Die Konsumentenstadt – Konsumenten in der Stadt des Mittelalters

Die Konsumentenstadt – Konsumenten in der Stadt des Mittelalters

Organisatoren
Institut für vergleichende Städtegeschichte, Westfälische-Wilhelms-Universität Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.03.2015 - 17.03.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Schröder, Institut für vergleichende Städtegeschichte, Westfälische-Wilhelms-Universität Münster

Dem 44. Frühjahrskolloquium des Instituts für vergleichende Städtegeschichte „Die Konsumentenstadt – Konsumenten in der Stadt des Mittelalters“, das am 16. und 17. März 2015 in Münster stattfand, lag die Beobachtung zugrunde, dass zwar die Thesen Max Webers zum Typus der „okzidentalen Stadt“1 breit rezipiert wurden, die ökonomischen Aspekte der nationalökonomischen Theorien Webers, Werner Sombarts2 und Karl Büchers3 jedoch kaum präsent sind. Stephan Selzer (Hamburg) verwies damit auf die Diskussionsgrundlage der Tagung, ob und inwiefern diese theoretischen Konzepte für die heutige mediävistische Stadtgeschichtsforschung fruchtbar gemacht werden können. Die Theorie Sombarts, so führte Selzer aus, könne als Theorie für Stadtbildungsprozesse bezeichnet werden, da sie nicht nur die Gründung, sondern auch die städtische Entwicklung in den Blick nehme.

Die Städtetheorie Sombarts stellte FRIEDRICH LENGER (Gießen) in seinem Vortrag zur ersten Sektion näher vor. Eine Stadt im ökonomischen Sinne sei eine größere Ansiedlung von Menschen, die für ihren Unterhalt auf das landwirtschaftliche Umfeld angewiesen ist; der Konsum stehe demnach im Mittelpunkt. In der Stadt ließen sich sogenannte „Städtebildner“, also Akteure, die die Erzeugnisse des Landes für ihre Zwecke „selbstherrisch“ heranziehen, etwa Könige oder Landesherrn, und „Städtefüller“, sogenannte „sekundäre Städtebildner“ unterscheiden. Dieser Dualismus zwischen Großkonsumenten und einer großen Menge kleiner Konsumenten, die geballt denselben Effekt ausüben wie ein Großkonsument, spiegelte sich auch im Tagungsprogramm.

So beschäftigte sich die zweite Sektion mit Stadtbildungsprozessen und Großkonsumenten. Am Beispiel der Bischofsstädte Lüttich und Verdun zeigte FRANK G. HIRSCHMANN (Trier) die Ausmaße bischöflicher „Konjunkturprogramme“. Um die erste Jahrtausendwende seien zahlreiche Kirchen, Klöster und Stifte errichtet worden; doch besondere Wirkung besaßen vor allem die Mühlen. Nicht zwingend, so schloss Hirschmann, zeitigten Konjunkturprogramme dauerhafte Wirkung. Während Lüttich im weiteren Verlauf des Mittelalters zu den bedeutendsten Städten des Reichs gehörte, stockte die Entwicklung Verduns. Konjunkturprogramme seien hinsichtlich ihres Einflusses auf die Stadtentwicklung demnach differenziert zu betrachten.

Während Max Weber zumindest chinesische Städte untersuchte, fanden irische Abteistädte in keiner Theorie Erwähnung. Dennoch betonte GERRIT DEUTSCHLÄNDER (Hamburg), dass das Konzept der Konsumentenstadt durchaus auf die frühstädtische Entwicklung in Irland anwendbar ist. Dazu müsse der Idealtypus der Konsumentenstadt angepasst werden, um den Besonderheiten der irischen Entwicklung im Vergleich mit kontinentalen Städten gerecht zu werden. Deutschländer kritisierte die These, dass der Anstoß zur Städtegründung von außen gekommen sei. Die Anglo-Normannen hätten die Stadtentwicklung im 12. Jahrhundert zwar beschleunigt und verstärkt, keineswegs aber hervorgerufen. Vielmehr ließen sich bereits ab dem 9. Jahrhundert Händler an den Küsten und in den monastischen Zentren des Binnenlandes nieder. Innerhalb dieser monastischen Zentren wurde die Abtei zum bestimmenden Faktor, indem sie die Siedlung in kultischer, herrschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht beherrschte.

