Revolution und Krieg. Die Ukraine in den großen Transformationen des neuzeitlichen Europa. Konferenz der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission

Revolution und Krieg. Die Ukraine in den großen Transformationen des neuzeitlichen Europa. Konferenz der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission

Organisatoren
Deutsch-Ukraininische Historikerkommission im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands; Imre KertészKolleg Jena; Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien München/Regensburg
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.05.2015 - 29.05.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Franziska Davies, Historicum, Abteilung für die Geschichte Ost- und Südosteuropas, LMU München

Unter großem Interesse auch der breiteren Öffentlichkeit fand vom 28. bis zum 29. Mai 2015 die erste Tagung der in diesem Jahr vom Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) gegründeten Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission in Berlin statt. Die Tagung wollte einen geschichtswissenschaftlichen Bogen vom 17. Jahrhundert bis heute schlagen und dabei wichtige Zäsuren der ukrainischen Geschichte in den Blick nehmen. Die Konferenz war eine gemeinsame Veranstaltung des Historikerverbandes, sowie des Imre-Kertész-Kollegs in Jena und der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien in München und Regensburg. In seiner Begrüßung machte VHD-Vorsitzender Martin Schulze Wessel (Ludwig-Maximilians-Universität München) deutlich, dass die Kommission und damit auch diese Konferenz selbstverständlich einer wissenschaftlichen Logik folge und frei von politischer Einflussnahme sei – was freilich nicht ausschließe, eine Aggression eine Aggression und einen Krieg einen Krieg zu nennen.

TIMOTHY SNYDER (Universität Yale) eröffnete die Konferenz in seinem Abendvortrag mit dem Plädoyer, die Ukraine als Teil der Geschichte Europas zu begreifen und dies aus zwei Gründen: zum einen weil sich ohne die Ukraine eine Geschichte Europas schlicht nicht schreiben ließe, zum anderen weil die Geschichte der Ukraine sich in unsere etablierten Narrative europäischer Geschichte zwar einfüge, aber diese zugleich um wichtige Perspektiven erweitere. Unter den etablierten Narrativen europäischer Geschichte verstand Snyder etwa das Problem der Staatswerdung, die Begegnung zwischen sesshafter und nomadischer Bevölkerung, die Geschichte der Reformation und Gegenreformation sowie der Renaissance. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts interpretierte Snyder als eine Ära der De-Kolonisierung. Demnach war der Erste Weltkrieg ein De-Kolonisierungskrieg, der zwar mit dem vorläufigen Durchbruch der Idee des souveränen Nationalstaats endete, zugleich aber eine Ära neo-kolonialer Ambitionen durch die Sowjetunion und das nationalsozialistische Deutschland einleitete. In Zentrum der kolonialen Ambitionen beider Staaten stand die Ukraine, was deren Zentralität für die Geschichte Europas zeigt. Erst nach dem Scheitern des deutschen Kolonialreichs im östlichen Europa wurde eine Lösung für das koloniale Ausgreifen europäischer Staaten gefunden: die Europäische Union. Snyder deutete die EU als ein post-imperiales Projekt, das sich durch die Fähigkeit auszeichne, sowohl ehemalige Imperien (etwa Deutschland, Frankreich, Großbritannien) als auch ehemals imperial beherrschte Staaten (die Länder Ostmitteleuropas) zu integrieren. In der Gegenwart allerdings sei dieses Projekt durch die neo-kolonialen Ambitionen Wladimir Putins bedroht, die sich sowohl in dem Krieg gegen die Ukraine manifestierten als auch in Putins Versuch, die Europäische Union in ihrer Gesamtheit zu diskreditieren. Dass der deutsche Diskurs über die Ukraine in dieser Zeit oftmals koloniale Züge aufweist, führte Snyder als weiteren Beleg für seine These an, dass die Geschichte der De-Kolonisierung Europas noch nicht ihr Ende gefunden habe.

Der folgende Konferenztag wurde mit dem Panel „Krieg und Krise: Die Ukraine in Europa im 17. Jahrhundert“ eröffnet. FRANK SYSYN (Universität Alberta, Edmonton) diskutierte die Rolle der Ukraine in der Krise Europas im 17. Jahrhundert. Die historiographische Debatte über diese Krise und ihre Bedeutung für die Geschichte Europas fand in den 1970er- und 1980er-Jahre ohne ukrainische Historiker statt, da die Ukraine nicht als Teil dieser Geschichte begriffen wurde. Dies war im 17. Jahrhundert anders: venezianische Historiker hatten das Land durchaus im Blick und europäische Karten weisen die Ukraine aus. Für die Genese ukrainischer Staatlichkeit war das 17. Jahrhundert gleichsam formativ: Es war der Aufstand unter Bohdan Chmel'nyc'kyj gegen Polen, der die Kosaken zum zentralen Bezugspunkt ihrer Geschichte machte. RICARDA VULPIUS (München) analysierte die Geschichte des 17. Jahrhunderts aus der Perspektive des Moskauer Reiches und stellte dabei den nach wie vor in der Forschung umstrittenen Akt von Perejaslav 1654) in den Mittelpunkt. Bis heute ist umstritten, ob dieses Bündnis zwischen den ukrainischen Kosaken und dem Moskauer Reich als kündbarer Vertrag zwischen zwei gleichberechtigen Partnern oder als ein Unterwerfungsakt unter die Oberherrschaft des russischen Zaren zu verstehen ist. Vulpius legte dar, dass die in der russischen Geschichtsschreibung immer noch gängige Interpretation des Vertrags als „Wiedervereinigung“ der Ukraine mit Russland tatsächlich eine Erfindung des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Schließlich stieß die Bitte des Hetmans Chmel'nyc'kyj um Beistand in Moskau gegen die Polen zunächst auf wenig Gegenliebe. Wie der Vertrag von Perejaslav aus russischer Perspektive zu verstehen sei, machte Vulpius an russischen Konzeptionen von „Untertanenschaft“ fest. Zwar war dieses Konzept im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts schon etabliert, aber es war zugleich ein „situatives Konzept“, das nicht rechtlich kodifiziert war. Dies erlaubte dem Zaren ein hohes Maß an Flexibilität im Umgang mit seinen „Untertanen“. Nach russischer Lesart war der Vertrag von Perejaslav ein Akt der politischen Gnade und dies reichte aus, um auch nachfolgend imperiale Ansprüche zu begründen.

Unter dem Titel der „Weltkriege und Weltrevolution: Europa und die Ukraine 1914–1945“ stand das nächste Panel. Eröffnet wurde es von YURI SHAPOVAL (Nationale Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Kyiv), der noch einmal auf die Zentralität des Krieges für die Staatswerdung der Ukraine hinwies. In seinem Vortrag erinnerte Shapoval an die imperialen Aggressionen, allen voran der Bolschewismus und der Nationalsozialismus, die sich im 20. Jahrhundert gegen die Ukraine gerichtet hatten und die die letztlich bis heute wirksame „Zersplitterung“ erklären können. Die derzeitige russische Aggression habe aber nicht nur eine destruktive Wirkung, so schloss Shapoval, sondern sie habe die ukrainische Gesellschaft auch geeint. TANJA PENTER (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) setzte das Panel fort. Das Zeitalter der Weltkriege war für die Ukraine vor allem von Widersprüchlichkeiten geprägt. Einerseits wurden in dieser Zeit die Grundlagen ukrainischer Staatlichkeit gelegt, so etwa durch die Festlegung ihrer Grenzen und die Ukrainisierungspolitik der Bolschewiki in den 1920er Jahren. Andrerseits aber verloren viele Millionen Menschen durch Krieg, Hunger, Terror und die Shoa ihr Leben. Den zweiten Teil ihres Vortrags widmete Penter der Frage, wie diese Schlüsselereignisse ukrainischer Geschichte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erinnert werden und konstatierte, dass es in der post-sowjetischen Ukraine konkurrierende Erinnerungskulturen gäbe, bei denen die unterschiedliche Bewertung der Rolle der Ukrainischen Befreiungsarmee (OUN) bzw. der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) im Mittelpunkt stehe. Integrierende Erzählungen fehlten dagegen. Hierneben gebe es allerdings Gedenken an die Opfer des Holodomor, der Tschernobyl-Katastrophe sowie an die des Stalinismus und des Nazismus, das für Penter ein wichtiger Faktor für die Entstehung einer ukrainischen Zivilgesellschaft ist.

Das dritte Panel war der Rolle der Ukraine in den großen europäischen Transformationen seit 1989 gewidmet. Den Blick auf die Wirtschaftsgeschichte der Ukraine schärfte PHILIPP THER (Wien), indem er ihre ökonomische Entwicklung seit 1991 skizzierte. Die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der post-kommunistischen Transformationen der Ukraine waren so katastrophal, dass sie durchaus mit denen eines Krieges vergleichbar seien. Angesichts der desaströsen wirtschaftlichen Entwicklung sei die Entstehung einer starken ukrainischen Zivilgesellschaft umso bemerkenswerter. Dennoch bestünden viele der strukturellen Probleme bis heute fort: der große Einfluss der Oligarchen durch die Privatisierungen der 1990er Jahre, eine undemokratische Verbindung wirtschaftlicher und politischer Eliten, die Abhängigkeit von veralteten Industrieexporten und die fehlenden Investitionen im landwirtschaftlichen Sektor. Die Revolution von 2014 habe aber das Potenzial der Ukraine gezeigt, jetzt benötige das Land eine post-oligarchische Transformation um dies auch nutzen zu können. MARCI SHORE (Universität Yale) stellte die Träger dieser Revolution ins Zentrum ihres Vortrags und rekonstruierte auf diese Weise den Maidan aus der Perspektive der Menschen, die ihn ermöglicht haben. Anhand ihrer Wahrnehmungen und Deutungen zeigte Shore, dass der Maidan in der Tat als eine echte Revolution zu begreifen sei, deren Aktivisten sich seit Januar 2014 als Akteure eines historischen Umbruchs fühlten. Für Beobachter sei vor Ort erkennbar gewesen, dass viele Menschen auf dem Maidan ab diesem Zeitpunkt bereit waren, für ihre Revolution zu sterben.

Um den Maidan und seine Deutungen ging es auch im letzten Panel. Die Zeitschrift „Ab Imperio“ hatte eine ihrer letzten Ausgaben (3/2014) diesem Thema gewidmet und so stellte dessen Redakteur ILYA GERASIMOV (Ab Imperio Quarterly, Chicago & Kazan) Deutungen von Historikern, aber auch populäre Wahrnehmungen des Maidan zur Diskussion. Gerasimov selbst interpretierte den ukrainischen Umbruch als eine post-koloniale Situation, in der sowohl eine neue gesellschaftliche Solidarität als auch eine neue Selbstwahrnehmung entstanden sei. ANDRIJ PORTNOV (Potsdam/ historians.in.ua, Kyiv, Dnipropetrovsk) thematisierte in seinem Vortrag die Herausforderungen der Geschichtsschreibung nach dem Maidan. Portnov monierte, dass in diesem Zusammenhang eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Abfolge der Ereignisse im Donbass fehle. Deutungen, die den Krieg im Donbass mit Verweis auf eine (essentialisierte) sowjetische Identität der Region zu erklären versuchten, ließen den entscheidenden Faktor der Gewaltausübung russischer Militärs ebenso außer Acht wie die Frage nach der Positionierung lokaler Eliten. Gerade der Vergleich mit dem ostukrainischen Dnipropetrovsk mache dies deutlich: strukturell und erinnerungspolitisch ähnele Dnipropetrovsk durchaus den nun besetzten Städten Donezk und Lugansk und trotzdem positionierte sie sich im russisch-ukrainischen Krieg eindeutig auf Seiten des ukrainischen Staates und blieb von einer Übernahme durch russische Militärs verschont.

Den Abschluss der Konferenz bildete ein Abendvortrag von ANDREAS KAPPELER (Wien). Kappeler bot dem Publikum einen Überblick deutscher Ukraine-Bilder vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Während im 17. und 18. Jahrhundert die deutsche Perzeption der Ukraine vor allem durch die Kosaken bestimmt war, setzte sich im 19. Jahrhundert die Vorstellung durch, dass die Ukraine vor allem als ein Teil Russlands zu begreifen sei. Dies änderte sich erst 1914 als der Erste Weltkrieg die Ukraine wieder ins deutsche Bewusstsein rückte. Zu Sowjetzeiten verschwand die Ukraine allerdings wieder weitgehend aus der Wahrnehmung der Deutschen. Trotz Holodomor und der Deportation von zwei Millionen ukrainischen Zwangsarbeitern nach NS-Deutschland, wurde die Ukraine im besten Fall in folkloristischer Manier wahrgenommen und die Sowjetunion vor allem mit Russland gleichgesetzt. Die kognitive Neuvermessung Ostmitteleuropas in den 1980er-Jahren vollzog sich ebenfalls ohne die Ukraine und erst die Orangene Revolution (2004) und der Maidan haben dies grundlegend verändert. Kappeler beendete seinen Vortrag mit einer optimistisch stimmenden Beobachtung: In den letzten Jahrzehnten steige die Zahl deutschsprachiger Dissertationen zur ukrainischen Geschichte kontinuierlich an und es sei anzunehmen, dass sich dieser Trend auch in Zukunft fortsetze. Was allerdings in Deutschland nach wie vor fehle, sei die institutionelle Verankerung der Forschungen zur Ukraine an den Universitäten mit eigenständigen Lehrstühlen.

Das große Interesse sowohl von Fachkreisen, den Medien und der breiteren Öffentlichkeit an dieser sehr gut besuchten Auftaktveranstaltung der deutsch-ukrainischen Historikerkommission ist ein Hinweis darauf, dass Andreas Kappelers Optimismus berechtigt ist. Der Maidan hat dafür gesorgt, dass die Ukraine aus den kognitiven Karten der Deutschen nicht mehr wegzudenken ist. Die Herausforderungen, die sich der Kommission stellen, sind dennoch immens. Die deutsche Ukraine-Wahrnehmung ist immer noch von fragwürdigen Klischees geprägt und die Publizistik wird oft von Historikern bestimmt, die bisher wenige oder gar keine Forschungsbeiträge zur ukrainischen Geschichte geleistet haben. Bei der wichtigen Aufgabe diesen Zustand zu ändern und wissenschaftlich fundierte Kenntnisse in die Öffentlichkeit zu tragen, kann man der Kommission nur weiterhin viel Erfolg wünschen.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag / Opening Lecture
Timothy Snyder, Yale University

Respondents
Yaroslav Hrytsak, Ukrainian Catholic University, Lviv

Martin Schulze Wessel, Ludwig Maximilians University Munich

Begrüßung / Welcoming Address
Yaroslav Hrytsak, Ukrainian Catholic University, Lviv

Joachim von Puttkamer, Imre Kertész Kolleg Jena

Krieg und Krise: Die Ukraine in Europa im 17. Jahrhundert / War and Crises: The Ukraine in Europe in the 17th century

Frank Sysyn, University of Alberta

Ricarda Vulpius, Ludwig Maximilians University München

Guido Hausmann, Ludwig Maximilians University München (chair)

Weltkriege und Weltrevolution: Europa und die Ukraine 1914–1945 / World Wars and World Revolution: Europe and Ukraine 1914–1945

Yuri Shapoval, National Academy of Sciences of Ukraine, Kyiv

Tanja Penter, Heidelberg University

Wlodzimierz Borodziej, Imre Kertész Kolleg Jena (chair)

Zwischen Revolution und Krieg: Die große europäische Transformation und die Ukraine seit 1989 / Between Revolution and War: The Great European Transformation and Ukraine since 1989

Marci Shore, Yale University

Philipp Ther, University of Vienna

Yaroslav Hrytsak, Ukrainian Catholic University, Lviv (chair)

Round Table: Maidan – Konstruktion und Rekonstruktion / Roundtable: Maidan – Construction and Reconstruction

Andriy V. Portnov, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam/ historians.in.ua, Kyiv -Dnipropetrovsk

Ilya Gerasimov, Ab Imperio Quarterly, Chicago & Kazan

Vitaly Portnikov, Kyiv (chair)

Abschlussvortrag / Closing Lecture
Andreas Kappeler, University of Vienna


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