Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte

Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte

Organisatoren
Niedersächsisches Forschungskolleg "Nationalsozialistische 'Volksgemeinschaft'? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort"
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2015 - 27.06.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
André Postert; Francesca Weil, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden; Dirk Schuster, Universität Potsdam

Unter dem Titel „Der Ort der ‚Volksgemeinschaft‘ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte“ kamen Forscherinnen und Forscher verschiedener Disziplinen vom 25. bis 27. Juni 2015 auf einer der größten Tagungen zur Geschichte des Nationalsozialismus der letzten Jahre zusammen. Über 120 Mitwirkende und Interessenten beteiligten sich in Hannover an der internationalen Abschlusskonferenz des Niedersächsischen Forschungskollegs „Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort“, in deren Rahmen mit Förderung der Volkswagen-Stiftung seit 2009 bereits eine Reihe von Sammelbänden und nun auch Einzelfallstudien veröffentlicht wurden. 50 Vorträge und eine intensive Podiumsdiskussion boten Anreize zum fachlichen Diskurs. Ergebnisse des Kollegs standen genauso auf dem Prüfstand wie die Analyse- und Synthesefähigkeit des Paradigmas „Volksgemeinschaft“. Die Gründung des Projektverbundes erscheint rückblickend zugleich als Glücksfall und Notwendigkeit: Vor dem Hintergrund der Forschungsdebatten zur „Volksgemeinschaft“ bedurfte es neuer empirischer Studien in lokalen, regionalen und vergleichenden Kontexten, um Mechanismen von Inklusion und Exklusion sowie das Phänomen der „begeisterten Selbstmobilisierung“ weiter Teile der deutschen Gesellschaft zu untersuchen, wie Detlef Schmiechen-Ackermann zum Konferenzauftakt bekräftigte. Die Diskussion wird seit Jahren kontrovers geführt. Während ein Teil der Historikerinnen und Historiker den Begriff nutzt, um die soziale Praxis in der NS-Diktatur aufzudecken, vertreten andere die Auffassung, man benötige diesen Begriff gar nicht, ja, er könne den Blick auf die Komplexität der gesellschaftlichen Wirklichkeit im NS-Staat sogar versperren. Auf der Tagung konnten einerseits Forschungsergebnisse des Kollegs und viele weitere Studien mit ähnlicher oder anderer Akzentuierung präsentiert und andererseits die Begriffsdebatte konstruktiv fortgesetzt werden.

Ein gewichtiger Stellenwert fiel der internationalen Vergleichsebene zu. DETLEF SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hannover) zeigte die Potentiale auf, die in der Anwendung von Erkenntnissen der internationalen Diktaturforschung auf das NS-Konzept der „Volksgemeinschaft“ liegen. Der Vergleich mit dem italienischen Faschismus und dem Kommunismus sowjetischer Prägung offenbare einen spezifischen Charakter der NS-„Volksgemeinschaft“, die als „biopolitische Machbarkeitsfantasie“ einem Prinzip rassistischer Exklusion mit „genozidalem Fluchtpunkt“ gefolgt sei. Bewusst ließ er die Frage offen, ob sich die Gemeinschaftsprojekte totalitärer Systeme tatsächlich typologisch unterscheiden lassen. Weitere Vorträge zur Gewalt im Faschismus (SVEN REICHARDT, Konstanz), zu Massenumzügen in der Sowjetunion (MALTE ROLF, Bamberg), zum Kulturnationalismus in den USA (ADELHEID VON SALDERN, Göttingen) sowie Fluchtnetzwerken in Südtirol nach Kriegsende (GERALD STEINACHER, Lincoln, NE) gaben auf diese Frage je unterschiedliche Antworten. Malte Rolf formulierte eine These, die sich ähnlich in anderen Beiträgen wiederfand: Während die sowjetische Propagandatechnik einem Anspruch der Erziehung gefolgt sei und die sowjetischen Massenveranstaltungen dementsprechend didaktisch und aufklärerisch aufgeladen wurden, hätten sich Faschismus und Nationalsozialismus gezielt dem Mittel des kollektiven Rausches bedient, um die Teilnehmer mittels Emotionen zur Gemeinschaft zusammenzubinden. Ähnlich erklärte THOMAS ROHKRÄMER (Lancaster) die Anziehungskraft der NS-„Volksgemeinschaft“ mit ihrer politischen Ästhetisierung und Emotionalisierung, wobei gerade der emotionale Appell an die Leistung des Individuums einen beträchtlichen Aspekt der Mobilisationskraft des Nationalsozialismus ausgemacht habe. Sven Reichardt plädierte im Hinblick auf den italienischen Faschismus für sensible Differenzierungen nach Zeit, sozialen Gruppen, Instrumenten und Techniken der Komplizenschaft; zugleich sah auch er in der Logik von Selbstermächtigung und Partizipation strukturelle Ähnlichkeiten zum Nationalsozialismus. Während sich die vergleichenden Beiträge um das Aufspüren von Analogien bemühten, betonten im Anschluss die meisten Diskutanten systemische, ideologische und strukturelle Unterschiede. Eindrucksvoll zeigte sich, dass die NS-Forschung ihre Vorbehalte gegenüber dem Diktaturvergleich abgelegt hat. Hier bieten sich Möglichkeiten, um einerseits Differenzen und andererseits Spezifika offenzulegen. Weitere Forschungen seien vonnöten, so der einhellige Tenor.

