68. Baltisches Historikertreffen

68. Baltisches Historikertreffen

Organisatoren
Baltische Historische Kommission
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.05.2015 - 31.05.2015
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Von
David Feest, IKGN (Nordost-Institut e. V.) an der Universität Hamburg, Lüneburg

Wie bereits in den vergangenen Jahren wies auch das Programm der diesjährigen Jahrestagung der Baltischen Historischen Kommission zwei Teile auf. Während am Samstagvormittag verschiedene Projekte präsentiert und neue Forschungen zur baltischen Geschichte vorgestellt wurden, stand der zweite Teil unter einer thematischen Überschrift. Dieses Jahr lautete der Schwerpunkt: „Litauen und Europa. Transnationale Aspekte einer ostmitteleuropäischen Nation“, und wurde gemeinsam von der Kommission und vom Nordost-Institut (IKGN e. V.) organisiert.

Die Projektvorstellung galt der Veröffentlichung von Band 13 des „Liv-, Est- und Kurländischen Urkundenbuches“. KLAUS NEITMANN (Potsdam) führte in die Geschichte dieser Quellenedition ein. Hatte ihr Begründer Georg von Bunge ab 1853 noch in erster Linie die Existenz eines Baltischen Provinzialrechts beweisen wollen, geschah die Fortführung der Edition durch Hermann Hildebrand ab 1881 bereits nach den von dessen Göttinger Lehrer Georg Waitz geprägten wissenschaftlichen Standards. Nachdem das Projekt an die „Gesellschaft für Geschichte und Alterthumskunde der Ostsee-Provinzen Rußlands“ in Riga übertragen worden war, wurde eine zweite Abteilung begründet. Der vorerst letzte Band des Werks erschien im Jahr 1914. Durch den Ersten Weltkrieg wurde jedoch die Weiterführung unterbrochen, und es kam schließlich durch die ungünstigen Umstände der Zwischenkriegszeit ganz zum Erliegen. Das Ergebnis war, dass das Gesamtwerk zwar bis 1510 reicht, aber eine Lücke für die Zeit von 1472 bis 1494 geblieben ist. Diese Lücke zu schließen war das Ziel von Klaus Neitmann, als er in den Jahren 1986/87 die Arbeit fortsetzte, die nun, hundert Jahre nach dem letzten Band, unter Mitwirkung von Matthias Thumser ihren vorläufigen Abschluss in Band 13 gefunden hat. Mitherausgeberin MADLENA MAHLING (Berlin) führte in die Textsorten und Quellengattungen des Bandes ein und zeigte Beispiele aus der praktischen Editionsarbeit. Im Plenum wurden überdies die Zukunftsperspektiven dieser großangelegten Edition diskutiert.

Mit einem Vortrag über die freie Meisterwahl des Deutschen Ordens leitete JOHANNES GÖTZ (Kraków) die neuen Forschungen zur Baltischen Geschichte ein. Er zog die in der Geschichtswissenschaft noch immer dominierende These von Philipp Schwartz in Zweifel, derzufolge im 13. und 14. Jahrhundert die livländischen Meister außerhalb Livlands bestimmt worden seien. Mit Beispielen aus der Livländische Reimchronik konnte Götz zeigen, dass der livländische Einfluss tatsächlich größer war und es auch schon früher als bislang angenommen Wahlverfahren gegeben hat. Als einen der Faktoren, die für die Stellung des livländischen Ordenszweiges maßgeblich waren, griff Götz zudem die Investitur des Meisters heraus. Sie wurde im 14. Jahrhundert meist in Preußen vollzogen, später aber nicht mehr vom Hochmeister, sondern vom livländischen Landeskapitel durchgeführt.

