Die ‚nicht mehr neuen‘ Medien. Herausforderungen für Universitätssammlungen

Die ‚nicht mehr neuen‘ Medien. Herausforderungen für Universitätssammlungen

Organisatoren
Babett Forster, Institut für Kunstgeschichte und Kustodie der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Kerrin Klinger, Abteilung Historische Bildungsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.05.2015 - 09.05.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Babett Forster, Institut für Kunstgeschichte und Kustodie, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Claudia Gaschler, Studentische Hilfskraft, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Kerrin Klinger, Abteilung Historische Bildungsforschung, Humboldt-Universität zu Berlin; Susanne Morisch, Studentische Hilfskraft, Friedrich-Schiller-Universität Jena Email:

Der Workshop „Die ‚nicht mehr neuen‘ Medien. Herausforderungen für Universitätssammlungen“ wurde veranstaltet von Babett Forster, Leiterin der Kustodie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, und Kerrin Klinger, bis Mai 2015 Koordinatorin der Projektgruppe „Laboratorium der Objekte“, Friedrich-Schiller-Universität Jena, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Erziehungswissenschaften, Abteilung Historische Bildungsforschung. Der Workshop wurde gefördert durch die Ernst-Abbe-Stiftung, die Graduierten-Akademie Jena sowie die Stiftung Mercator. Interdisziplinär wurde diskutiert, wie Universitätssammlungen mit medialen „Restbeständen“ zukünftig umgehen können.

BABETT FORSTER (Jena) stellte im ersten Vortrag die Frage nach dem Zugriff auf ungenutzte Sammlungsbestände an Universitäten. Sie bezog sich auf die Geschichte der Kustodie in Jena und die Akkumulation diverser Lehrmittelbestände. Sollten die Objekte digitalisiert werden, um eine zweite (im schlimmsten Fall wiederum ungenutzte) Sammlung entstehen zu lassen? Oder sollten die Sammlungen radikal nach ungewissen Kriterien „entsammelt“ werden? Das Aufbewahren einer Sammlung zieht – besonders in Bezug auf stark beschädigte Objekte – immer auch einen Rechtfertigungsdruck gegenüber der Universitätsleitung nach sich. Das Kunsthistorische Seminar in Jena verwahrt neben zahlreichen Klein- und Großdias auch Fotografien, Postkarten und ungezählte Gebrauchsgrafiken, deren Vergangenheit oft ebenso ungewiss ist wie ihre Zukunft. Bisher wurde eine Auswahl an Objekten in der Lehre eingesetzt, um Studierenden Wissen zu Herstellungsverfahren, Objektkunde und Provenienzforschung zu vermitteln. Das von Babett Forster dargelegte Vorgehen für eine bisher weitestgehend ungenutzte Sammlung fasste sie mit den Schlagworten Sichtung, Erhaltung, Aufbewahrung und Vermittlung zusammen. Die anschließende Diskussion kreiste vor allem um den adäquaten Umgang mit den Kleindiasammlungen. Ein Weg scheint die möglichst breite Kommunikation zwischen betroffenen Instituten sein, um sich über die unterschiedlichen Vorgehensweisen abzustimmen. Außer Frage stand dabei, dass jeglicher Eingriff in auch diese obsolet erscheinenden Bestände zu dokumentieren ist.

PHILIPE HAVLIK (Frankfurt am Main) stellte den Forschernachlass ins Zentrum seines Vortrages. Wie sind diese heterogenen Massen an schriftlichen, analogbildlichen und elektronischen Daten zu bewältigen? Ein praktikabler Weg für diese Bestände sei die Digitalisierung, wobei durchaus Probleme – die Notwendigkeit der Datenkomprimierung und die Frage nach der Haltbarkeit der Digitalisate – bestünden. Havlik machte darauf aufmerksam, dass das Wegwerfen von Sammlungsgegenständen nicht zu empfehlen sei, da sich der Nutzen eines Objektes mitunter erst nach Jahren neu erschließe. Gleiches gelte für Restaurierungen – auch hier sollte keine Vorauswahl getroffen werden, da sich der Wert eines Objektes unter Umständen erst nach Jahren zeige. Gleichzeitig gelte es aber Kosten gegen Nutzen abzuwägen: Denn die Archivierung und Konservierung kämpfe gegen Raumnot, schlechte Lagerbedingungen und chemischen Zerfall. Auch verwies Havlik auf die ästhetische Kraft der sonst rein forschungsrelevanten Objekte, wie Abgüsse (Fossil Art), um so potentiell neue Beforschungskontexte zu erschließen.

FRANK STEINHEIMER (Halle an der Saale) berichtete über die Erschließung und Nutzung der Sammlungen des Zentralmagazins Naturwissenschaftlicher Sammlungen (ZNS) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Der gesamte Bestand an Glasnegativen, Lehrtafeln, Tier- und Pflanzenmodellen sowie Physikgeräten wurde dort bereits digitalisiert und auf verschiedene Weise genutzt. Um den großen Sammlungsbestand aufzuarbeiten, wurde beispielsweise die Diasammlung auf 25 Prozent reduziert, indem Doppelungen und „Unwichtiges“ aussortiert wurden. Wichtig für das ZNS ist zudem die Zusammenarbeit mit Studierenden der Kunsthochschule Burg Giebichenstein, die bereits verschiedene mediale Aufarbeitungen der Sammlungsbestände hervorbrachte, wie etwa Fotografien, Filme oder eine Touchscreen-Anwendung. Für die Sammlung an Physikgerätschaften wurde bereits eine Datenbank erstellt und ein Gesamtkatalog gedruckt, der an Interessenten verschickt wurde, um die Objekte für eine aktive Verwendung zu verleihen. Die Strategie des ZNS konzentriert sich somit auf die Bekanntmachung des Materials auf verschiedenen Wegen, um eine aktive Nutzung der Objekte in Forschung und Lehre zu ermöglichen. Auch hier wurden Strategien zur medialen Aufbereitung und künstlerischen Umwandlung der Lehr- und Forschungsmittel gesucht, um andere Fachwissenschaften auf das Forschungspotential der Bestände aufmerksam zu machen und neue Erschließungsstrategien zu initiieren.

MICHAEL MARKERT (Jena) beschrieb seinen Ansatz zum Qualitätsmanagement von Sammlungen am Beispiel der Biologie-Didaktik. Die dortigen Sammlungsobjekte seien nicht nur sehr heterogen, sondern auch dekontextualisiert. Markert zeichnete anhand des ethnologischen Aneignungskonzepts zur Materiellen Kultur seine Auseinandersetzung mit diesem Sammlungsbestand nach. Über die dort beschriebenen Schritte, wie Annahme, materielle Umgestaltung, Benennung usw., lasse sich nicht nur das Potential einer Sammlung bestimmen, sondern auch neue Fragestellungen entwickeln. In der anschließenden Diskussion wurde die Digitalisierung als „Joker“ unter den Aneignungspraktiken charakterisiert. Digitalisierung bedeute also nicht zwangsläufig eine Entwertung von Objekten, sondern ermögliche im Gegenteil den Umgang mit ihnen. Gleichwohl sei nicht auszuschließen, dass die Objekte während der Digitalisierung nur temporär aktiviert werden und die Sammlung danach vollständig stillsteht. Das Ende der Digitalisierung wäre dann auch das Ende der Sinngebung.

FELIX LASITSCHKA (Heidelberg) betreut die pathologisch-anatomische Sammlung des Pathologischen Instituts des Universitätskrankenhauses Heidelberg. Er stellte die Ergebnisse seiner Umfrage zur Nutzung solcher und ähnlicher Sammlungen vor. Das Interesse an den Präparaten gehe aus seiner Erfahrung zumeist von Studierenden der Medizin und Laien aus, weniger von bereits berufstätigen Ärztinnen und Ärzten. Auch in der Lehre werde heute weniger auf die konkrete Anschauungsobjekte zurückgegriffen, sondern die Krankheitsbilder meist durch andere audiovisuelle Medien vermittelt. Um die Nutzung der Heidelberger Sammlung in Lehre und Forschung neu zu initiieren, wurden die Präparate hier zunächst neu geordnet und präsentiert.

ANDREAS CHRISTOPH (Jena) berichtete in den Räumen der Thüringer Universität und Landesbibliothek über sein Erschließungsprojekt zur historischen Kartografie. Er spricht von einem „zweiten Sammeln“, da er die von ihm explizit ausgewählten Karten, Globen und Atlanten in ihrer digitalen Repräsentation neu zusammenträgt und inventarisiert. Aufgabe sei es dabei, diese Objekte, die an verschiedenen Standorten in unterschiedlichen Kontexten verwahrt werden, vollständig zu digitalisieren. Er verwies auf die Probleme der Digitalisierung, unter anderem das an vielen Orten fehlende 3D-Digitalisierungsverfahren. Als Lösungsansatz stellte er sein Digitalisierungsverfahren und die Nutzbarmachung der Digitalisate durch die Plattform digicult vor.

JAN WALING HUISMAN (Groningen) präsentierte die Sammlungen der Universität Groningen, die in einem Universitätsmuseum verwaltet werden. Zum Bestand der Sammlungen gehören Audio- und Videomaterial, Fotografien, Röntgenbilder, physikalische Geräte, Disketten, Computer und vieles mehr. Durch die Aufnahme wissenschaftlicher Nachlässe und die Übernahme von Beständen einzelner Institute wachse die Sammlung des Museums stetig an und widme sich zunächst der Sicherung der Objekte, um diese anschließend zu sichten und zu bewerten. Die Beurteilung der Objekte richte sich unter anderem danach, welche Relevanz sie für die (Universitäts-)Geschichte und Forschung besitzen. Mit der stetig verbesserten Nutzbarkeit der Sammlung durch Ausstellungen, Datenbanken und die Möglichkeit, Objekte für die universitäre Lehre auszuleihen, versuche das Museum seine Bestände lebendig zu erhalten.

KERRIN KLINGER (Berlin) ging auf die didaktischen Chancen ein, die mit der „Außerbetriebnahme“ von Medienbeständen verbunden sein können. Sie stellte beispielhaft dar, wie ein Bestand an historischen Lehrfilmen aus der Zeit der DDR in der aktuellen Lehrerausbildung genutzt werden kann. Wissenschaftliche Sammlungen würden nicht nur bestimmte Wissensbestände repräsentieren, sondern seien stets in wissenschaftliche Praktiken eingebunden. Der Umgang mit Sammlungen sei oft routiniert und selten reflektiert. Wenn die Sammlung nicht mehr praktikabel ist, also ihren ursprünglichen Zweck nicht mehr erfüllt, würde die Sammlungspraktik in Frage gestellt und damit häufig überhaupt erst thematisiert. Entscheidend dabei sei die historische Differenz, also das Erleben von Fremdheit. Für die angehenden Lehrer, die analysieren sollten, ob sich diese DDR-Lehrfilme als Lehrmittel eignen, seien die Filme zunächst fremd und teilweise auch befremdlich gewesen. Mit der historischen Kontextualisierung und Strategien der Mediendidaktik würden sie sich neu annähern. Sie hinterfragten Darstellungs- und Lehrpraktiken ganz grundsätzlich. So würden die „nicht mehr neuen Medien“ eine kritische Auseinandersetzung mit den „neuen Medien“ ermöglichen.

WOLFRAM HÖHNE (Weimar) hat dem Workshop eine filmische Stellungnahme zur Nutzung der DDR-Lehrfilme übersandt. In seinem auf dem Workshop gezeigten Kurzfilm „Bildarchäologie – Ein Versuch Bilder sichtbar zu machen, die hinter ihren Aussagen verschwanden“ zu einer „Bildarchäologie“ des Films spürte er den Darstellungsstrategien dieses Mediums nach. Wie werden im Lehrfilm Bilder und Kommentare gekoppelt, welche Absichten sind damit verbunden? Die filmische Analyse geschehe dabei im Duktus des historischen Materials und mache die gestalterischen und didaktischen Intentionen damit transparenter. In der anschließenden Diskussion wurde betont, dass durch die Nachahmung die Eigenheit des Lehrmittels in gewisser Weise persifliert, aber gerade dadurch analysierbarer würde.

Abschlussdiskussion
In der Abschlussdiskussion wurde herausgestellt, dass Sammlungen an Universitäten darauf zielen sollten, ihre Objekte in Forschung und Lehre nutzbar zu machen. Um bisher wenig genutzte Sammlungen zu reaktivieren, sollte der Bestand durch Grundlagenarbeit erschlossen werden. Diese Erschließung beginne mit der Inventarisierung, also mit der banalen Frage danach, welche Objekte überhaupt vorhanden sind. Wurde der Sammlungsbestand erfasst, müsse in der Regel eine Auswahl getroffen werden, welche Objekte einer Nutzung zugeführt werden können und welche Objekte, wie Dubletten oder stark beschädigte Objekte, aus der Sammlung ausgeschlossen, das heißt weggeworfen oder abgegeben werden sollten. Während der Tagung wurden in diesem Kontext die Vor- und Nachteile der Digitalisierung diskutiert. So müsse die dadurch entstehende „zweite Sammlung“ in einer Datenbank gepflegt werden, um sie als Medium der Veröffentlichung von Sammlungsbeständen nutzen zu können.