An den Befund Deutschländers, dass nicht ausschließlich Impulse von außen, sondern vor allem der Konsum auf dem Nahmarkt eine entscheidende Rolle für die Stadtentwicklung spielte, knüpfte SVEN RABELER (Kiel) an. Er betrachtete vor allem norddeutsche Städte und relativierte die Bedeutung des Fernhandels auf den jeweiligen Stadtwerdungsprozess. Die Fernhandelsmärkte können mitunter Einfluss auf die Stadtbildung gehabt haben, mussten dies – wie am Beispiel Gandersheim gezeigt – jedoch nicht zwangsläufig tun. Wichtig seien immer eine zentralörtliche Funktion des Marktes für das Umland und die Förderung des Konsums vor Ort.

Im öffentlichen Abendvortrag betrachtete ARNOLD ESCH (Rom) die Rolle des päpstlichen Hofes in Rom als Großkonsument und leitete gleichzeitig zur dritten Sektion über, die sich mit den kleinen Konsumenten und Konsumentengruppen innerhalb der Stadt auseinandersetzte. Das päpstliche Rom erhielt als Haupt des Kirchenstaates Einkünfte aus der ganzen Welt, die es in der Stadt konsumierte. Um diese Einkünfte nutzbar machen zu können, bedurfte es der Dienstleistungen von Kaufleuten und Händlern. Der Hof zog nicht nur Händler und Kaufleute an, sondern auch zahlreiche große Gruppen und Pilger, die ihrerseits auf dem römischen Markt konsumierten. Nicht nur als Großkonsument besaß der römische Hof also eine Bedeutung, wie Esch bilanzierte, sondern er zeichnete auch für einen Großteil des nachgelagerten Konsums kleinerer Konsumenten verantwortlich. Der Dualismus zwischen Großkonsument oder „Städtebildnern“ und „Städtefüllern“ sei nur idealtypisch abzugrenzen, in der Praxis seien diese Gruppen vielfach ineinander verschränkt.

Der zweite Tag stand im Zeichen der kleineren Konsumentengruppen. Mit dem Adel betrachtete JOACHIM SCHNEIDER (Mainz) eine Konsumentengruppe, von der die ältere Forschung lange Zeit annahm, sie stehe dem städtischen Raum konträr gegenüber. Der grundsätzliche Antagonismus zwischen Stadtbürgertum und Landadel wurde zwar in jüngerer Zeit dekonstruiert, die Frage nach der Rolle des Adels hinsichtlich städtischen Konsums wurde jedoch noch nicht gestellt. Schneider stellte vier typische Situationen adliger Präsenz und seines Konsums in der Stadt vor: Turniere lösten einen Sondereffekt auf den städtischen Markt aus; adlige Stadthöfe waren sowohl Anbieter als auch Konsumenten; Adlige nutzten den städtischen Markt, um Geld zu leihen, und schließlich hielt sich der Adel bei der Durchreise als Gast in der Stadt auf.

Im Gegensatz zu Frank G. Hirschmann betrachtete KARSTEN IGEL (Münster / Osnabrück) nicht die eine große kirchliche Institution, sondern die vielen kleineren, die auf dem städtischen Markt aktiv wurden. Wie der Adel waren auch Kirchen, Klöster und Stifte sowohl Anbieter als auch Konsumenten. Sie veräußerten Produkte aus der eigenen Wirtschaft und die Naturaleinnahmen ihrer Hörigen. Anhand der Bauunternehmungen geistiger Institutionen zeichnete Igel den Multiplikatoreffekt auf den städtischen Markt nach. Das Baupersonal wohnte zeitweilig in der Stadt, die Löhne wurden auf dem Markt umgesetzt, gestiegene Warenmengen erreichten die Stadt. Nicht nur die Stadt profitierte von der Bautätigkeit geistlicher Institutionen, sondern auch deren Umland: Baumaterialien kamen aus dem nahen Umland, Spezialisten aus der näheren Umgebung gossen Glocken. Der Konsum sei nicht allein auf eine Stadt konzentriert gewesen, sondern es entstand ein weitreichendes Handels- und Konsumnetz.

