Berliner Welträume im 20. Jahrhundert

Berliner Welträume im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Emmy Noether-Forschergruppe „Die Zukunft in den Sternen: Europäischer Astrofuturismus und außerirdisches Leben im 20. Jahrhundert“, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.03.2015 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Ruth Haake, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Das Interesse am Weltall und damit einhergehenden Sehnsüchten und Sorgen führen den Betrachter umgehend zur Erde zurück. Wie sich diese Sehnsüchte und Sorgen manifestiert und welche historischen Prozesse sie angestoßen haben, untersucht die Emmy Noether-Forschergruppe „Die Zukunft in den Sternen: Europäischer Astrofuturismus und außerirdisches Leben im 20. Jahrhundert“ an der Freien Universität Berlin seit einigen Jahren. Ihr europäischer Fokus und die Ausdehnung der Untersuchungen auch auf Zeiträume vor konkreten Raumfahrtprogrammen sollen alternative Lesarten zum US-UdSSR-zentrierten Master-Narrativ des „Space Race“ hervorbringen. Bei vergangenen Tagungen wurden unter anderem Ergebnisse zu Imaginationen des Weltraums, der Historisierbarkeit von UFO-Sichtungen, der Post-Apollo-Ära und zuletzt im Jahr 2014 zur Militarisierung des Weltraums während des Kalten Krieges präsentiert.

Mit dem eintägigen Workshop „Berliner Welträume im 20. Jahrhundert“ fügten Jana Bruggmann (Berlin) und Tilmann Siebeneichner (Berlin) der Veranstaltungsreihe der Forschergruppe durch die stadtgeschichtliche Ausrichtung der fünf Vorträge einen wichtigen Aspekt hinzu. Das Beispiel Berlin sollte die Ambivalenzen zwischen Weltraumnarrativen und ihren regionalen Ausprägungen zeigen. Der Fokus auf Berlin wurde damit begründet, dass die Stadt den Charakter eines expliziten Schauplatzes der Weltraumbegeisterung des 20. Jahrhunderts aufweise. Auch sei der nationalen wie internationalen Sonderstellung Berlins als geteilter Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg Rechnung zu tragen. In ihr hätten sich Systemkonfrontationen zwischen Ost und West über Bezugnahmen auf den Weltraum manifestiert. Die Pluralverwendung von „Welträumen“ führten die Verantwortlichen mit Verweis auf die Historisierbarkeit unterschiedlicher Weltraumkonzepte ein, die es in ihrem jeweiligen Kontext zu verorten gelte. Auf diese Weise könne man bisherige Periodisierungen von Weltraumbegeisterung hinterfragen und in ihrer Abhängigkeit von technischen Erfolgen der Luft- und Raumfahrt spezifizieren.

Die erste von zwei Sektionen widmete sich der Weltraumbegeisterung im Berlin der Klassischen Moderne. Die Sektion zeigte, dass bei der Historisierung des „Weltraums“ wesentlich früher angesetzt werden muss als mit Beginn der eigentlichen Raumfahrtprogramme. Zunächst deutete JANA BRUGGMANN (Berlin) die astronomischen Theatervorstellungen der Berliner "Urania" zwischen 1888 und 1906 sowohl als einen Meilenstein in der Geschichte visueller Weltraumdarstellungen als auch ein klassisches Beispiel für das Spannungsfeld von Science Fiction und Science Fact. Die „Urania“ bot täglich mehrere wissenschaftliche Vorstellungen und Vorträge an, in denen die Astronomie den Kern des Programms bildete. Das Theater nutzte die fortwährende Bekräftigung des wissenschaftlichen Inhaltes sowie die visuelle und sprachliche Exotisierung nicht-irdischer Landschaften – im deutlichen Gegensatz zur Berliner Stadtlandschaft als Start- und Endpunkt der Inszenierungen. Die „Urania“ habe damit zur frühen Popularisierung und Verwissenschaftlichung des Weltraums beigetragen.

Im anschließenden Beitrag schilderte KATHERINE BOYCE-JACINO (Baltimore) die Rolle des Berliner Planetariums im Fortschrittsdiskurs der Weimarer Republik und ging dabei insbesondere auf die architektonische und standortspezifische Situation dieser Institution ein. Von seiner Eröffnung 1926 bis zu seiner Zerstörung im Jahre 1943 bildete das Planetarium in der nordöstlichen Ecke des Zoologischen Gartens eine regelmäßig von Einheimischen und Tourist_innen besuchte Attraktion. Das Planetarium reihte den Weltraum durch die institutionelle Anbindung an den Zoologischen Garten und als Ort Schichten übergreifender Bildung und Unterhaltung in die performative Tradition des Wissenschaftsspektakels der Neuzeit ein. Das Planetarium habe jedoch ebenso einen bildungsbürgerlichen Anspruch bedient, der intensiv vom gleichfalls krisenhaft empfundenen und zukunftsorientierten Zeitgeist bestimmt gewesen sei. Die Sehnsucht nach Fortschritt und die Suche nach einer alternativen Zukunft seien wirkmächtige Bestandteile des hier präsentierten „Weltraumes“ gewesen.

