Alle Macht dem Verbraucher? Marktbasierter Aktivismus und alternative Formen des Konsums in interdisziplinärer Perspektive

Alle Macht dem Verbraucher? Marktbasierter Aktivismus und alternative Formen des Konsums in interdisziplinärer Perspektive

Organisatoren
Martin Gerth / Gabriele Lingelbach, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2015 - 26.09.2015
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Von
Kevin Rick, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Philipps-Universität Marburg; Manuel Schramm, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Technische Universität Chemnitz

Verbraucherforschung boomt – und das nicht nur in den Geschichtswissenschaften. Vor diesem Hintergrund war der hier besprochene Workshop unter der Leitfrage „Alle Macht dem Verbraucher?“ explizit interdisziplinär angelegt. Der Organisator MARTIN GERTH (Uni Kiel) versammelte neben HistorikerInnen auch KollegInnen aus der Soziologie und Philosophie. Besonders thematisiert wurden bei dem Treffen die politischen Implikationen bzw. die politische Dimension der Praxen und Selbstverständnisse von KonsumentInnen. Dabei wurde über die in ihrem thematischen sowie zeitlichen Zuschnitt erfreulich abwechslungsreichen Beiträge hinweg nicht nur eine beinahe pessimistische Skepsis gegenüber der (neoliberalen) Meistererzählung der Konsumentensouveränität diskutiert. Vielmehr wurde in den Gesprächen deutlich, dass der historische Blick auf „neue“ Verbraucherprobleme oftmals sehr fruchtbares, teilweise korrigierendes Potenzial für Gegenwartsanalysen genau wie für Zukunftsfragen aufweisen kann.

Eröffnet wurde die Veranstaltung durch den Abendvortrag von JÖRN LAMLA (Kassel), der die politische Dynamik der Konsumgesellschaft und das von ihm entworfene analytische Konzept der „Verbraucherdemokratie“ zum Gegenstand hatte. Lamla ging es insbesondere darum, die komplexe Verbindung zwischen Konsum und Demokratie mit Hilfe des „demokratischen Experimentalismus“ als issue-orientiertem Analysemodell aufzuzeigen. Im Laufe des Workshops wies er vor diesem Hintergrund wiederholt und mit Nachdruck auf die soziale Verantwortung der Geistes- und Sozialwissenschaften hin, dieses Verhältnis kritisch zu analysieren, zu hinterfragen und sich gegenüber der rein ökonomisierenden Perspektive zu positionieren. Insbesondere kritisierte er den „nudging“-Ansatz der Verhaltensökonomie, der gesellschaftliche Bindungskräfte auf Marketing zu reduzieren drohe. Anhand des Beispiels Elektroschrott zeigte er zudem, dass transnationale Wertschöpfungsketten als Analyseeinheit in den Blick genommen werden müssen. Der anregende Vortrag schloss mit dem Vorschlag, statt Verzicht eine kreative „Politik der Verschwendung“ im Sinne von Georges Bataille zu praktizieren.

BENJAMIN MÖCKEL (Köln) stellte im ersten regulären Vortrag des Workshops einen Teil seines Habilitationsprojektes vor, das sich mit Strategien der Moralisierung von Konsumprodukten und Konsumpraktiken in den 1960er- bis 1980er-Jahren beschäftigt. Der innovative Ansatz einer „Konsumgeschichte der Menschenrechte“ schien allen TeilnehmerInnen als sehr vielversprechend zur Analyse der Integration menschenrechtspolitischen Engagements innerhalb der Zivilgesellschaft. Das Potenzial des Ansatzes zeigte sich im Vortrag unter anderem bei der Übertragung auf die Konsumboykotte in den Menschenrechtskampagnen gegenüber Südafrika, die Nutzung von Popmusik durch Amnesty International Ende der 1980er sowie mit Blick auf das „Merchandise“ von Menschenrechts-NGOs in der Anti-Apartheid-Bewegung. Eindrücklich wurde dadurch die Verschränkung einer durch bestimmte Akteure vorangetriebenen Moralisierung von Konsumpraktiken mit der konsumtiven Überformung zivilgesellschaftlichen Engagements aufgezeigt.