In einem weiteren Beitrag, der neue Forschungen zur Baltischen Geschichte thematisierte, setzte sich KARI TARKIAINEN (Helsinki / Tallinn) in einem differenzierten Überblick mit dem relativ jungen Mythos der „goldenen Schwedenzeit“ in Liv- und Estland auseinander. Er plädierte dafür, das faktische Ende der Autonomie Estlands und Livlands aus unterschiedlichen Perspektiven und anhand von Teilfragen zu untersuchen. Wie ein differenziertes Bild entstehen kann, zeigte beispielhaft Tarkiainens Behandlung der Güterreduktion. Obwohl besonders Livland, wo der Staat 90 Prozent der Güter erhielt, viel von seiner Autonomie verlor, konnten sich die deutschbaltischen Eliten durchaus auch Vorteile verschaffen. Und für die Bauern bedeutete die Güterreduktion zwar einen gewissen Schutz vor Willkür, doch ging der Staat bei der Eintreibung seiner Forderungen in der Regel rigider vor, als dieses unter den Gutsherren der Fall gewesen war. Ähnlich widersprüchlich fiel Tarkiainens Urteil auch für andere Bereiche aus. Die anschließende Diskussion drehte sich dementsprechend um die Frage, ob sich nicht dennoch allgemeingültige oder zumindest dominierende Kriterien zur Beurteilung der schwedischen Zeit finden lassen.

Den thematischen Tagungsteil über transnationale Aspekte Litauens leitete CHRISTIANE SCHILLER (Berlin) mit einem Referat über das Litauische und die baltische Sprachengruppe ein. Für das hauptsächlich aus Historikerinnen und Historikern bestehenden Publikum war besonders die Schilderung der Sprachvereinheitlichung im frühen 20. Jahrhundert von Interesse. Die Sprachnormierung in Litauen geschah, wie in anderen Ländern auch, in Zusammenhang mit der Nationalbewegung. Von drei Dialektgruppen wurde das Preußisch-Litauische/Westaukštaitische zur Hochsprache erklärt und von Lehnwörtern bereinigt, für die Neologismen gefunden werden mussten. Dabei ist die Rolle eines einzelnen Protagonisten – Jonas Jablonskis – bemerkenswert, dessen sprachschöpferische Arbeit nur deshalb Breitenwirkung erhalten konnte, weil der Nationalstaat eine Staatssprache benötigte und ein zentral organisiertes Schulsystem schuf.

In seiner Analyse des Verhältnisses zwischen dem Großfürstentum Litauens und dem Deutschen Orden entwickelte RIMVYDAS PETRAUSKAS (Vilnius) eine alternative Sichtweise gegenüber bisher eher dem nationalen Narrativ verpflichteten Darstellungen. Er zeigte, dass zwischen beiden Parteien nicht nur Krieg, sondern auch kulturelle und private Kontakte existierten. Schon die Herrschaftsbildung durch Mindaugas in der Mitte des 13 Jahrhunderts folgte dem Modell des christlichen Königtums, wobei über Verbindungen mit dem Livländischen Orden die dafür nötigen staatlichen Strukturen gebildet werden konnten. Im Laufe des 14 Jahrhunderts übernahm die litauische Oberschicht Elemente der westeuropäischen ritterlichen Kultur. Und während das 14. und 15. Jahrhundert einerseits zwar von Kriegen zwischen dem Großfürstentum und dem Deutschen Orden beherrscht wurden, existierten andererseits gleichzeitig kultureller Austausch, dynastische Verbindungen und sogar freundschaftliche Beziehungen, wie etwa zwischen Vytautas und Konrad von Jungingen.

Über die Grenzen der litauischen Geschichte hinaus blickte auch MATHIAS NIENDORF (Greifswald) in seinem Beitrag über Polen-Litauen und den Livländischen Krieg. Denn diese (wie die frühe Neuzeit insgesamt) in der litauischen wie polnischen Historiographie stiefmütterlich behandelte Auseinandersetzung wies transnationale Aspekte auf. Während Niendorf sich einerseits dagegen aussprach, von jagellionischen Großraumkonzepten oder Geopolitik zu sprechen, gibt es andererseits seiner Meinung nach gute Gründe, bereits vor Entstehung von Nationalbewegungen von einer Gesamtregion „Ostseeraum“ zu sprechen.

Auch der Konfessionswechsel vom Katholizismus oder Protestantismus zur Orthodoxie kann als ein Akt gesehen werden, der die ethnischen Grenzen innerhalb des russischen Imperiums überschritt, bzw. die Beziehungen zu anderen Ethnien und zum Imperium neu definierte. DARIUS STALIŪNAS (Vilnius) verglich in seinem Vortrag die Konversionsbewegungen örtlicher Bauern in den Ostseeprovinzen mit denen in den Nordwestprovinzen des Zarenreichs und stellte dabei mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten fest. Dabei war nicht nur der Zeitpunkt ein anderer – im ersten Fall ereigneten sich die Konversionen in den 1840er-Jahren, im zweiten Fall in den 1860er-Jahren. Die Untersuchung zeigte auch, dass die Ostseeprovinzen in weiterem Sinne als Teil des Russländischen Imperiums angesehen wurden, während der Nordwesten, zumindest Weißrussland, in engerem Sinne als „russische Erde“ galt. Außerdem sah die Autokratie in den Deutschbalten eine vertrauenswürdige Elite, während sie den Polen im Nordwesten misstraute – dies umso mehr nach dem polnischen Aufstand von 1863. Damit lässt sich auch erklären, dass die Konversionen in den Nordwestprovinzen von Staatsbeamten organisiert wurden, die sie schneller, bürokratischer und ohne eine maßgebliche Beteiligung des als polenfreundlich eingeschätzten örtlichen Klerus verwirklichten. Auch der soziale und ökonomische Faktor war hier weniger wichtig als in den Ostseeprovinzen. In einer lebhaften Diskussion wurde im Anschluss an den Vortrag insbesondere die Frage nach dem Sinn eines solchen asynchronen Vergleichs gestellt. Denn die Politik Nikolajs I. gegenüber den Ostseeprovinzen allein war widersprüchlich genug, um, wie es Edward C. Thaden getan hat, in einem synchronen Vergleich die Unterschiede herauszuarbeiten.

Die Perzeption Litauens und seiner baltischen Nachbarrepubliken durch westliche Beobachter unmittelbar nach den Staatsgründungen war das Thema des Vortrags von VYTAUTAS PETRONIS (Vilnius). Anhand von Berichten der Engländer Ralph Butler und Arthur Ruhl von 1920 zeigte er Fremdbilder über eine Region, deren Aufteilung in drei Nationalstaaten noch alles andere als eine Selbstverständlichkeit war. Bemerkenswert ist, dass Butler und Ruhl die Situation in Litauen anders als jene in Estland und Lettland einschätzten. Insbesondere schien ihnen hier der Bolschewismus eine geringere Rolle zu spielen, während der englische Einfluss in Litauen größer sei. Die beiden anderen Staaten seien dagegen während des Krieges nur noch durch die Deutschen in einem künstlichen Gleichgewicht gehalten worden, das aber durch die Nationalisten gefährdet sei. Für die englischen Beobachter bildete daher ein möglicher Wiedereintritt der baltischen Staaten in den russischen Staatsverband weiterhin eine Zukunftsperspektive, sollten die Bolschewisten die Macht wieder verlieren. Als eine weitere Möglichkeit, die Region zu stabilisieren, erschien ihnen eine Vereinigung Estlands mit Finnland sowie Litauens mit Lettland.

Dass solche Pläne nicht nur von außen an die baltischen Staaten herangetragen wurden, zeigte der Vortrag von ZENONAS BUTKUS (Vilnius) über die lettisch-litauischen Verhältnisse in der Zwischenkriegszeit. Bislang hatte die Historiographie diese Beziehung weitgehend ignoriert, oder nur die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die „Baltische Entente“ herausgearbeitet. Butkus zeigte dagegen, dass die nationalen Grenzen häufig überwunden wurden, wobei eine ethnische Nähe zwischen Litauern und Letten als Begründung diente. Dass Pläne eines Lettisch-Litauischen (wie auch eines Estnisch-Finnischen) Staates aus dem 19. Jahrhundert nie verwirklicht wurden, schien für Butkus nicht selbstverständlich – ein Tschechisch-Slowakischer Doppelstaat wurde immerhin Realität. Andererseits gab es in den bilateralen Beziehungen zwischen Litauen und Lettland eine Reihe Faktoren, die mehr trennten als einten, wie etwa die Haltung zu den Bermondt-Truppen im Herbst 1919 in Lettland oder zur polnischen Annexion des Vilnius-Gebietes 1920, wie territoriale Forderungen Litauens an Lettland oder beider angebliche wirtschaftliche Konkurrenzsituation. Gleichzeitig schlossen die Staaten aber auch einvernehmlich Verträge über Kredite sowie über die Nutzung des Hafens von Liepāja ab und rückten nach dem kommunistischen Putschversuchs in Estland 1924 noch enger zusammen. Auch in der schwierigen Situation nach der Angliederung des Klaipėda-Gebiets im Jahr 1923 erfuhr Litauen lettische Unterstützung. Doch blieb die gegenseitige politische und diplomatische Hilfe letztlich sporadisch, während eine wirtschaftliche Zusammenarbeit kaum stattfand.