Diese These bestärkte UWE SCHIRMER (Jena) mit seiner Untersuchung der obersächsisch-thüringischen Montanstandorte. Keine einzelne Stadt, sondern eine Städteregion stand im Zentrum seiner Untersuchung. Die Bergbauregion konnte auf keine gewachsene Infrastruktur zurückgreifen und wurde agrarisch kaum genutzt, der gesamte Bedarf musste also durch das Gebirgsvorland gedeckt werden. So seien Rückkopplungseffekte mit benachbarten Orten entstanden; eine reine Betrachtung der sogenannten „Bergbaustädte“ erscheine daher nicht sinnvoll. Das Vorland erstreckte sich über eine Zone mit einem Ausmaß von rund 100 Kilometern. Für die Verhüttung bedurfte es großer Mengen Holz; es entstanden Köhlereien und ein Transportwesen; die dort eingesetzten Pferde mussten mit Hafer versorgt werden. Vorrangige Aufgabe war die Ernährung der vielen tausend unter Tage arbeitenden Knappen. In die Region wurden jedoch nicht nur Waren geliefert, sondern das Erzgebirge diente auch als Umschlagplatz: Holz wurde ins Vorland zurück verhandelt. Der Bergbau löste demzufolge einen Impuls auf das Transportwesen aus. Ähnlich wie Igel und Schneider zeigte auch Schirmer, dass der Konsum mit vielen Begleiterscheinungen einherging, die ihrerseits weitere ökonomische Impulse auslösten.

Schließlich wurde in der dritten Sektion studentischer Konsum am Beispiel Leipzigs untersucht. ENNO BÜNZ und ALEXANDER SEMBDNER (Leipzig) hoben drei Konsumebenen einer Universität hervor: die institutionelle Ebene, die Ebene der Professoren und schließlich die der Studenten und Bursen. Die institutionelle Ebene war dabei nur schwach ausgeprägt; die spätmittelalterliche Universität war nicht raumgreifend angelegt und benötigte bis auf die Lohnzahlungen nur wenige sonstige Mittel. Bibliotheken wurden meistens durch Schenkungen ausgestattet, Bautätigkeiten schufen nur kurzfristige Konjunkturimpulse. Die Studenten besaßen eingeschränkte Konsummöglichkeiten, da sie in den Magisterfamilien, Kollegien oder Bursen wohnten und dort auch speisten. Daher wurden eher die Kollegien und Bursen konsumierend tätig; aufgrund der schlechten Quellenlage ist der Umfang ihres Konsums jedoch nicht abzusehen. Teilweise traten die Bursen auch als Verkäufer auf: Jede Burse durfte Bier gemäß einer bestimmten Quote steuerfrei einkaufen; der Überschuss über den eigenen Bedarf wurde auch an Nicht-Studenten verkauft. Insgesamt stuften Sembdner und Bünz die wirtschaftliche Bedeutung der Universität als Konsument in der Stadt als ambivalent ein: Die Universität, die Bursen und Kollegien, teilweise die Lehrkörper und die Studenten waren sowohl konsumierend als auch als Wirtschaftsunternehmer auf dem Markt tätig, allerdings, wie bei den Studenten gezeigt, in eingeschränktem Maße. Die Universität sei Katalysator des Aufstiegs Leipzigs, nicht jedoch dessen Auslöser gewesen.

Viele Vorträge benannten die mangelhafte Quellenlage als Problem, städtischen Konsum und den Konsum einzelner Gruppen auf dem städtischen Mark zu untersuchen. EDGAR RING (Lüneburg) stellte am Beispiel Lüneburgs Kloakenfunde als eine Möglichkeit vor, Konsumgeschichte zu betreiben. Kloakenfunde geben Auskunft über Art und Umfang des Konsums, die Funde bieten außerdem die Möglichkeit, die Ausdehnung der Handelsbeziehungen nachzuvollziehen. Besonders wertvolle und qualitativ hochwertige Güter zeugen von wirtschaftlicher Prosperität und einem Handelsnetz, das bis Böhmen, England, Frankreich, Italien, in die Niederlande und nach Portugal reichte.

Neben archäologische Quellen treten Rechnungsbücher, die bislang von der Forschung kaum untersucht wurden. Deren Wert arbeitete GUDRUN GLEBA (Osnabrück / Oldenburg) durch eine kritische Analyse der Medienforschung heraus. Rechnungsbücher sind serielle Quellen, die dem privaten Gebrauch dienten und nicht für die öffentliche Repräsentation bestimmt waren. Laut Gleba besitzen sie für viele gesellschaftliche Bereiche einen hohen Aussagewert, weil sie sowohl aus höfischen, klösterlichen oder städtischen Kontexten überliefert sind. Diese Form der pragmatischen Schriftlichkeit dokumentiert Handelswege, Marktgeschehen, Preise, Löhne und die Organisation der Arbeit; sie ist Quelle der Münz- und Geldgeschichte wie auch der Realien- oder Sachkulturforschung. Baurechnungsbücher verdeutlichen die handwerkliche Spezialisierung und Differenzierung.

Konsum, so das Fazit der Tagung, war ein existentieller Faktor für die Entwicklung von Städten im Mittelalter. Dabei zeigte sich, dass nicht nur die oft in den Blick genommenen Großkonsumenten, sondern vor allem auch die vielen kleineren Konsumentengruppen einen gewichtigen Anteil am Konsumgeschehen nahmen. Die Ergebnisse der Tagung bewiesen außerdem, dass sich der Konsum städtischer Gruppen und Institutionen nicht allein auf die Grenzen der Stadt beschränkte. Konsum und Marktgeschehen lösten Multiplikatoreffekte und Folgewirkungen aus, die sich zum Teil auf ein – wie im Fall der von Uwe Schirmer untersuchten Bergbauregion – großes Umland erstreckten. Dienstleistungen und Infrastruktur entstanden, Netzwerke bildeten sich. Ebenfalls im Mittelpunkt stand die Sogkraft des Konsums. Im Gegensatz zu älteren Forschungsergebnissen, die dem Fernhandel eine leitende Rolle zumaßen, betonte etwa Sven Rabeler die Bedeutung des Nahmarktes. Auch Gerrit Deutschländer arbeitete heraus, dass es keineswegs nur auswärtige Siedler und Kaufleute waren, die den Aufschwung irischer Abteistädte und monastischer Zentren erklären.

Gleichwohl wurden in der Schlussdiskussion auch kritische Positionen deutlich. Werner Freitag bemerkte, dass die theoretischen Anregungen Werner Sombarts oder Max Webers noch stärker als Arbeitshypothese herangezogen werden müssen. Diese Theorien, so führte Freitag aus, könnten zu einer begrifflichen und analytischen Schärfung des Konsums innerhalb der Stadt führen. Sowohl Freitag als auch Gerd Schwerhoff (Dresden) regten eine stärkere kulturgeschichtliche Fragestellung an. In Zukunft sollten Preisbildungsprozesse nicht nur im klassischen, sondern auch in einem symbolischen Sinne hinterfragt werden. Konsum und Güter seien inszeniert worden und dienten der lebensweltlichen Distinktion einzelner Konsumentengruppen; am Konsumverhalten seien somit Kulturtransfers erkennbar.

Konferenzübersicht:

Sektion I Theoretische Näherungen

Friedrich Lenger (Gießen), Der Begriff der Stadt und das Wesen der Städtebildung: Werner Sombart, Karl Bücher und Max Weber

Sektion II Stadtbildung und Großkonsumenten

Frank G. Hirschmann (Trier), Konjunkturprogramme um die erste Jahrtausendwende: Die ‚Boomtowns‘ Lüttich und Verdun

Gerrit Deutschländer (Hamburg), Irische Abteistädte

Sven Rabeler (Kiel), Konsumenten, Märkte, Städte. Konsumbeziehungen als Faktor der Urbanisierung im norddeutschen Raum während des 12. und 13. Jahrhunderts

Arnold Esch (Rom), Das Rom der Frührenaissance als Konsumentenstadt

Sektion III Konsumentengruppen und spätmittelalterliche Stadtentwicklung

Joachim Schneider (Mainz), Adlige Konsumenten in der Stadt: Randphänomen oder Massenerscheinung?

Karsten Igel (Münster / Osnabrück), Die Kirche auf dem Markt. Geistliche Institutionen als Konsumenten

Alexander Sembdner / Enno Bünz (Leipzig), Studentischer Konsum in mitteldeutschen Universitätsstädten des späten Mittelalters

Uwe Schirmer (Jena), Die Versorgung obersächsisch-thüringischer Montanstandorte mit Nahrungsmitteln und gewerblichen Rohstoffen (1460–1550)

Sektion IV Quellen mittelalterlicher Konsumgeschichte

Edgar Ring (Lüneburg), Städtischer Konsum und archäologisches Fundgut: Das Beispiel Lüneburg

Gudrun Gleba (Osnabrück / Oldenburg), Mehr als Einnahmen- und Ausgabenverzeichnisse. Annäherungen an Rechnungsbücher aus verschiedenen Disziplinen

Anmerkungen:
1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Stadt, hg. v. Wilfried Nippel, Tübingen 2000.
2 Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, 3 Bde., Leipzig 1902/1927; Ders., Der Begriff der Stadt und das Wesen der Städtebildung, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 25 (1907), S. 1–9.
3 Karl Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Versuche, Tübingen, 2. Aufl. 1898.


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger