und ethische Fragen an das Unbehagen mit der Organspende: Ein interdisziplinäres Projekt zur Praxis der Kritik

Sektion III

Thorsten Benkel (Passau), Partikulare Vitalität. Postmortale Körperpräsenz zwischen Medizin und Metapher

Matthias Meitzler (Duisburg), Die Evidenz des Psychischen. Der tote Körper – ein postmortaler Informationsträger auf dem Seziertisch der Forensik


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