TILMANN SIEBENEICHNER (Berlin) untersuchte im letzten Vortrag der ersten Sektion den Mythos um den so genannten Raketenflugplatz in Tegel. Seit der Gründung des „Vereins für Raumschiffahrt“ 1927 und seinen anschließenden Flug- und Raketenexperimenten ab 1930 genossen seine Akteure reichsweite mediale Aufmerksamkeit. Sie verzeichneten mit Hermann Oberth und Wernher von Braun als Protagonisten zwei bedeutende Figuren der späteren technischen Umsetzung der tatsächlichen Raumfahrt. Im Nachhinein häufig als „Wiege der Raumfahrt“ mythisiert, stieß die Arbeit auf dem Flugplatz an ihre Grenzen. Die kostspielige technische Durchführung von Raketenflugtests habe einer ständigen Legitimation bedurft, die durch die Generierung eines breiten öffentlichen Interesses erreicht werden sollte. In diesem Zusammenhang sei die rege Öffentlichkeitsarbeit der Akteure, etwa mit eigenen Publikationen sowie Souvenirs und wirksam inszenierten, kostenpflichtigen Vorführungen, zu deuten.

In der zweiten Sektion erörterten beide Vorträge spezifische Weltraumbegeisterungen der Nachkriegszeit. Zunächst widmete sich der Literaturwissenschaftler BENJAMIN DITTMANN (Berlin) der West-Berliner Familie Speer, die in den 1950er-Jahren in Charlottenburg den „Medialen Friedenskreis“ gründete und leitete. Die Familie gab vor, in regelmäßigen Séancen mit außerirdischen Zivilisationen zu kommunizieren. Dittmann analysierte die Speersche Konstruktion des Weltraums in ihrer eigens publizierten Zeitschrift „Mene-Tekel“, deren spiritistische Nachrichten der Kreis schließlich sogar nationale Aufmerksamkeit generieren konnte. Über die Auswertung solcher Artikel, in denen die Speers über einer Art Kommentarfunktion der außerirdischen Partner auf aktuelle Fragen antworteten, böte sich die Möglichkeit, die Wertesysteme und zeitliche Gebundenheit der Familie Speer in den 1960er-Jahren zu rekonstruieren. Besondere Aufmerksamkeit widmete der Referent dabei ihrer „Kultur der Ausrede“, also den Selbstversicherungen des Kreises beim Ausbleiben ihrer Zukunftsprophezeiungen.

COLLEEN ANDERSON (Cambridge, MA) sprach über die Besuche ausgewählter Astronauten und Kosmonauten in West- bzw. Ostberlin in den 1960er- und 1970er-Jahren. Die Besuche berühmter Raumfahrer_innen, wie Jurij Gagarin und Valentina Tereškova bzw. Frank Bormann und Gerald Carr, zeigten zwei Aspekte: Sie seien erstens als ikonenhafte Vertreter_innen des Sozialismus oder Kapitalismus in die geteilte Stadt geschickt worden. Sie verkörperten rasanten technischen Fortschritt und demonstrierten damit die Überlegenheit des jeweiligen Systems. Diese Überlegenheit habe jedoch ständiger Rückversicherung – etwa durch wiederholte Besuche der Raumfahrer_innen – bedurft. Vor allem bei ihren Auftritten an der Berliner Mauer und dem Brandenburger Tor seien sie als Ikonen der Überlegenheit des jeweils eigenen politischen Systems präsentiert und euphorisch gefeiert worden. Zweitens hätten die Besuche vor Ort dann aber einen Berlin-spezifischen Charakter angenommen. An eben dieser charakteristischen Darbietung von Raumfahrer_innen – und damit auch der jeweiligen Astrokulturen der opponierenden Systeme – zeige sich die lokale Überformung globaler Prozesse.

