„Die Unsichtbaren“: Hilfsberufe in der Medizin und den Naturwissenschaften

„Die Unsichtbaren“: Hilfsberufe in der Medizin und den Naturwissenschaften

Organisatoren
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.01.2015 - 17.01.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Ramon Wieszczeczynski, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Auf dem Gebiet der Geschichte der Naturwissenschaft ist durch den Einzug sozialhistorischer und kulturwissenschaftlicher Perspektiven in den vergangenen Jahren eine Vielzahl neuer Akteure ins Blickfeld der Forschung gerückt. Doch auch weiterhin gibt es zahlreiche Tätigkeiten, die sich beispielsweise im Verlauf der Professionalisierung und Differenzierung der Medizin seit der Wende zum 20. Jahrhundert etabliert haben, und bislang nur wenig Aufmerksamkeit erhielten. Das Spektrum dieser Gruppe von qualifiziertem Hilfspersonal ist mannigfaltig und die Ausbildungen und Ausprägungen haben oft regionale Differenzen. Bei der Beschäftigung hiermit werden zahlreiche Fragen aufgeworfen: Existierten spezifische Traditionslinien? Wie vollzieht sich der Wissenstransfer? Wie wurde handwerkliches oder medizinisch-technisches Fachwissen weitergegeben? Wo und unter welchen Bedingungen entstanden und etablierten sich neue Berufsbilder?

Mit diesen Fragen beschäftigte sich der Workshop des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, der am 16. und 17. Januar im Medizinhistorischen Museum Hamburg stattfand. Als Vorüberlegung thematisierte KAI SAMMET (Hamburg) in seinem Vortrag die Frage, wie Arbeitsteilung in der Naturwissenschaft aussieht und wer konkreten Anteil an dem produzierten Wissen hat. Am Beispiel des männlichen Laboratoriumswärters Richard Muss, der zwischen 1890 und 1930 an der psychiatrischen Klinik Hamburg-Friedrichsberg für den Psychiater Wilhelm Weygandt tätig war, ging er auf die Anonymität des Hilfsarbeiters ein, der bei Publikation von Forschungsergebnissen nicht namentlich in Erscheinung trat. Dennoch bestand ein von hoher gegenseitiger Wertschätzung gezeichnetes Verhältnis zwischen den beiden, wie durch Weygandts Nachruf auf Muss zu belegen ist. Es bleibt die Frage ob man in der Biographie eines solchen Hilfsarbeiters einen eigenständigen Akteur im Sinne der Wissensgenerierung, oder lediglich einen verlängerten Arm des Wissenschaftlers sehen kann, der „von dessen Geist beseelt“ war, wie es Muss Zeitgenossen ausdrückte. Die abschließende Frage lautete dahin: Wessen Leistung ist am Ende verdächtig einen Nobelpreis zu bekommen?

Den Themenblock der Professionalisierung und „Verberuflichung“ eröffnete KRISTINA MATRON (Stuttgart) mit ihrer Schilderung zur Entstehung des Berufsbildes der Hauspflegerin in den 1950er- und 1960er-Jahren. Diese Hauspflege wurde ausschließlichen von Frauen ausgeübt, die bei ihrer Tätigkeit sowohl haushälterische als auch pflegerische Tätigkeiten vereinten. Anhand der Gründung von Vereinen und der Entstehung einer speziellen Ausbildung zeichnet sich das Bild eines neuen Berufs im Pflegebereich, der sich in den Nachkriegsjahren etablierte. Überschneidungen zur Kranken- und Altenpflege, Gemeindeschwestern oder landwirtschaftlichen Hilfspflegern erschweren die Fassung dieses speziellen Berufs. Auch wenn durch den Ausbau der ambulanten Pflege die Hauspflege teilweise ersetzt wurde, lassen sich sozioökonomische Linien bis in die Gegenwart ziehen. Diese sind ebenso noch genauer zu erforschen wie die Vereinsgeschichten, die teilweise bis ins Kaiserreich zurückreichen und den Grundstein für die Bildung der Hauspflege legten.