Neben Beiträgen zur internationalen Vergleichsebene standen diverse Vorträge mit transnationalen Fragestellungen zur Diskussion. Es kamen Raumkonzeptionen, -aneignungen und -strategien der deutschen Wirtschaftselite (OLIVER WERNER, Erkner/ Leipzig) ebenso zur Sprache wie der Umgang des Besatzungsregimes mit den „Volksdeutschen“ in Polen. STEPHAN LEHNSTAEDT (Warschau) zeigte am Beispiel der „Volksdeutschen“ – die er als „aktive Komplizen ohne Einfluss“ charakterisierte – einerseits Mobilisierungseffekte und andererseits den Widerspruch zwischen Ideologie und sozialer Praxis der „Volksgemeinschaft“ auf. RADKA ŠUSTROVÁ (Prag) warf am Beispiel des Protektorats Böhmen und Mähren eine Reihe von wichtigen Fragen nach dem Transfer von NS-Ideologie und organisatorischen Strukturen in die okkupierten Gebiete auf; dabei zeigte sich, dass Wissenschaftler noch zu wenig Kenntnis über die Adaption nationalsozialistischer Ordnungsmodelle im übrigen Europa haben. Die Beiträge bestätigten, dass der analytische Zugang über den Begriff „Volksgemeinschaft“ einiges an Potential für gänzlich unerschlossene Forschungsfelder besitzt.

Einen weiteren Schwerpunkt bildeten Studien mit regional- und lokalgeschichtlichen Perspektiven. MARTINA STEBER (München) zeigte in ihrem programmatischen Beitrag die vielfältigen Möglichkeiten auf, die in einer Geschichte des Nationalsozialismus im kleinen Raum liegen. Einmal mehr wurde deutlich, wie sehr das seinerzeit von Martin Broszat geleitete Projekt „Bayern in der NS-Zeit“ die aktuelle Debatte um „Volksgemeinschaft“ prägt, aber auch zu Widerspruch anleitet. Aktuelle Studien sind bemüht, die historiografisch zementierte Dichotomie von Stadt und Land oder katholischer und protestantischer Region zunehmend aufzubrechen, um die Spannbreite individueller Aktionsmöglichkeiten, die soziale Handlungspraxis und Selbstmobilisation vor Ort in den Blick zu nehmen. Beispiele für den Facettenreichtum regional- und lokalgeschichtlicher Zugänge bot die Konferenz zu Genüge – zur bäuerlichen Wirklichkeit und zur Zwangsarbeit in der Region Niederdonau (ERNST LANGTHALER, St. Pölten), über die soziale Praxis zwischen Personal, Insassen und Anwohnern von Lagern (BIANCA ROITSCH, Oldenburg), zur Umsetzung von Vorgaben der NSDAP-Reichsleitung durch regionale Funktionäre (KERSTIN THIELER, Göttingen), über die Organisation des Luftschutzes im Weser-Ems-Gebiet (JÖRN BRINKHUS, Bremen) sowie über die Funktionsweise des NS-Herrschaftssystems im ländlich-lokalen Mikrokosmos (ANETTE BLASCHKE, Hannover).

Mehrmals stellte sich auch die Frage nach der Rolle, Funktion und Wirkung von Medien bei der Inszenierung und in Bezug auf die soziale Wirklichkeit von „Volksgemeinschaft“ – sei es im Hinblick auf Zeitungen (ANNEKE DE RUDDER, Lüneburg), Fotografie (ELZABETH HARVEY, Nottingham u. LINDA CONZE, Berlin), Film (RAINER ROTHER, Berlin), HJ-Laienschauspiel (ANNE KELLER, Berlin) oder Ton (CHRISTOPH KÜHBERGER, Salzburg). Hier ergab sich ein vielschichtiges Wechselspiel, da Medien zum einen als eher politisches Herrschaftsinstrument und zum anderen durchaus als Mittel für autonome Deutungsangebote dienten. Während Kühberger am Beispiel der Stadt Salzburg zeigen konnte, dass die Beherrschung von Geräuschkulissen – z.B. durch Lautsprecher, Einsatz von Klangmitteln bei Aufmärschen oder Entfernen von Kirchenglocken – eine wesentliche Rolle bei der Durchdringung des städtischen Raumes spielte, bewies de Rudder im Falle der Lüneburger Lokalpresse, wie Redakteure selbständig ihre eigenen Realitäten von „Volksgemeinschaft“ ausdeuteten: Aller antibürgerlichen Ideologie zum Trotz hätten die Redakteure mit Rückgriff auf kommunale Traditionen eine spezifische, durchaus bürgerliche Version von „Volksgemeinschaft“ entworfen.

Breiten Raum nahmen Aspekte der Erinnerungskultur und Geschichtsdidaktik ein. KAROLA FINGS (Köln) berichtete am Beispiel des „Hürtgenwalds“ – eine Region, in der verschiedenste Gruppen abseits des staatlichen Museumswesens an letzte Gefechte der „Windhund“-Division erinnern – über das Phänomen „wilden Gedenkens“. Der Vortrag gab Anlass, durchaus kontrovers über den richtigen Umgang mit privaten Trägern von Erinnerungskultur zu diskutieren. Demgegenüber wies VERENA HAUG (Berlin) in ihrem Vortrag auf die Gefahren hin, die in einer zunehmenden Politisierung und Staatsnähe von Gedenkstättenstiftungen liegen können. HABBO KNOCH (Köln) widmete sich der wichtigen Frage nach den zukünftigen Trägern des Erinnerns im Zeitalter der „digitalen Transformation“. Die Gedenkstätte Ahlem (SHAUN HERMEL, Hannover) und das Projekt „Remembrance and Public History“ (MARTIN LÜCKE, Berlin) dienten als Beispiele für unzweifelhaft erfolgreiche Initiativen, während der Fall der schleswig-holsteinischen „Neulandhalle“ (HARALD SCHMID, Kiel) exemplarisch vorführte, wie ein politisch umkämpftes Erinnerungsprojekt vorläufig scheiterte. Dafür, dass sich das Konzept „Volksgemeinschaft“ zum Unterrichtseinsatz eigne, sprach sich MALTE THIESSEN (Oldenburg) aus; allerdings wurde eingewandt, dass ein derartig komplexer Zugang sowohl Schülerinnen und Schüler wie Lehrkräfte überfordern könne.

Innerhalb der mittlerweile erfolgreichen Genderforschung haben kulturwissenschaftliche Untersuchungsansätze zu vielfältigen Themen zugenommen. Dies spiegelte sich in mehreren Beiträgen wider. PAMELA SWETT (Hamilton, CA) zeigte anhand der Vermarktung von hormonellen Präparaten zur Luststeigerung, wie sich Werbestrategien in Eigeninitiative der Hersteller nach 1933 an vermutete bio- und geschlechterpolitische Erwartungen des Regimes anpassten. NICOLE KRAMER (Frankfurt am Main) wies durch Analyse der NS-Sozialpolitik für Frauen auf die regimeseitig geförderten Ungleichheiten hin, die den Gleichheitsversprechen der „Volksgemeinschaft“ diametral entgegenstanden. ELISSA MAILÄNDER (Paris) ging vor allem der Frage nach, was den Nationalsozialismus attraktiv für „Ostmärkerinnen“ machte und zeigte anhand einzelner Lebenswege vielfältige Interaktionsmuster sowie Gemengelagen von Eigensinn und äußerem Druck zur Anpassung. WIEBKE LISNER (Hannover) verwies darauf, dass soziale Praxis und NS-Gesetzgebung einander zuwiderlaufen konnten: Während das Reichshebammengesetz die deutschen Hebammen zwar absicherte und die polnischen entrechtete, blieb das Vertrauen in die Kompetenzen polnischer Hebammen in der Bevölkerung des „Warthegaus“ teilweise ungebrochen. DAVID REINICKE (Göttingen) referierte über SA-Wachmannschaften in einem emsländischen Strafgefangenenlager, die sich als selbsternannte „Moor-Soldaten“ durch äußere Repräsentation und Selbstinszenierungen zu militärisch-männerbündischen Gemeinschaften stilisierten. Gewalt und Gnadenlosigkeit gegen Zwangsarbeiter und Häftlinge spielten in ihrer Selbstreflexion ebenso wenig eine Rolle wie das Leiden ihrer Opfer.

Das Spannungsverhältnis von Individuum bzw. Individualität und Kollektiv fand in einer Reihe von Vorträgen Beachtung. In diese Thematik hatte zum Konferenz-Auftakt JOHANNES HÜRTER (München) mit der Präsentation des IfZ-Projekts „Privatheit im Nationalsozialismus“ eingeleitet; die These, dass sich die Verfügungsansprüche der NS-Diktatur und individuelles Privatleben nicht ausgeschlossen hätten, ja Privatheitsentwürfe seitens des Regimes sogar gefördert wurden, fand viel Resonanz. Deutlich wurde, dass im NS-Staat auch das Private den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen unterlag. JANOSCH STEUWER (Bochum), TERESA NENTWIG (Göttingen) und PETER FRITZSCHE (Champaign, IL) widmeten sich anhand von Einzelbiografien den Brüchen bzw. Widersprüchen in Lebenswegen nach 1933 sowie individuellen Anpassungsprozessen bis hin zur Beteiligung an Kriegsverbrechen. ANDREW BERGERSON (Kansas City, MO) versuchte anhand eines Briefwechsels nachzuvollziehen, wie Akteure ihre Beziehungen in Bezug auf die Gemeinschaft aushandelten. Weitere Beiträge zur Betriebsgemeinschaft als Netzwerk „alter Kameraden“ (CORNELIA RAUH, Hannover), zu evangelischen Frauenklöstern (CHRISTIANE SCHRÖDER, Hannover), dem Zusammenhang von Gemeinschaft und Gewalt (SVEN KELLER, München), dem katholischen Milieu in Cloppenburg (MERIT PETERSEN, Hannover), zur NS-Rechtspraxis (ANNEMONE CHRISTIANS, München u. CHRISTINE SCHOENMAKERS, Berlin) sowie zu Sport- und Freizeitvereinen (HENRY WAHLIG, Hannover u. HENNING BORGGRÄFE, Bad Arolsen) zeigten die mögliche Spannbreite von individuellem und kollektivem Verhalten auf. Viele Akteure waren bemüht, sich einerseits in die NS-Gemeinschaft zu integrieren und andererseits Handlungsspielräume zu bewahren. Der Ausschluss derjenigen, die nach nationalsozialistischen Vorstellungen als „Gemeinschaftsfremde“ galten, allen voran Juden, war von Beginn an wesentlicher Bestandteil einer gesellschaftlichen Dynamik, die für die soziale Praxis in der NS-Diktatur kennzeichnend gewesen ist.