Ein weiterer Diskussionspunkt war die Einbeziehung von Studierenden in diese Grundlagenarbeit, indem sie die zeitaufwändige Arbeit der Inventarisierung übernehmen. Grundsätzlich zeigten die bisher gemachten Erfahrungen mit Lehrveranstaltungen, die Sammlungsbestände thematisierten, dass Studierende sehr von der direkten Arbeit an Objekten profitierten. Hier sei die studentische Rückmeldung etwa über Evaluationen essentiell. Die Aufarbeitung von Beständen könne jedoch nur einen ersten Schritt darstellen, um anschließend eigene Forschungsfragen an die Objekte zu stellen und diese eigenständig zu untersuchen. Auf diese Weise könne Grundlagenwissen, wie beispielsweise die Bestimmung von Grafiken, archäologischen Artefakten oder anatomischen Präparaten, vertieft und praktisch angewandt werden. Das Wissen, das sich die Studierenden auf diese Weise aneignen, sei praxisorientiert und setze ihre eigene Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand voraus, die nicht allein auf Sekundärliteratur gestützt sein kann. Sowohl der Betreuungsaufwand seitens der Lehrenden als auch der Arbeitsaufwand seitens der Studierenden seien in derartigen Lehrveranstaltungen deutlich höher als bei gängigen Lehrveranstaltungen, doch würden beide Seiten davon profitieren.

Die Vorträge und die Diskussionen des Workshops haben die Aktualität des Themas der ‚nicht mehr neuen Medien‘ bestätigt. Ein wesentliches Resultat des Workshops ist die Notwendigkeit der weiteren und breiteren Auseinandersetzung mit dem Thema. Gerade der Umgang mit Medien-Massen erfordere von Universitätssammlungen die Abstimmung in ihren jeweiligen Sammlungsstrategien, um nicht nur Sammlungsbestände als Teil akademischer Erinnerungskultur zu sichern und für eine wissenschaftshistorische Analyse zu erschließen, sondern auch, um sich über innovative Nutzungskonzepte auszutauschen. Die Workshopdiskussion wird daher auf dem Blog der Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Universitätssammlungen in Deutschland (<http://sammeln.hypotheses.org/category/nicht-mehr-neue-medien>) weitergeführt. Wir laden Interessierte zum Kommentar ein.

Wünschenswert ist überdies die Erarbeitung eines Kompendiums zum Umgang mit Lehrmittelsammlungen, das auf Grundlage der Beiträge verschiedene Methoden (zum Beispiel Aneignung, ästhetische Umwandlung, mediale Aufbereitung, Lehrkonzepte) für die Aktivierung und Revitalisierung von Lehrmittelsammlungen an Universitäten praxisnah vorstellt.

Tagungsübersicht

Begrüßung: Babett Forster und Kerrin Klinger

Babett Forster (Jena) Verwahrt. Verstaubt. Veraltet? Die 'neue' Lehrmittelsammlung der Kustodie

Philipe Havlik (Frankfurt am Main), Zwischen Sammelwahn und Dokumentation von Wissenschaftstheorie – Beispiele „Neuer Medien“ aus den Geowissenschaften

Frank Steinheimer (Halle an der Saale), Indexfilm, Datenbank und Touch-Screen: Rekontextualisierung und Erschließung alter Lehrmittel am ZNS in Halle an der Saale

Michael Markert (Jena) Aneignung als Prozess und Instrument. Über den Umgang mit biologischen Lehrmitteln

Felix Lasitschka (Heidelberg), Pathologisch-anatomische Sammlungen in Deutschland im Wandel der Zeit – Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage

Andreas Christoph (Jena), Das zweite Sammeln. Die Digitalisierung historischer Kartenbestände

Jan Waling Huisman (Groningen), Bild oder Daten – Die Schöne oder das Biest?

Kerrin Klinger (Berlin/Jena), Medienwechsel als Chance?

Wolfram Höhne (Weimar), Bildarchäologie – Ein Versuch Bilder sichtbar zu machen, die hinter ihren Aussagen verschwanden

Abschlussdiskussion