Eine völlig andere Berufsgruppe wählte ANDREAS PFEUFFER (Konstanz) für seine Untersuchungen. Kodierfachkräfte an deutschen Krankenhäusern sind eine vergleichsweise moderne Erscheinung. Diese Berufsgruppe im Spannungsfeld von medizinisch-pflegerischen und betriebswirtschaftlichen Anforderungen ist bislang kaum erforscht. Im Zuge der Privatisierung und Ökonomisierung der deutschen Krankenhauslandschaft, seit den 1990er-Jahren, entstand die Notwendigkeit einer umfassenden Systematisierung der Berechnung von Fallpauschalen. Diese Arbeit erforderte bald eine eigene Abteilung im Krankenhausbetrieb, bei der Mitarbeiter unter Einsatz des Programms DRG-Grouper sämtliche Diagnosen kodierten. Unter Rückgriff auf das der Chicago School der Soziologie zugehörige Konzept „dirty work“ fokussierte Pfeuffer die Akteure dieses neuen Tätigkeitsfeldes. Wie er herausarbeitete, stammt ein großer Anteil der Kodierfachkräfte aus ehemaligen Pflegeberufen, die aber in ihrem neuen Tätigkeitsfeld nie mit Patienten in Kontakt kommen. Auf der empirischen Basis zahlreicher Interviews und nach der Methode der teilnehmenden Beobachtung zeichnete Pfeuffer den sowohl von moralischen Bedenken als auch von Produzentenstolz geprägten Alltag dieser Kodierer. Diese seien jedoch so weit vom eigentlichen medizinischen Betreib entfernt, dass sie ihre Handlungen vom Krankenhausbetrieb losgelöst sehen. Da dieses Berufsfeld in Deutschland noch recht jung ist und mitunter noch wächst, bietet es eine günstige Gelegenheit Berufsbiografien und Selbstverständnis an den aktiven Beschäftigten zu untersuchen.

Dem Gebiet der Bewegungstherapie widmete sich BERND REICHELT (Zwiefalten), in besonderer Hinsicht auf die Region Südwürttemberg nach 1945. Zunächst zeigte er jedoch die Traditionslinien der psychiatrischen Bewegungstherapie auf, die in der Krankengymnastik und Sportmedizin des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahmen. Turnen und Gymnastik erlangten im Umfeld der Weltkriege eine herausgestellte Rolle und mischten sich allmählich mit Strömungen aus der Psychotherapie. Sophie Mederer war im süddeutschen Raum eine der führenden Vertreterinnen der aufkommenden Bewegungstherapie in den 1950er- und 1960er-Jahren. Durch konzeptionelle Offenheit gelang es der Bewegungstherapie in den folgenden Jahren ein immer größeres Publikum anzusprechen und in verschiedenen medizinischen Kontexten zum Einsatz zu kommen. Weitere Forschungen könnten ein noch detaillierteres Bild auf die Bündelung von unterschiedlichen Entwicklungssträngen anzeigen, die Kranken- und Psychotherapie, Sportpädagogik und viele weitere Facetten in der Bewegungstherapie vereinten.

Anhand der Biographie von Maria Ridder beschäftigten sich HELMA SPERLING und KARIN ZIPPER (Bergisch-Gladbach) mit dem Berufsbild und mit dem Berufsbild der Röntgenschwester und damit zusammenhängenden Gender-Aspekten. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend schloss sie sich in Köln den „Barmherzigen Schwestern nach der Regel des Heiligen Augustinus“ an. Unter dem Ordensnamen Schwester Blandina begann sie 1898, ohne physikalisch-technische Vorkenntnisse, in die Röntgenabteilung des Bürgerhospitals zu arbeiten. Bereits nach eineinhalb Jahren begannen sich die ersten Schäden der Strahlenbelastung zu zeigen, die 16 Jahre später zu ihrem Tod führen sollten. Obwohl sie auf dem „Ehrenmal der Radiologen“ in Hamburg als eine der wenigen Frauen aufgeführt ist, gestaltet sich die Quellenarbeit als äußerst schwierig. Die biographische Darstellung gab dennoch einen anschaulichen Einblick in das Berufsfeld der Röntgenschwester – in Abgrenzung von der „Röntgen-Assistentin“ – und den immensen Berufsrisiken für Hilfskräfte in diesem Bereich.