Dies bekräftigte auch MICHAEL WILDT (Berlin) in seinem öffentlichen Abendvortrag. Wildt betonte, wie sehr Ausgrenzung und Ungleichheit soziale Prinzipien des Nationalsozialismus darstellten. Von der bürgerlich-liberalen Gesellschaft habe sich die rassistisch formierte „Volksgemeinschaft“ durch permanente Gewaltanwendung, Möglichkeiten der Selbstermächtigung und durch die Unumkehrbarkeit von Exklusion unterschieden. „Volksgemeinschaft“ dürfe deshalb nicht im Sinne des Propagandabildes verstanden werden. Vielmehr lasse sich „Volksgemeinschaft“ nur mit Blick auf soziale Aushandlungsprozesse von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit innerhalb einer heterogenen Gesellschaft begreifen. Wildt plädierte deshalb dafür, noch stärker Akteure in den Mittelpunkt der NS-Forschungen zu rücken, um so „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis zu untersuchen. Allerdings wäre durchaus zu überlegen, ob in Zukunft nicht auch sozialwissenschaftliche Theorieansätze – gerade, wenn eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus das Ziel der Bemühungen sein soll – mehr Berücksichtigung erfahren können.

Mit der abschließenden Podiumsdiskussion wurden zentrale Fragen um die analytische Anwendbarkeit und Zukunft des Volksgemeinschaftsbegriffs erneut aufgeworfen. Gleich zu Beginn spitzte WOLF GRUNER (Los Angeles) potentielle Einwände bewusst zu. Zwar liege ein Vorteil vieler neuerer Studien zur „Volksgemeinschaft“ darin, dass sie Mikro- und Makroperspektiven wieder miteinander zu verbinden versuchten. Die Tauglichkeit des Begriffs als Analyseinstrument müsse man jedoch bezweifeln. Zum einen sei „Volksgemeinschaft“ eine letztlich diffuse Kategorie, über deren Inhalt kaum Klarheit bestünde; zum anderen ließe sich bei vielen Studien ein bisweilen zu simplifiziertes Modell von Inklusion und Exklusion beobachten. Letzteres bedinge, dass sowohl individuelle Motive und Handlungsspielräume als auch die Opfer aus dem Blickfeld gerieten. Situationen des Alltags, individuelle Verhaltensweisen und Verhaltensoptionen sowie soziale Kontexte müssten wesentlich feiner durchdacht werden. Schon PETER LONGERICH (München) hatte in seinem Vortrag tags zuvor mit Verweis auf die seines Erachtens gescheiterte Täterforschung gemahnt, dass allzu schematische Konzepte nicht weiterhelfen; Geschichte sei zu komplex, um sie auf einen Begriff zu reduzieren. So war die Grundlage für eine in jeder Hinsicht spannende Debatte gelegt.

THOMAS KÜHNE (Worcester, MA), ANDREAS WIRSCHING (München) und Adelheid Von Saldern sahen in der Offenheit des Begriffs weniger Nachteile als vielmehr Vorteile. Gerade die Variabilität der Zugriffsmöglichkeiten, die auf der Konferenz nachzuvollziehen gewesen sei, bilde die Grundlage für die aktuelle Innovationsdichte und Vielfalt der Studien. Michael Wildt, der sich mit einem beherzten Beitrag in die Diskussion einschaltete, sah gar den „cultural turn“ in der NS-Forschung angekommen und mutmaßte, dass sich etwaige Vorbehalte zukünftig genauso verflüchtigen würden wie im Falle der Debatten um die Alltagsgeschichte in den 1980er- und 1990er-Jahren. Auch Wirsching wandte sich gut begründet gegen Versuche, „Volksgemeinschaft nominalistisch auszudefinieren“. Eine heuristische Herangehensweise sei zweckmäßiger. Indem sich die historische Forschung wieder der sozialen Handlungspraxis in der NS-Diktatur zuwende, könne sie untersuchen, wie sich Individuen nach 1933 im veränderten „moralischen Koordinatensystem“ des Nationalsozialismus verhielten und positionierten. Adelheid von Saldern lobte die bemerkenswerte Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten. In ihrer Beschäftigung mit der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ entwickle die Forschung ein feines Sensorium, um potentielle Verhaltensweisen in der NS-Diktatur zu beschreiben und zu bewerten. Darüber hinaus sei es der Debatte zu verdanken, dass Historikerinnen und Historiker, statt ausschließlich nach Instrumentalisierungstechniken des NS-Regimes zu fragen, ihren Blick zunehmend den „sekundären Bindekräften“ des Nationalsozialismus zuwenden. Dass die Frage danach, was eine solche Gesellschaft zusammenhalte, von zentraler Bedeutung sei, konstatierte auch Thomas Kühne. Eine Gefahr liege allerdings darin, „Volksgemeinschaft“ bloß sozialharmonisch zu denken, ohne ihre rassistische Militanz oder die Ideologie bzw. Sozialpraxis eines latenten Kampfes angemessen zu berücksichtigen. Statt nach der Harmonisierung und Gleichschaltung der Gesellschaft zu fragen, sollten sich Forscherinnen und Forscher eher der „Synchronisation von Handlungen“ zuwenden; allerdings blieb offen, wie dies methodisch zu bewerkstelligen wäre.