GERRIT RETTERATH (Kassel) befasste sich ebenfalls mit der Verbindung von zivilgesellschaftlichem Engagement und Konsum, näherte sich diesem Themenfeld aber aus einer aktuelleren, soziologischen Perspektive. In seinem Dissertationsprojekt befasst er sich mit der „Praxis des Teilens“ und fragt nach den „zivilen Kompetenzen“, die beim „Sharing“ gefordert bzw. gefördert werden. Mit ethnographischem Blick stellte Retterath erste Ergebnisse seiner Feldforschungen in verschiedenen Gemeinschaftsgärten und einer „Volksküche“ vor. Besonders diskutiert wurde im Anschluss seine Beobachtung, dass offenbar gar nicht das konkrete Ergebnis einer Kollaboration ausschlaggebend für den Bestand eines solchen Projektes zum kollaborativen Konsum sei, sondern vielmehr die performative Praxis im Vordergrund stehe. Diese sei häufig von einer Semantik der „Harmlosigkeit“ und Konfliktscheue geprägt, nicht aber von Leistungsdenken oder Fragen von Verteilungsgerechtigkeit.

Aus einer moralphilosophischen Perspektive beleuchtete dann BIRGIT BECK (Jülich) die strukturellen Bedingungen der Autonomie der KonsumentInnen. Ihr Beitrag behandelte unter Rekurs auf klassische Autonomiekonzepte die Schwierigkeiten und Hemmnisse, aber auch die Möglichkeiten der VerbraucherInnen, Verantwortung für den Konsum zu übernehmen. Beck schärfte mit ihren Reflexionen den analytischen Blick auf Konsumpraktiken und deren politisch-soziale Implikationen, indem sie auf epigenetische und soziokulturelle Geschmacksprägungen, die Kontingenz von Rationalitätsvorstellungen, Verantwortungsdiffusion und die Verschiedenheit moralischer Codes genauso hinwies wie auf die überfordernde Komplexität des verfügbaren Verbraucherwissens. Gerade diese Auffächerung zeigte in der Diskussion einerseits die Notwendigkeit eines interdisziplinären Vorgehens in der Verbraucherforschung und wies andererseits darauf hin, dass bei Fragen der Konsumentensouveränität, -mündigkeit und -autonomie stets eine normative Dimension mitschwingt. Solche Begriffe können analytisch nicht ohne eine kritische Berücksichtigung der spezifischen Sollenserwartungen in Anschlag gebracht werden, die diese in anderen Kontexten artikulieren.

Im Vortrag von KEVIN RICK (Marburg) ging es anschließend um die politischen Implikationen der Gründung der Stiftung Warentest durch das Bundeswirtschaftsministerium im Jahr 1964. Die Bundesregierung griff mit der Gründung in den „Markt“ der Warentest-Initiativen ein und brachte die Position der bis dahin tonangebenden Verbraucherorganisation, der „Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände“ (AgV), nachhaltig ins Wanken. Die Beschränkung bzw. Kanalisierung der Verbrauchervertreter-Macht durch die staatliche Stiftung wurde nach dem Vortrag mit Blick auf „Paternalismus“ und politischen Interventionismus umfangreich diskutiert, wobei besonders die Frage nach den legitimen Repräsentanten von VerbraucherInnen, nach der Rolle von ExpertInnen und generell den beteiligten Akteuren im bundesrepublikanischen Konsumtionsregime thematisiert wurde. Die Verknüpfung von Genderkonzepten und Genderpolitik, aber auch der Arbeiter- und Hausfrauenbewegung sowie die Bedeutung transnationaler Entwicklungen und Netzwerke wurden dabei besprochen.