ARŪNAS BUBNYS’ (Vilnius) Analyse der „stalinistischen Repressionen in Litauen 1940/41 und 1944–1953“ unterschied sich von den übrigen komparativ oder beziehungsgeschichtlich angelegten Vorträgen und betonte politikgeschichtliche Aspekte. In seiner kenntnisreichen, statistisch untermauerten Darstellung des sowjetischen Massenterrors in Litauen konnte er die zentralen administrativen Abläufe ebenso deutlich machen wie die unscharfen Opferkategorien der sowjetischen Bürokratie und das schiere Ausmaß der Gewalt. Allerdings behandelte Bubnys nicht die eigentliche Interaktion zwischen Sowjetmacht und Bevölkerung in den Dörfern und Gemeinden, etwa bei der Einstufung von Bauern als „Kulaken“ oder bei der Mitwirkung örtlicher „Aktivisten“ an den Deportationsoperationen. Vielmehr strich er die zentrale Planung und Politik Moskaus gegenüber Litauen sowie deren Niederschlag in den Opferstatistiken heraus. Bubnys bewertete diese Politik als Genozidversuch am litauischen Volk, in dessen Rahmen selbst der Krieg gegen die antisowjetischen Partisanen nur als Vorwand diente, Zivilisten umzubringen.

Den Abschluss der Tagung bildete ein Überblick JOACHIM TAUBERs (Lüneburg) über den litauischen Kampf um die Unabhängigkeit 1988–1991. Die Grundlagen dafür wurden nach Tauber bereits in den 1950er-Jahren gelegt, als die Kommunistische Partei Litauens (KPL) vorsichtig lituanisiert wurde und in der Bildungs- und Sprachpolitik Freiräume geschaffen werden konnten. Diese wiederum bildeten nach Tauber die Basis für die im Vergleich zu Estland und Lettland rascheren und umfassenderen Erfolge der litauischen Widerstandsbewegung. Das am 3. Juni 1988 in der Akademie der Wissenschaften Litauens gegründete Oppositionsbündnis „Sąjūdis“ bestand noch zu 50 Prozent aus reformwilligen Mitgliedern der KPL. Doch löste es sich zunehmend von Gorbačev und wurde zu einer nationalen Bewegung. Als der neu gewählte Oberste Sowjet der Litauischen SSR am 11. März 1990 die Wiederherstellung der litauischen Unabhängigkeit erklärte, wurde diese im Westen allerdings noch nicht anerkannt. Der Weg Litauens zurück in das westeuropäische Bewusstsein nach 1991 ist eine eigene Geschichte.

Konferenzübersicht:

Eröffnung durch den Vorsitzenden
Matthias Thumser

Projektpräsentationen:
Klaus Neitmann (Potsdam) / Madlena Mahling (Berlin), Der 13. Band des Liv-, Est- und Kurländischen Urkundenbuches. Neue Forschungen zur baltischen Geschichte

Johannes Götz (Kraków), Die Wahl des Ordensmeisters. Ein Indikator für die Stellung der „Livländer“ in der Korporation des Deutschen Ordens

Kari Tarkiainen (Helsinki / Tallinn), „Die Provinz jenseits des Meeres“: neue Sichtweisen auf die „goldene Schwedenzeit“ in Estland

Tagungsschwerpunkt:
Litauen und Europa. Transnationale Aspekte einer ostmitteleuropäischen Nation

Joachim Tauber (Lüneburg), Einführung

Christiane Schiller (Berlin), Litauisch und die baltische Sprachgruppe

Rimvydas Petrauskas (Vilnius), Das Großfürstentum Litauen und der Deutsche Orden

Mathias Niendorf (Greifswald), Polen-Litauen und der Livländische Krieg

Darius Staliūnas (Vilnius), Becoming Orthodox in the 19th Century: A Comparison between Lithuania-Belarus and the Baltic Provinces

Vytautas Petronis (Vilnius), The New Eastern Europe: the Baltic States in 1918/1919

Zenonas Butkus (Vilnius), Die lettisch-litauischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit

Arūnas Bubnys (Vilnius), Die stalinistischen Repressionen in Litauen 1940/41 und 1944–1953

Joachim Tauber (Lüneburg), Der litauische Kampf um die Unabhängigkeit 1988–2004


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