Zur Einigkeit fanden die Diskutanten in gleich mehreren Punkten. Als lohnenswert erschien dem Podium die Ebene des Vergleichs mit anderen politischen Systemen in den 1920er- und 1930er-Jahren stringent fortzuführen. Geschlossen wurde festgestellt, dass das Phänomen „Volksgemeinschaft“ nicht allein auf die NS-Zeit reduziert werden dürfe: ideologische Kontinuitätslinien, aber auch konkurrierende Konzeptionen bis in das Kaiserreich müssten zurückverfolgt werden. CHRIS SZEJNMANN (Loughborough) hatte in seinem Vortrag bereits zum Konferenzauftakt die Verbindungslinien zwischen „Volksgemeinschaft“ und Antikapitalismus bis in die Anfänge der Weimarer Republik zurückverfolgt. Solche Linien müssten in Zukunft weiter nachgezeichnet werden. Einigkeit bestand auch darin, dass zukünftig Aspekte der Sozialgeschichte aufgegriffen und Anknüpfungen zur Soziologie gesucht werden müssten. Die Diskussion bestätigte, was die vorangegangenen Vorträge eindrucksvoll gezeigt hatten: Die Auseinandersetzung mit „Volksgemeinschaft“ hat neue, innovative Impulse in der NS-Forschung ermöglicht. Allerdings ist die Debatte um den Begriff nicht beendet.

Konferenzübersicht

Panel 1 Neue Akzente in der Debatte um die NS-"Volksgemeinschaft"
Moderation: Jochen Oltmer (Osnabrück)

Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover), Politik mit der Gemeinschaft? Überlegungen zur nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" aus der Perspektive der vergleichenden Diktaturforschung

Johannes Hürter (München), Das Private im Nationalsozialismus

Chris Szejnmann (Loughborough, GBR), Antikapitalismus und "Volksgemeinschaft" während der Weimarer Republik. Zwei Seiten derselben Medaille?

Panel 2 Der Beitrag regional-geschichtlicher Studien zur Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit
Moderation: Dietmar von Reeken (Oldenburg)

Ernst Langthaler (St. Pölten, AUT), Nationalsozialismus und Agrargesellschaft – am Beispiel Niederdonau

Martina Steber (München), Die Eigenkraft des Regionalen. Die ungeschöpften Potenziale einer Geschichte des Nationalsozialismus im kleinen Raum

Panel 3 Praktiken und Semantiken von Herrschaft vor Ort
Moderation: Eric Johnson (Mount Pleasant, MI)

Andrew Bergerson (Kansas City, MO), Gott, Liebe, Führer. Die Aushandlung von Beziehungen im Briefwechsel

Kerstin Thieler (Göttingen), NSDAP-Funktionäre und ihre Erwartungen an die "Volksgenossen"

Bianca Roitsch (Oldenburg), Mehr als nur Zaungäste. Praktiken und Sagbarkeiten von Akteuren im Umfeld nationalsozialistischer Exklusionslager

Sven Keller (München), "Plünderer werden erschossen." Gemeinschaft und Gewalt im letzten Kriegsjahr

Panel 4 Mediale Inszenierungen und Gemeinschaftspolitik
Moderation: Lu Seegers (Hamburg)

Anneke de Rudder (Lüneburg), Die herbeigeschriebene Gauhauptstadt – Lokalzeitung und Identität, Lüneburg 1937–1945