In den Sektionsdiskussionen mit Paul Ceruzzi (Washington, DC) und Hanno Hochmuth (Potsdam) sowie in der Abschlussdiskussion mit Anke Ortlepp (Kassel) und Alexander Geppert (Washington, DC / Berlin) regten Teilnehmer_innen des Workshops mit konkreter Bezugnahme auf die einzelnen Vorträge dazu an, den internationalen Stellenwert Berlins für die Popularisierung und Verwissenschaftlichung des Weltraums im Vergleich zu anderen Metropolen zu definieren. Des Weiteren empfahlen Teilnehmer_innen, die Speer’schen Spezifika der Konstruktion von Welträumen durch den Vergleich mit anderen spiritistischen Gruppen zu konkretisieren beziehungsweise im Abgleich mit anderen okkulten Gruppen zu systematisieren. Es könne sich auch als ertragreich zeigen, die Besuche von Raumfahrer_innen genauer abzugrenzen von den Berlin-Besuchen anderer beliebter Ikonen in diesem Zeitraum, etwa politischen Persönlichkeiten wie John F. Kennedy oder Martin L. King jr. Für die zweite Sektion hätte es sich zudem angeboten, Angstszenarien zum Weltraum und seiner Militarisierung während des Kalten Krieges konkreter herauszuarbeiten. Über die „Frontstellung“ Berlins während der Systemkonfrontation zwischen Ost und West nachzudenken, kann zukünftig weiterführende Erklärungen liefern, warum die beiden deutschen Staaten eine weniger zentrale Rolle im tatsächlichen Ausgreifen in den Weltraum spielten und auf welche Weise sich dies in Berlin äußerte.

Workshop-übergreifend wurden vor allem Fragen zur späteren Relevanz der referierten Phänomene und Institutionen erörtert. Dabei bleibe insbesondere die Wirkmächtigkeit von Weltraumvorstellungen – auch stellvertretend für eine ganze Ansammlung an Zukunftsverheißungen – in den jeweiligen Zeiten hervorzuheben und zu untersuchen, an welchen Zäsuren diese Wirkmächtigkeit durch andere Deutungsmuster ersetzt wurden. Als weitere Forschungsanregungen nannten Teilnehmer_innen außerdem nationale wie internationale Vergleichsperspektiven, durch die „Berliner“ Welträume noch genauer konkretisiert werden könnten.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Workshop „Berliner Welträume im 20. Jahrhundert“ zeigen konnte, welchen Wert mikrohistorische Perspektiven für die Erkundung und Diskussion von Weltraumgeschichten haben können. So vermochten es die Referent_innen, am Beispiel Berlins im Kleinen verschiedene Formen lokaler Astrokultur auszuloten und zu analysieren. Nicht nur wurden auf diese Weise lokale Verwissenschaftlichungsprozesse und technische Innovationsbestrebungen sichtbar. Die Rekonstruktion solcher lokalspezifischen Weltraumvorstellungen lenkte zum einen den Blick auf zeitgenössische Zukunftstopoi, während zum anderen deutlich wurde, wie sich militärpolitische Ambitionen und spirituelle Erfahrungsdimensionen in der Großstadt selbst niederschlugen.

Auffällig ist, dass im Programm des Workshops der Zäsurcharakter der beiden Weltkriege implizit blieb. Ein vielversprechender Ansatz für künftige Forschungen zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann es gerade sein, die Auswirkungen der globalen militärischen Auseinandersetzungen auf die europäische Astrokultur zu rekonstruieren. Dies bietet sich vor allem an, da in den ersten drei Vorträgen wiederholt Bezüge zum wirkmächtigen Fortschrittsstreben in der Klassischen Moderne hergestellt wurden. Es liegt nahe, die Fortführung dieser Zukunftsfixierung in militärischen Ausprägungen der Raum- und Luftfahrt zu suchen. Während der Einsatz von Flugzeugen und Raketenwaffen im Ersten Weltkrieg im Vergleich zu anderen Waffenarten noch eine untergeordnetere Rolle gespielt haben mag, kann es förderlich sein, die katalytische Wirkung der nationalsozialistischen Kriegsindustrie auf die Weiterentwicklung, Erprobung und schließlich die militärische Verwendung von Weltraumtechnologien seit 1945 zu konkretisieren. Diese und weitere fortführende Überlegungen werden sicherlich auf der Abschlusstagung der Emmy Noether-Forschergruppe in Berlin im Frühjahr 2016 ihren Ort finden.

Konferenzübersicht:

Teil I: Innovation und Inszenierung: Weltraumbegeisterung in der Klassischen Moderne

Jana Bruggmann (Berlin): Weltraumtheater: Astronomie auf der Bühne der Berliner Urania, 1888–1906

Katherine Boyce-Jacino (Baltimore, MD): Space and Spectacle in the Berlin Planetarium

Tilmann Siebeneichner (Berlin): „Die Narren von Tegel“: Der Berliner Raketenflugplatz zwischen Show und Wissenschaft, 1929–1934

Teil II: Kontakt und Konkurrenz: Weltraumbegeisterung in der geteilten Stadt

Benjamin Dittmann (Berlin): Der „Mediale Friedenskreis Berlin“, 1955–1970

Colleen Anderson (Cambridge, MA): Space Travelers in East and West Berlin, 1960–1990


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