Gewaltkulturen von den Kolonialkriegen bis zur Gegenwart

Gewaltkulturen von den Kolonialkriegen bis zur Gegenwart

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Warschau; Deutsches Komitee für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs; Universität Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.06.2015 - 06.06.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Dennis Werberg, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Mit dem Ukrainekonflikt sind Krieg und kriegerische Gewalt nach Europa zurückgekehrt. Die durch die Medien verbreiteten Nachrichten von Gewaltakten, die von beiden Seiten verübt werden, lösen in den weitgehend gewaltlosen Gesellschaften des Westens Empörung und Bestürzung aus. Die Perzeption von Gewalt, aber auch deren Anwendung hängt dabei wesentlich von der Gewaltkultur in der Gesellschaft bzw. innerhalb eines ihrer Glieder, dem Militär ab. Doch kann überhaupt von nationalen oder regionalen Gewaltkulturen gesprochen werden? Sind die jeweiligen situativen Umstände, in denen Gewaltakte in Vergangenheit und Gegenwart, an unterschiedlichen Orten und von verschiedenen Akteuren begangen wurden und werden nicht die entscheidenden Faktoren für Art und Ausmaß von Gewaltanwendung? Oder sind die Akte militärischer Gewaltanwendung, welche die Geschichte der Menschheit wie ein roter Faden durchziehen, nur zu verstehen wenn sowohl Gewaltkultur als auch die konkrete Situation, in der die Akteure handelten, in Betracht gezogen werden? Welche Rolle spielen Gewalträume in diesem Zusammenhang? Diesen Fragen wohnt eine nicht unerhebliche politische Sprengkraft inne, da Verweise auf die Situation dazu verwandt werden können, um individuelle bzw. kollektive Schuld an Kriegsverbrechen zu relativieren. Die Frage nach nationalen und armeespezifischen, zeitlichen sowie räumlichen Gewaltkulturen stellten Sönke Neitzel (London) und Stefan Lehnstaedt (Warschau) in den Mittelpunkt der hier besprochenen Konferenz. Hierbei wurde der Versuch unternommen, die Vorträge nicht chronologisch, sondern anhand ihrer thematischen Schwerpunktsetzung zu ordnen.

Über die möglichen Auswirkungen der Gewaltkultur innerhalb des Militärs trug JAMES N. TALLON (Romeoville, IL) vor und stellte die Einsätze der osmanischen Streitkräfte zur Niederschlagung von Aufständen in der Peripherie des Reiches vor. Zusammen mit einem Großteil der staatlichen Strukturen sei auch die Armee von tiefgreifenden Reformen betroffen worden. Dies habe zur weitgreifenden Verunsicherung und Orientierungslosigkeit innerhalb des Militärapparates geführt, die wiederrum die Gewaltkultur dieser kritischen Jahre strukturierte. Nur so seien beispielsweise das Abbrennen von Behausungen Aufständischer und die darauffolgende Zahlung von Kompensationen an die Hausbesitzer und ähnliche Vorfälle zu verstehen.

In seinem Vortrag zur Mathematisierung des Krieges in Vietnam 1965-1975 führte MARCEL BERNI (Zürich) aus, dass die Strategie der US-Militärführung, durch die Kombination von Feuerkraft und kleinen, flexiblen Infanterietrupps mehr feindliche Soldaten zu vernichten, als der Feind nachführen konnte, zu vermehrten Übergriffen auf die vietnamesische Zivilbevölkerung und zur Schaffung von Gewalträumen (sog. kill-zones) geführt habe. Hinzu seien Faktoren wie Angst und Frustration auf Seiten der amerikanischen Soldaten gegen einen unsichtbaren, irregulär operierenden Feind gekommen. Ein hoher body count wurde, da er einerseits positiv sanktioniert und die Tötung von Zivilisten nur halbherzig verfolgt worden sei, handlungsleitend.