Die offene Plenumsdiskussion im Anschluss hatte das Ziel, ein erstes Zwischenfazit zu ziehen. Rekurrierend auf die Normativität des Konzeptes der „Konsumentensouveränität“ und mit Blick das Fragezeichen in der Leitfrage „Alle Macht dem Verbraucher?“ wurde zunächst ein recht diffuser Pessimismus besprochen – scheinbar hatten alle Beiträge, so eine These, darauf abgehoben, dass Verbrauchermacht aus verschiedenen Gründen, sowohl theoretisch wie auch empirisch, als Illusion anzusehen sei. Ob die Konsumentensouveränität als analytisch-deskriptive Perspektive insbesondere für die historischen Wissenschaften tauge, wurde daraufhin unter Verweis auf Teleologie-Vorbehalte scharf diskutiert. Lamla formulierte vor diesem Hintergrund nochmals die auf breite Affirmation stoßende Aufforderung an die Geisteswissenschaften, ihrer sozialen Verantwortung als kritisches Korrektiv besser nachzukommen, wozu sich die WissenschaftlerInnen in der insbesondere durch die ökonomischen Disziplinen dominierten Verbraucherforschung mehr organisieren sollten. Besonders auffällig bei der folgenden Diskussion genau wie den Beiträgen insgesamt war allerdings die Abwesenheit der Produzierenden und ihres Einflusses auf die „Verbrauchermacht“ – dies wäre eventuell eine geeignete Schnittstelle zum Dialog mit den Wirtschaftswissenschaften, deren Perspektive die Gespräche sicherlich bereichert hätte.

RUBEN QUAAS (Berlin) und PETER VAN DAM (Amsterdam) widmeten sich in ihren Vorträgen beide dem Thema Fair Trade. Quaas gab einen Überblick über die Geschichte der deutschen Fair Tade-Bewegung, die sich aus der kirchlichen „Dritte-Welt“-Bewegung heraus entwickelte und in den 80er Jahren mit dem Nicaragua-Kaffee ein Produkt verkaufte, mit dessen Konsum sich eine politische Stellungnahme für die sandinistische Revolution verband. Die Zusammenarbeit mit „kapitalistischen Handelsunternehmen“ seit Beginn der 90er Jahre war innerhalb der Fair Trade-Bewegung sehr umstritten, da die Ausweitung des Marktes mit einem Verlust des antikapitalistischen Anspruchs erkauft wurde. Van Dam betonte zu Beginn seiner Präsentation die historisch dem Konzept Fair Trade zugrundeliegende Prämisse, dass VerbraucherInnen als „consumer citizens“ mit ihren Konsumentscheidungen „einen Unterschied machen“ können. Mit Blick auf globale Wertschöpfungsketten bedürfe dieser utopische Blick auf Konsumentenmacht allerdings einer Korrektur. Im Mittelpunkt der Präsentation stand daher vor allem die Frage, wie genau Fair-Trade-Aktivisten die Beziehung zwischen KonsumentInnen und ProduzentInnen sichtbar und sich selbst unsichtbar machten, und welche Rolle sie damit als Vermittler zwischen Politik und Wirtschaft auch in Bezug auf das Konzept der Konsumentensouveränität einnahmen. „Konsumentenmacht“ sei daher, so van Dam, eine sehr anschlussfähige Perspektive, um die Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu untersuchen.

Den letzten Tag des Workshops eröffnete der Vortrag von MARTIN GERTH (Kiel), der Konsumentenboykotts zum Gegenstand hatte. Während Gerth in seiner Dissertation das Phänomen des Boykotts über einen längeren Zeitraum untersucht, stellte er in seiner Präsentation seine Beobachtungen zur Inanspruchnahme von Märkten zur Artikulation und Verhandlung soziomoralischer Anliegen durch kollektive Marktakteure zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs vor. Anhand der vielfältigen, heterogenen Erscheinungsformen dieser kollektiven Aktionen, die Gerth vor allem auf Basis sozialdemokratischer Bierboykotte nachzeichnete, plädierte er für ein pluralisiertes Verständnis vielfältiger Moralisierungen der Märkte und widersprach damit der These einer irgendwie gearteten einheitlichen, allgemeinen Moralisierung. Die Verflechtung von zeitgenössischen Wertevorstellung und Markthandlungen in den Quellen belegt dies großenteils, wobei die anschließende Diskussion nicht ganz klären konnte, wie genau „Moralisierung“ eigentlich verstanden werden kann bzw. sollte.

Im letzten Vortrag der Veranstaltung formulierte LAURA TRACHTE (München) kurzerhand den Titel des Workshops um. Sie trat für den Perspektivenwechsel zu einer „dingbasierten Konsumforschung“ ein und forderte „Alle Macht den Dingen!“ statt „Alle Macht dem Verbraucher“. Ihre Feldforschung auf einer Vegetarier-Messe nahm sie zum Anlass, den bislang scheinbar zu Unrecht vernachlässigten Bereich der Dinge genauer zu betrachten. Sie warb insbesondere für Fragestellungen, die sich mit dem Beitrag der Objekte zu bestimmten Konsumpraktiken bzw. den Beziehungen zwischen Dingen und VerbraucherInnen befassen. In der Diskussion wurde allerdings einerseits klar, dass diese Perspektive in verschiedenen Disziplinen bereits seit einiger Zeit gängige Praxis ist. Andererseits wurde deutlich, dass es doch zu Problemen in der Rede kommt, wenn der Bio-Apfel plötzlich „auffordert“ oder direkt zum verbrauchenden Subjekt „spricht“. Nichtsdestotrotz schärfte Trachtes Plädoyer die Sensibilität für die materielle Dimension des Konsums. Eventuell könnte eine vermehrte Konzentration darauf eine fruchtbare Schnittstelle für den interdisziplinären Austausch sein.

Die Abschlussdiskussion kreiste wiederum um die Frage, ob und wie eine Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne einer Verbraucherdemokratie über den Konsum möglich ist, und welche Rolle die Geistes- und Sozialwissenschaften in diesem Prozess spielen können. Insgesamt bestachen die Beiträge und Diskussionen des Workshops durch ein breites Themenspektrum und vielfältige Zugänge zur Frage nach der Macht von KonsumentInnen. Freilich konnte es dabei nicht um eine konsistente, systematische Annäherung gehen, da hierfür die chronologischen, geographischen sowie sachlichen Zuschnitte zu heterogen waren. Dennoch zeigte sich das Potenzial einer interdisziplinären Verbraucherforschung sowie die Notwendigkeit, theoretische Konzepte und empirische Befunde dabei stärker zu verknüpfen.

Konferenzübersicht:

Jörn Lamla (Kassel): Was ist und zu welchem Ende untersuchen wir die Verbraucherdemokratie?

Benjamin Möckel (Köln): Überlegungen zu einer Konsumgeschichte der Menschenrechte

Gerrit Retterath (Kassel): Die Praxis des Teilens – Zivile Kompetenzen und Potenziale im kollaborativen Konsum

Birgit Beck (Jülich): Der komplizierte Ausgang des Konsumenten aus der gastrosophischen Unmündigkeit

Kevin Rick (Marburg): Die Gründung der Stiftung Warentest als „zweitbeste Lösung“? Verbraucherpolitik zwischen Verbraucherorganisationen und Staat in den 1960er Jahren

Ruben Quaas (Berlin): Zwischen Konsumenten und Kleinbauern. Der Faire Handel im Spannungsfeld von Markt und Moral

Peter van Dam (Amsterdam): Fair Trade: Constructing Consumer Power in a Postcolonial Marketplace

Martin Gerth (Kiel): Von guten und schlechten Boykotten – Ein Überblick zur Vielfalt des Konsumverzichts in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches

Laura Trachte (München): Objektbasierte Konsumforschung – Vorschlag für einen Perspektivenwechsel


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