Elizabeth Harvey (Nottingham, GBR), Die Inszenierung der expandierenden "Volksgemeinschaft": Offizielle Fotos der "Heimkehr" deutscher Minderheiten ins Reich 1939–1941

Rainer Rother (Berlin), Nationalsozialismus und Film

Christoph Kühberger (Salzburg, AUT), Wahrnehmungsgeschichtliche Zugänge zum Nationalsozialismus – Das Beispiel Salzburg

Panel 5 Gesellschaftliche Akteure zwischen Selbstmobilisierung, Beharrung und Eigensinn
Moderation: Frank Bajohr (München)

Anette Blaschke (Hannover), Zwischen "lokalistischer" Orientierung und Dienst für die "Volksgemeinschaft". Zur Handlungspraxis lokaler Funktionäre des Reichsnährstandes

Cornelia Rauh (Hannover), Die Betriebsgemeinschaft als Netzwerk "Alter Kameraden"

Merit Petersen (Hannover), "Das ist Versündigung am Geiste der Volksgemeinschaft" – Konflikte und Schnittstellen nationalsozialistischer und konfessioneller Weltdeutungskonzeptionen am Beispiel des Kreuzkampfes in Cloppenburg 1936

Christiane Schröder (Hannover), Einflussnahmen von außen – Positionierungen im Inneren: Einblicke in Konvente niedersächsischer evangelischer Frauenklöster

Panel 6 Nationalsozialismus als Erlebnisangebot
Moderation: Claudia Fröhlich (Berlin)

Thomas Rohkrämer (Lancaster, GBR), Die Vision einer "Volksgemeinschaft": Sehnsucht nach Verschmelzung und elitärer Anspruch

Pamela Swett (Hamilton, CA), Der Verkauf des sexuellen Vergnügens in den Dreißigerjahren

Linda Conze (Berlin), Die Ordnung des Festes/Die Ordnung des Bildes. Fotografische Blicke auf Festumzüge 1926–1934

Anne Keller (Berlin), Das Deutsche Volksspiel. Jugendliche Propagandisten im Dienst und Visier der "Volksgemeinschaft"

Panel 7 Biografien, Karrieren, Lebensläufe
Moderation: Günther Heydemann (Dresden)

Janosch Steuwer (Bochum), Ein doppeltes Problem. Nationalsozialismus als biografische Herausforderung

Teresa Nentwig (Göttingen), Vom abgesetzten Landrat zum Handlanger des NS-Regimes: Die Jahre 1932–1945 in der Biografie des späteren niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf

Peter Fritzsche (Champaign, IL), Violence and Ideology: German Voices, Smolensk, 1941

Peter Longerich (München), "Volksgemeinschaft" und Täterforschung

Panel 8 Renovierung der deutschen Erinnerungskultur? in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Ahlem
Moderation: Habbo Knoch (Köln)

Jens-Christian Wagner (Celle), NS-Gesellschaftsverbrechen in der Bildungsarbeit niedersächsischer Gedenkstätten

Karola Fings (Köln), "Wildes Gedenken" an Repräsentationsorten der NS-"Volksgemeinschaft"

Shaun Hermel (Hannover), Gedenkstätten im digitalen Zeitalter. Perspektiven und Tabus – ein Erfahrungsbericht

Harald Schmid (Kiel), Die Neulandhalle – Aufstieg und Krise eines schleswig-holsteinischen Erinnerungsprojekts zur "Volksgemeinschafts"-Ideologie

Panel 9 Zugehörigkeiten und Opportunitätsstrukturen
Moderation: Armin Nolzen (Warburg)

Henry Wahlig (Hannover), "Sämtliche Juden, auch getaufte, sind von der Mitgliederliste zu streichen." Die Arisierung des deutschen Sports und seine Bedeutung für die Realisierung einer rassisch bereinigten NS-"Volksgemeinschaft"

Henning Borggräfe (Bad Arolsen), "Das Ziel der Partei ist, und das muss auch unser Ziel sein, die Volksgemeinschaft herzustellen." Zur Bedeutung der "Volksgemeinschaft" in Freizeitvereinen und -verbänden

Christine Schoenmakers (Berlin), Justiz und "Volksgemeinschaft". Rechtspraxis und Selbstverständnis von Bremer Juristen im "Dritten Reich"