TOBIAS HOF (Chapell Hill, NC) führte aus, dass die italienische Kriegführung und Kriegsverbrechen auf dem Balkan zwischen 1941 und 1943 bisher in erster Linie auf die faschistische Ideologie, nicht jedoch auf eine spezifisch-italienische Gewaltkultur zurückgeführt worden seien. Er betonte daher die Wirkmächtigkeit der kolonialen Erfahrungen und des Ultranationalismus im Sinne der longue durée kollektiver Erinnerung. Als vier wesentliche Punkte nannte Hof den kulturellen Rassismus des faschistischen Italiens als Erben des römischen Imperiums gegenüber dem slawischen Hauptfeind, die Unfähigkeit, die für sich vereinnahmte Überlegenheit durch erfolgreiche militärische Operationen zu belegen und die zivilisatorische Mission Italiens auf dem Balkan.

In seinem Vortrag zu japanischen Gewaltexzessen im Zweiten Weltkrieg in China hob auch FRANK JACOB (New York) die Bedeutung der situativen Faktoren hervor. Aufbauend auf der gewaltsoziologischen Forschung arbeitete er am Beispiel des Massakers von Nanking sechs auslösende Faktoren heraus: die Brutalisierung der Soldaten innerhalb der japanischen Armee, die Enttäuschung und Frustration ob des unerwarteten Ausbleibens eines schnellen Sieges, hohe Verluste im Guerillakrieg usw. Jacob kam zu dem Schluss, dass diese Faktoren nicht genuin japanisch seien und lediglich einen situativen Kontext, einen rechtsfreien Gewaltraum schufen, in dem sich die Akteure eigene moralische und rechtliche Standards geschaffen hätten.

Ähnlich argumentierte auch DAQUIN YANG (Washington D.C.), als er zum Paradox in der Geschichte der japanischen Gewaltkultur vortrug. Zwar hätten japanische Soldaten im Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg 1894 und ab 1937 schwerste Kriegsverbrechen begangen, sich jedoch bei der Niederschlagung des Boxer-Aufstandes und im Krieg gegen Russland 1904-1905 geradezu vorbildlich verhalten. Mit der Gewaltkultur habe sich auch die Perzeption von Gewalt in Japan gewandelt. Weder der Verweis auf eine nationale Gewaltkultur noch der auf die kulturspezifische Lehre des bushido könne das skizzierte Paradox hinreichend erklären. Dem stellte Yang die situativen Bedingungen der Kriegseinsätze als entscheidende, ex- bzw. interne Push-and-Pull-factors gegenüber und schlug für die Gewaltperzeption eine Typologie mit den Wahrnehmungskategorien der sanctionized violence, excessive violence und einer grey zone vor.

ROBERT LUČIÇ (Potsdam) stellte den Gegensatz zwischen Gewaltkultur und Situation gänzlich in Frage. In seinem Vortrag zur Kollaboration der Jugoslawischen Volksarmee mit serbischen paramilitärischen Kräften trat er den klassischen Erklärungsmustern entgegen, welche deren Zusammenarbeit allein auf ethnische Zugehörigkeit und eine gemeinsame Gewaltkultur der männlichen Serben zurückführen würden. Zwar hätten sich, so Lučiç, Militär und Paramilitärs auf traditionelle Formen der Kriegführung in Südosteuropa beziehen können, doch greife eine solche monokausale Erklärung zu kurz. Dem gemeinsamen Referenzrahmen stellte er das situative Element, beispielsweise den Zwang zur Kollaboration mit lokalen, ortskundigen Milizen zur Seite. Kultur und Situation seien keine Gegensätze sondern ergänzten sich und müssten daher in der Analyse nebeneinander stehen.

Weiter wurde die Perspektive auf nationale Gewaltkultur(en) gewinnbringend erweitert. So führte JAN C. BEHRENS (Potsdam) aus, wie die durch die im Afghanistankrieg 1979-1989 gemachte kollektive Gewalterfahrung generierte, post-sowjetische Gewaltkultur durch die Institution Militär systematisiert und sowohl zeitlich als auch räumlich verbreitet worden sei. Diese beinhalte Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und Vergeltungsaktionen zur Beherrschung des Raums sowie Gewalt als Mittel der Selbsterhaltung und Stiftung von Gemeinschaft. Diese habe sich im routinierten, systematischen Terror gegen die Zivilbevölkerung im Tschetschenienkrieg gezeigt, äußere sich nun im Ukrainekonflikt, in dem Veteranen beider Kriege auf allen Seiten zu finden seien und habe das Verständnis von Gewalt und Zivilität im post-sowjetischen Russland tiefgreifend gewandelt.

Aufbauend auf den Arbeiten von Clifford Geertz und James Clifford zeigte TIMOTHY SCHROER (Carrollton, NC) anhand von drei Fallbeispielen, wie Gewaltakte auch transnational zur Kommunikation eingesetzt werden können und durch die Verbindung kulturspezifischer Merkmale von Deutschen und Chinesen eine neue - eben transnationale Gewaltkultur erzeugt und strukturiert werden kann. So stilisierten sich die Deutschen vis-à-vis gegenüber der Bevölkerung als dominante Bewahrer von Recht und Ordnung und demonstrierten den Streitkräften der übrigen Kontingente ihre disziplinierte Überlegenheit ihres Militärs.

Weiterhin standen Herstellung und Wirkmächtigkeit von Gewalträumen im Mittelpunkt gleich mehrerer Vorträge. Über Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg trug SABINE RUTAR (Regensburg) vor und warf die Frage auf, ob diese Region als Gewaltraum gelten könne. Zu Beginn wies sie darauf hin, dass die Geschichte Jugoslawiens zumeist vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs ab 1991 betrachtet worden sei, was zu einer zu starken Gewichtung des Faktors Ethnie geführt habe. Dem hielt sie ihr Konzept entgegen, Jugoslawien als regionalen Gewaltraum und zugleich als Sozialraum neu zu betrachten. Beispielhaft illustrierte sie das Potenzial dieses Zugangs anhand von vier Bergbauregionen auf dem Balkan, in denen die Arbeiter Zwangsrekrutierung, Deportation und paramilitärischer Gewalt durch Rückzug in den dortigen Sozialraum entgehen haben können.

Dass Gewalträume nicht nur das Handeln von Akteuren bestimmten, sondern diese durch Gewalt selbst alte Räume zerschlagen und neue schaffen können, stellte CHRISTOPH HERTNER (Bern) überzeugend dar. Bei der Aufstandsbekämpfung durch deutsche Soldaten in der Ukraine hätten diese, in einem für sie fremden Umfeld neue Gewalträume geschaffen und die zunächst spontane, ungeregelte Anwendung von Gewalt durch institutionalisierte Formen ersetzt. Diese seien den Soldaten vertraut gewesen und hätten Orientierung und Sicherheit geboten. Daher habe die Gewaltintensität mit der Stabilisierung des Einsatzraumes korreliert.

STEPHEN MACKINNON (Tempe, AZ) unternahm den Versuch, die Gewalträume Europa und Asien im Zweiten Weltkrieg aus globalgeschichtlicher Perspektive zu vergleichen und fragte nach Verbindungen zwischen den Kriegsschauplätzen, nach Gemeinsamkeiten aber auch Unterschieden in Strategie, Operationen, dem Grad der Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung und Besatzungen. Neben einigen bestechenden Kontinuitäten hinsichtlich Besatzungsherrschaft und Kollaborationsregimen lassen sich auch wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Kriegsschauplätzen ausmachen. So fiel das technologische und organisatorische Gefälle zwischen den Streitkräften Japans und Chinas extrem aus – ähnlich große Differenzen habe es in Europa nicht gegeben. Ob die beiden Schauplätze im Hinblick auf Übergriffe auf die Zivilbevölkerung vergleichbar seien, ließ er offen, betonte aber die große Brutalität, mit der Chinesen und Japaner vorgingen und durch die die Existenz von Millionen Zivilisten vernichtet worden sei.

Abschließend stellte Sönke Neitzel fest, dass sich die Existenz spezifischer, nationaler Gewaltkultur(en) deutlich abzeichnete, ihre Wirkung bisher jedoch nur an einigen wenigen historischen Beispielen nachgewiesen werden könnte. Dies mache weitere Forschung notwendig. Wünschenswert seien beispielsweise Fallstudien, welche nationale Gewaltkultur anhand von Bürgerkriegen, des Verhältnisses zwischen Kampffront und Heimatfront sowie des Transfers von Gewalt, sowohl geographisch als auch von der Sphäre des Militärischen auf die des Zivilen, betrachten. Hierbei müsse kriegerische Gewalt auch losgelöst von der Institution Militär gedacht und betrachtet, die Perspektive der Opfer berücksichtigt sowie die Lernprozesse und Gewaltwahrnehmung in Betracht gezogen werden. Die Frage nach der Genese von Gewalt, sei sie auf eine spezifische Gewaltkultur, auf die konkrete Situation der Handelnden oder eine Mischung aus allen Elementen, ist eine für die moderne Militärgeschichte, aber auch darüber hinaus eine Frage zentraler Bedeutung.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Kolonialgewalt vor dem Ersten Weltkrieg
Christoph Nübel (Berlin)

Daquin Yang (Washington D.C.), The Paradox of Wartime Violence. Japanese Military Behavior in the Boxer Expedition (1900) and Beyond

Timothy Schroer (Carrollton, NC), What was Distinctive about the German Military in the Boxer Conflict?

James N. Tallon (Romeoville, IL), Anti-Insurrectionary Operations of the Young Turks, 1909-1912

Sektion 2: Gewalt im Ersten Weltkrieg
Piotr Szlanta (Warschau)

Wolfram Dornik (Graz), Gewalterfahrung von k. u. k. Soldaten an der Ostfront des Ersten Weltkrieges

Jens Boysen (Warschau), Vom Gewalttraum zum Gewaltraum. Polen als militärischer Akteur zwischen 1918 und 1948

Christoph Hertner (Bern), Gewaltausübung regulärer Truppen unter den Bedingungen eines Gewaltraums. Die deutsche Aufstandsbekämpfung in der Ukraine 1918

Sektion 3: Der Zweite Weltkrieg in Südeuropa
Peter Lieb (Potsdam)

Frederico Ciavattone (Pisa), "Bandits and Rebels, Your End Has Come!" The Counterinsurgency of the Italian Social Republic Special Army Units 1944-45

Tobias Hof (Chapel Hill, NC), Facism, Violence, Genocide. The Italians in the Balkans 1941 – 1943

Sabine Rutar (Regensburg), Yugoslavia in WWII. Regional spaces of violence?

Sektion 4: Der Zweite Weltkrieg in Asien
Takuma Melber (Mainz)

Frank Jacob (New York), The Japanese Character of War Cruelties. Japanese Soldiers, Violence and World War II

Stephen MacKinnon (Tempe, AZ), WWII and the Chinese Theatre

Sektion 5: Die "neuen" Kriege nach 1945
Gerhard P. Groß

Marcel Berni (Zürich), Search and Destroy and Body Count. Die Mathematisierung des Krieges im Gewaltraum Vietnam 1965 - 1975

Robert Lučiç (Potsdam), Serbische Helden wider Willen? Die Transformation der Jugoslawischen Volksarmee auf den Schlachtfeldern Ostslawoniens 1991

Jan C. Behrens (Potsdam), Afghanistan, Tschetschenien, Maidan. Zur Genese der post-sowjetischen Gewaltkultur an der imperialen Peripherie


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