Einen fundamentaleren Ansatz verfolgte HELGA SATZINGER (London/Berlin) bei ihrer Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Geschlechterhierarchien und naturwissenschaftlicher Wissensproduktion. Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich ein Wandel verzeichnen, der die Männerdomäne Naturwissenschaft für weibliche Hilfskräfte öffnete. Wurden diese Arbeiten vormals ebenfalls von Männern ausgeübt, entstand zu Beginn des 20. Jahrhundert das Berufsfeld der Technischen Assistentin, das für den naturwissenschaftlichen Arbeitsprozess fortan unabdingbar war. Diese technischen Assistentinnen arbeiteten auf Hilfsarbeitsstellen und hatten unterschiedliche Berufswege. Überschneidungen zwischen Wissenschaftlern und Assistenten waren sehr selten und durch das Geschlecht stark abgegrenzt. Frauen waren also in den Wissensgenerierungsprozess eingebunden, jedoch lediglich in einer untergeordnet Position. Die genauen Ursachen, die zu diesem Geschlechterwandel in den technischen Hilfsberufen geführt haben, sind multikausal und bedürfen möglicherweise noch intensiverer Betrachtung. Die modernen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte sind ebenfalls ein interessanter Ansatzpunkt für eine Fortsetzung der Untersuchungen.

Die besondere Biographie eines unsichtbaren Hilfsarbeiters stellte CHRISTIANE BUHL (Essen/Lübeck) mit Ernst Pohl vor. Dieser war Orthopädietechniker, der in Zusammenarbeit mit Gerhard Küntscher in den späten 1930er-Jahren die Marknagelung erfand. Trotz sehr unterschiedlicher Biographien verband die beiden Männer eine enge Beziehung, die in 550 Briefen belegt ist und über ihre Zusammenarbeit detailliert Auskunft gibt. Der Dialog zwischen dem Mediziner Küntscher und dem Techniker Pohl fand dabei stets auf Augenhöhe statt. Obwohl Küntscher die meiste Anerkennung aus der Fachwelt erhielt, liefen sämtliche Patente auf Pohls Namen. Mit dem Briefwechsel liegt eine einzigartige Quelle zur Zusammenarbeit in der medizinischen Forschung vor, bei der gefragt werden muss, ob sich dieser spezielle Fall exemplarisch verallgemeinern lassen kann. Weitere Forschung in Bezug auf die Abhängigkeit beider Akteure voneinander und der genaueren Gestalt ihrer Zusammenarbeit können immerhin Aufschluss zur medizinischen Wissensbildung in diesem konkreten Fall liefern.

Den Beruf des wissenschaftlichen Zeichners stellte ELKE SCHULZE (Plauen/Berlin) vor. Da eine Abbildung nicht nur eine kommunikative Funktion erfüllte, sondern auch den Anspruch der Objektivität unterstützte, stieg der Bedarf von Zeichnern im 19. Jahrhundert stark an. Bis zur Entstehung und Verbreitung der Fotographie hatte der technische Zeichner die Position der „rechten Hand“ des Naturforschers inne, war dem geschriebenen Wort jedoch stets untergeordnet. Obwohl an vielen Stellen die Bedeutung von Zeichnungen hervorgehoben wurde, behielt der Illustrator stets seinen zweitrangigen Status. Der Kampf des wissenschaftlichen Zeichners war auch immer einer mit dem künstlerischen Selbstverständnis. An verschiedenen biographischen Beispielen zeigte Elke Schulze die mit der Besetzung von Universitätszeichnerstellen verbundenen Auseinandersetzungen und die dahinter stehenden wissenschaftsphilosophischen Vorstellungen auf. Eng damit verbunden sind auch heutige Fragen nach dem konkreten Einfluss der zeichnerischen Naturdarstellungen auf die Entwicklung der Wissenschaften.

Mit wissenschaftlichen Zeichnern befasst sich auch die „Database of Scientific Illustrators 1450-1950“ (DSI), die TORSTEN HIMMEL (Stuttgart) in seinem Vortrag präsentierte. Aufgrund des Mangels an Recherche-Hilfsmitteln und Lücken bei bisherigen biographischen Lexika und Datenbanken, wurde die DSI von Klausch Hentschel an der Universität Stuttgart initiiert. In ihr sind bislang über 9.300 (Stand 17. Januar 2015) Illustratoren erfasst und stetig kommen neue hinzu. Die Zusammensetzung der erfassten Illustratoren umfasst Datensätze aus unterschiedlichen Bereichen, wie Anatomie, Zoologie oder Geographie und über 95 Ländern. Erfasst werden Lebensdaten sowie einige persönliche, familiäre und berufliche Aspekte, sofern es die Quellenlage ermöglicht. Am Beispiel eines Moulagenbildners veranschaulichte Himmel die Funktionen der Datenbank, wodurch auch zum abschließenden Vortrag überleitet wurde.

Die problematische Statusbestimmung bzw. Verortung des Berufs Moulagenbildner war das Thema von HENRIK ESSLER (Hamburg). Seine Fragestellung entwickelte sich nach dem Kontakt mit der über 600 Exemplare umfassenden Moulagensammlung des Medizinhistorischen Museums Hamburg. Bei Moulagen handelt es sich um Wachsnachbildungen von abgeformten, erkrankten Körperteilen, die vor der Verbreitung der Farbfotographie, zur Darstellung von Haut- und Geschlechtskrankheiten genutzt wurden. Durch die Erstellung einer Kollektivbiographie soll ergründet werden, ob es eine „Verberuflichung“ der Moulagenherstellung gab. Dazu wurden 14 Personen im Zeitraum des 19. und 20. Jahrhunderts ausgewählt, ihre Berufswege nachgezeichnet und verglichen. Einige Punkte, die besonders herausgestellt wurden, betrafen die Definition des Begriffs „Beruf“, sowie die zeitliche Periodisierung der Moulagenherstellung. Da es keinerlei Organisation oder einheitliche Berufsauffassung unter den Moulageuren gab, besteht ein Bild der Individualität unter den meisten Moulageuren. Die Forschungen versuchen darüber hinaus Verknüpfungen der einzelnen Personen und längere Traditionslinien nachzuweisen, wobei jedoch die Quellenlage äußerst kompliziert ist.

In der Abschlussdiskussion wurden zentrale Fragen der Vorträge zusammengefasst und weitere Forschungsziele formuliert. Maßgebliches Kriterium aller Arbeit ist die Quellenlage, die in den meisten Fällen eine Herausforderung darstellt, da nur selten Zeitzeugen existieren und kaum schriftliche Hinterlassenschaften vorliegen. Insbesondere bei der Betrachtung größerer historischer Perioden entsteht der Eindruck, dass bei der Entstehung von Berufen unterschiedliche Akteure bzw. Interessensgruppen auftraten, die diese neuen Berufe nach ihren Vorstellungen prägten. Einig waren sich die Teilnehmer/innen, dass aufgrund der wissenschaftlichen Arbeitsteilung kaum von „Hilfsberufen“ zu sprechen sein sollte. Durch ein Verlassen der bisher zu häufig hierarchisierten Betrachtung könnten neue Einsichten in den naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschungsalltag gewonnen werden, die über die nobelpreisprämierten Persönlichkeiten hinausgehen.

Konferenzübersicht:

Themenblock 1: Vorüberlegungen

Kai Sammet (Hamburg), Fragen einer lesenden Glühbirne: wer macht welche Arbeit, wie wird das beschrieben und wer produziert Wissen? Anmerkungen zu männlichen Laboratoriumswärtern ca. 1890-1930

Themenblock 2: Verberuflichung und Professionalisierung

Kristina Matron (Stuttgart), „Sie muß schlechthin alle wertvollen menschlichen Eigenschaften besitzen.“ – Die Verberuflichung der Hauspflege in den 1950er- und 1960er-Jahren

Andreas Pfeuffer (Konstanz), „Ich glaube, dass die uns groß gar nicht kennen“ – Kodierfachkräfte an deutschen Krankenhäusern im Spannungsfeld zwischen medizinisch-pflegerischen und betriebswirtschaftlichen Anforderungen

Bernd Reichelt (Zwiefalten), Von der Gymnastiklehrerin zur Bewegungstherapeutin. Die Begründung der psychiatrischen Bewegungstherapie am Beispiel Südwestdeutschlands

Themenblock 3: Gender-Aspekte

Helma Sperling/Karin Zipper (Bergisch-Gladbach), Durchleuchtet. Schwester Blandina Ridder und der Arbeitsalltag als Röntgenschwester

Helga Satzinger (London/Berlin), Die Technische Assistentin – weiteres zur Frage der Geschlechterhierarchien in der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion

Themenblock 4: „Unsichtbare Hände“ in der Wissensproduktion

Christiane Buhl (Essen/Lübeck), Ernst Pohl – Gerhard Küntschers Haus- und Hoftechniker

Elke Schulze (Plauen/Berlin), Die rechte Hand des Naturforschers? Wissenschaftliche Zeichner

Themenblock 5: Statusbestimmungen

Torsten Himmel (Stuttgart), Die Database of scientific Illustration (DSI) als prosopographisches Tool der Amanuenses-Forschung am Beispiel von Moulagenbildnern und medizinhistorischen Illustratoren

Henrik Eßler (Hamburg), Künstler, Ärzte, Hilfsarbeiter? Zur schwierigen Verortung der Moulagenbildner/innen in der Medizin