Annemone Christians (München), Das Private vor Gericht. Die Eigensphäre in der nationalsozialistischen Rechtspraxis

Panel 10 Internationaler Vergleich und transnationale Perspektiven
Moderation: Martin Sabrow (Potsdam)

Sven Reichardt (Konstanz), Tatgemeinschaften – Rassismus und Gewalt im Faschismus

Malte Rolf (Bamberg), Inszenierungen von Gemeinschaft und Differenz. Massenfeste in der stalinschen Sowjetunion in vergleichender Perspektive

Adelheid von Saldern (Göttingen), Kultureller Nationalismus: Die USA im frühen 20. Jahrhundert im Vergleich mit Deutschland (1900–1945)

Gerald Steinacher (Lincoln, NE), Die wahre Odessa? Die Rolle von Netzwerken bei der Flucht von Nationalsozialisten und Holocaust-Tätern nach Übersee

Öffentlicher Abendvortrag
Michael Wildt (Berlin), Das Ich und das Wir. Subjekt, Gesellschaft und "Volksgemeinschaft" im Nationalsozialismus

Panel 11 Geschlecht und Gemeinschaftspolitik
Moderation: Kirsten Heinsohn (Kopenhagen, DNK)

Nicole Kramer (Frankfurt am Main), "Volksgemeinschaft", soziale Differenz, Geschlecht und Sozialpolitik

Elissa Mailänder (Paris, FRA), Mitmachen und individuelle Selbstentfaltung von österreichischen Frauen im Nationalsozialismus. Eine machtanalytische Annäherung an Selbstzeugnisse (1938–1990)

David Reinicke (Göttingen), "Ein Band der Kameradschaft und Manneszucht umschlingt alle." Gemeinschaft und männliche Selbstinszenierung der SA-Wachmannschaften in den emsländischen Strafgefangenenlagern 1934–1942

Wiebke Lisner (Hannover), Hebammen als weibliche Expertinnen im "Reichsgau Wartheland" 1939–1945. Geburtshilfe im Kontext von Gemeinschafts- und Rassepolitik

Panel 12 Bildungs- und Vermittlungsarbeit zum Nationalsozialismus. Erinnerungskulturen in der post-nationalen Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Institut für Didaktik der Demokratie, LUH
Moderation: Michele Barricelli (Hannover)/Dietmar von Reeken (Oldenburg)

Verena Haug (Berlin), Bildungsprogramme international arbeitender Stiftungen zum Nationalsozialismus. Ausgewählte Beispiele

Martin Lücke (Berlin), Bildung und Vermittlung in transnationalen Perspektiven: Beispiele aus dem Projekt "Remembrance and Public History"

Habbo Knoch (Köln), Wem gehört die Erinnerung? Geschichtskultur und Zeugenschaft im digitalen Zeitalter

Malte Thießen (Oldenburg), Lernziel "Volksgemeinschaft"? Chancen und Schwierigkeiten neuer NS-Forschungen für einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht

Panel 13 Dynamiken und Wechselwirkungen zwischen Raum und Akteuren
Moderation: Thomas Schaarschmidt (Potsdam)

Jörn Brinkhus (Bremen), NS-Luftschutz in der Region (1942–1944/45). Die Wirksamkeit des Parteigaus als Raum und Struktur am Beispiel des Weser-Ems-Gebiets

Oliver Werner (Erkner/Leipzig), Von der "europäischen Großraumwirtschaft" zu regionalen Produktionsgemeinschaften. Raum als Mobilisierungsfaktor der deutschen Wirtschaftseliten im Zweiten Weltkrieg

Stephan Lehnstaedt (Warschau, POL), Die wahre "Volksgemeinschaft"? Politik für die Volksdeutschen im besetzten Polen

Radka Šustrová (Prag, CZE), "Volksgemeinschaft" als Exportartikel? Nationalismus und Wohlfahrt im Protektorat Böhmen und Mähren

Panel 14 Round Table: Impulse für die Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit
Moderation: Hans-Ulrich Thamer (Münster)

Wolf Gruner (Los Angeles)
Thomas Kühne (Worcester, MA)
Adelheid von Saldern (Göttingen)
Andreas Wirsching (München)


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts