Matthias Flacius Illyricus – Biographische Kontexte, theologische Wirkungen, historische Rezeption

Matthias Flacius Illyricus – Biographische Kontexte, theologische Wirkungen, historische Rezeption

Organisatoren
Irene Dingel / Luka Ilić, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz; Johannes Hund, Seminar für Kirchen- und Dogmengeschichte, Johannes Gutenberg-Universität; Stadt Labin
Ort
Labin (Kroatien)
Land
Croatia
Vom - Bis
17.09.2015 - 19.09.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Hans-Otto Schneider, Projekt "Controversia et Confessio", Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz

Vom 17. bis 19. September 2015 fand in Labin (Kroatien) – nach 2001, 2006 und 2010 – die IV. Internationale Tagung zu Matthias Flacius Illyricus statt, freundlicherweise gefördert durch die Fritz Thyssen-Stiftung. Für die Stadt Labin bildete das Symposion den Auftakt zur Vorbereitung des großen Flacius-Jubiläumsjahres 2020, in dem der 500. Geburtstag des wohl bedeutendsten Sohnes der Stadt feierlich begangen werden soll. Für das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte stand die Tagung im Zusammenhang seiner Forschungen zu den Kontroversen des späten 16. Jahrhunderts und dem Aufbau eines Projekts zu den Korrespondenznetzwerken des Flacius.

Die Tagung hatte sich zum Ziel gesetzt, die Person des Flacius und sein Wirken unter vier Schwerpunkten zu beleuchten. Der erste widmete sich Flacius als „Wanderer zwischen den Welten“, der sich in verschiedenen städtischen und territorialen, politischen und konfessionellen Zusammenhängen zu behaupten hatte. Im Zentrum stand die Frage danach, welchen Einfluss die jeweiligen kulturellen und sozialen Kontexte auf seine geistige und theologische Entwicklung ausübten, welche Exilserfahrung er machte und wie sich dies auf seine Einstellung zu Heimat und Heimatlosigkeit auswirkte.

LUKA ILIĆ (Ravensburg) stellte fest, dass die erste und längste Lebensphase des Flacius weithin im Dunkel liege und dass er nur wenig über seine Herkunft, seine Kindheit und Jugend verlauten lasse. Möglicherweise sei in venezianischen Archiven noch mit dem einen oder anderen erhellenden Fund zu rechnen. Bemerkenswert sei immerhin, dass Flacius in seinen letzten Lebensjahren konsequent als „Matthias Flacius Illyricus Albonensis“ (Albona = Labin) unterzeichnet habe. WADE JOHNSTON (Milwaukee, Wisconsin, USA) beschäftigte sich mit der schriftstellerisch wohl fruchtbarsten Periode des Flacius, seinem Aufenthalt in Magdeburg; dabei hob der Referent die hohe Bedeutung der Naherwartung des Weltendes als Movens für die Aktivitäten des Flacius hervor. DANIEL GEHRT (Gotha) verwies unter Einbeziehung umfangreicher Quellenbestände auf die Bemühungen des Flacius, in Regensburg und Klagenfurt Institutionen zu schaffen, um Pfarrer und Prediger insbesondere für die südlichen habsburgischen Lande auszubilden. GUIDO MARNEF (Antwerpen, Belgien) beschäftigte sich mit der lutherischen Gemeinde in Antwerpen, für die nach kleinen Anfängen in den 1520er-Jahren der „annus mirabilis“ 1566/67 eine deutliche Wende darstellte, als unter Wilhelm von Oranien der institutionelle Rahmen gegeben schien für den Aufbau einer lutherischen Kirche. Als hochkarätige Berater holte man aus Deutschland Johann Vorsterius, Hermann Hamelmann und mehrere Prediger aus der Grafschaft Mansfeld, darunter Cyriakus Spangenberg. Für die Endfassung von Bekenntnis und Kirchenordnung der Antwerpener Gemeinde war Flacius federführend. JOHANNES HUND (Mainz) schilderte die letzten Lebensjahre des Flacius und die eingeschränkte Duldung, die ihm angesichts der unnachsichtigen Verfolgung durch Kurfürst August von Sachsen nur noch in wenigen Städten zuteil wurde, sowie den vergeblichen Versuch, 1574 eine Synode zur Erbsündenfrage zu veranstalten.

Der zweite Schwerpunkt hatte Flacius als „Kämpfer für die Wahrheit“ zum Thema. Die Vorträge versuchten sein Ringen um die theologische „Wahrheit“ als Strukturelement seines Denkens herauszuarbeiten. Dabei kam auch dessen konfessionell übergreifende Relevanz zur Sprache, wie sie sich zum Beispiel in Flacius’ großen historischen und hermeneutischen Werken zeigt. Dabei wurde deutlich, dass man Flacius nicht auf den Streittheologen und stets polarisierenden Gelehrten des strengen Luthertums reduzieren kann. Vielmehr stand die Frage im Vordergrund, wie Flacius’ Eintreten für die „Wahrheit“ zugleich ein leitendes Element für sein Geschichtsverständnis und die Art seiner Geschichtsschreibung wurde, für das Konzept der Zeugenschaft und für eine spezifische Hermeneutik.

ROBERT CHRISTMAN (Decorah, Iowa, USA) legte dar, dass die Erbsündenlehre des Flacius fälschlich des Manichäismus verdächtigt worden sei. Seinem Kontrahenten Victorin Strigel habe Flacius vorgehalten, er gewinne aus philosophischen Prämissen theologische Aussagen; demgegenüber habe Flacius auf dezidiert biblischer Grundlage eine sehr differenzierte Konzeption von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und der Erbsünde entwickelt, doch sei es ihm nicht gelungen, sie seinen Zeitgenossen verständlich zu machen. ROBERT KOLB (St. Louis, Missouri, USA) zeigte auf, dass die Glossen des Flacius zum Neuen Testament Schlüsseltexte zu seiner Haltung in der Autoritätsfrage enthalten, einschließlich des Protests gegen das Tridentinum. Konzilien hätten laut Flacius oft die Stimme Gottes in der Schrift ignoriert und mehr Hader als zuvor angerichtet. Flacius betonte dagegen, dass die Stimme Christi, des wahren guten Hirten, deutlich der Schrift zu entnehmen sei. Wie Luther erkannte Flacius im Heiligen Geist wie im lebendigen Gott den Autor und Interpreten der Schrift. HARALD BOLLBUCK (Göttingen) ging auf die theoretischen Voraussetzungen der Kirchengeschichtsdarstellung der Magdeburger Zenturien ein. Die Zenturiatoren hätten sich als Propheten, das heißt als Prediger und Exegeten, einer Endzeit gesehen. Sie nutzten dabei auch Ergebnisse römisch-katholischer Gegner. Der „Catalogus testium veritatis“ bilde zwar eine Vorarbeit für die Zenturien, dennoch seien die Zenturien insgesamt stärker quellenorientiert und kritischer als der Catalogus angelegt. Mit diesem setzte sich WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE (Marburg) genauer auseinander. Der Catalogus ziele darauf, die lutherische Kirche als die „rechte, alte, wahre Kirche“ zu erweisen, die kleine Herde der 7000, die ihre Knie nicht vor Baal gebeugt haben1. Die Papstkirche sei demgegenüber laut Flacius das Ergebnis von Fehlentwicklungen vor allem seit etwa dem 7. Jahrhundert. Die Frage nach der Herkunft des Zeugenbegriffs sei bislang ungeklärt. Flacius spreche anscheinend im Anschluss an Melanchthon von „doctores aut testes“. Er sei wohl der erste, der den Begriff in seiner besonderen Form verwende. HANS-PETER GROßHANS (Münster) stellte fest, dass das Tridentinum seit 1546 das evangelische Prinzip der Selbstauslegung der Schrift angegriffen habe. Flacius habe betont, dass die Erkenntnis Gottes und die Seligkeit immer medial vermittelt seien, ein unmittelbares Verstehen sei dementsprechend nicht möglich, allerdings sei auch das Medium nicht zufällig. Die Heilige Schrift zeige alles, was zur Frömmigkeit nötig sei, klar und deutlich an. Sie könne deshalb aus sich selbst heraus ausgelegt werden. Genaue Arbeit an der Sprache sei erforderlich, damit dadurch die theologische Sache selbst deutlich sichtbar werde.

Der dritte Schwerpunkt widmete sich Flacius in seinen Netzwerken. Hier wurden bisher kaum beachtete Korrespondenzen mit anderen Gelehrten betrachtet. Es ging um die Kontakte des Flacius in die Schweiz und nach Italien, sowie um die Gelehrtenkorrespondenzen nach Polen und Ostpreußen als Beispiele aus einem viel breiteren europäischen Korrespondenznetzwerk.

GIANFRANCO HOFER (Triest, Italien) legte dar, dass Flacius Verbindungen zu einer großen Zahl von Humanisten in der Schweiz, nicht zuletzt in Basel unterhielt. Die Beziehungen des Flacius nach Italien seien durchaus als komplex zu bezeichnen, von besonderer Bedeutung sei hier Venedig, einmal wegen des Schulbesuchs dort, dann aber auch wegen der Versuche, die Hinrichtung Lupetinas abzuwenden. Noch bis ins 18. Jahrhundert seien Werke des Flacius in den Bibliotheken vornehmer italienischer Familien zu finden gewesen. HENNING P. JÜRGENS (Mainz) betonte, dass Beziehungen des Flacius nach Polen und Preußen, vom Osiandrischen Streit abgesehen, nur in einzelnen Briefkontakten und Widmungen greifbar würden, etwa in einem Frankfurter Druck mit Widmungsvorrede an den polnischen König, worin Flacius die Verwandtschaft zwischen Polen und Illyrern betone. Flacius habe sich brieflich um Materialien für die Zenturien aus polnischen Archiven bemüht; die gelehrte Korrespondenz sei bei aller Betonung der slawischen Verwandtschaft durchwegs auf Latein geführt worden. Auf Danzig habe Flacius mit deutschsprachigen Widmungsvorreden Einfluss zu nehmen versucht. STEFANIA SALVADORI (Wolfenbüttel) machte deutlich, dass Flacius und Vergerio zwar beide in Istrien geboren wurden und entscheidend prägende Jahre in Venedig verbrachten, dass sich aber ansonsten wenig Gemeinsamkeiten finden. Vergerio hat keine theologische Ausbildung genossen, seine Hinwendung zum Protestantismus ist bislang noch weitgehend ungeklärt. Auch wenn die Verbindung zwischen beiden vermutlich nicht eng war, so beschaffte anscheinend Vergerio doch gelegentlich Bücher für Flacius.

Der vierte Schwerpunkt hatte die Rezeption und von Flacius ausgehende gruppenbildende Wirkungen zum Gegenstand. Dabei rückte Österreich als Ort von Asyl und Exil in den Blick, an den sich die Flacianer, das heißt die Anhänger und engagierten Verfechter des Erbsündenverständnisses des Flacius, nach zahlreichen Ausweisungen aus dem Reich zurückzogen. Aber auch das Erbe der Flacianer in anderen europäischen Räumen kam zur Sprache, mit Schwerpunkt Slowenien und Kroatien. Ob es zu der Ausprägung eines „Flacianismus“ im Sinne einer „Konfession“ mit Bekenntnischarakter und konfessionsspezifischen Elementen kam, wurde ebenso diskutiert wie die Flacius-Biographik des 19. Jahrhunderts.

Wie RUDOLF LEEB (Wien, Österreich) ausführte, gewann in Südostmitteleuropa der Flacianismus Konturen von seltener Deutlichkeit. In den Donauländern und Innerösterreich trug ein starker Adel die Reformation, während in Salzburg und Tirol die Bewegung im Untergrund blieb. Zeugnisse dezidiert flacianischer Kunst haben sich auf Schloss Parz erhalten (ein Freskenzyklus) und in Schladming (ein Altar). Das Ende des Flacianismus ist nach Einschätzung des Referenten um 1625/30 anzusetzen, nach intensiver Verfolgung durch die Gegenreformation. JOSIP BRATULIĆ (Zagreb, Kroatien) gab einen Überblick über die kroatische Flacius-Forschung, die wichtige Impulse von Wilhelm Pregers deutschsprachiger Biographie empfangen habe, und wies auf den Einfluss des Flacius auf den slowenischen Reformator Primus Truber hin, der am Ende seines Katechismus einen Auszug aus „De vocabulo fidei“ von Flacius biete. Er erwähnte auch eine Oper in kroatischer Sprache über Flacius mit dem Titel „Die Hexe von Labin“ (Labinska vještica, Zagreb 1960). CHRISTOPHER VOIGT-GOY (Mainz) hob die Bedeutung der Sicht Gottlieb Jakob Plancks für das Flacius-Bild des 19. Jahrhunderts hervor: die nachinterimistischen Streitigkeiten als Streit um Luthers Erbe. Neue kirchenpolitische Konstellationen (preußische Union) hätten mitgeformt am Flacius-Bild August Twestens: Flacius, der Begründer der (wissenschaftlichen) Kirchengeschichtsschreibung und der biblischen Hermeneutik, von der Sorge um die Kirche umgetrieben, aber zum Scheitern verurteilt. Auch die Flacius-Biographie des Twesten-Schülers Wilhelm Preger zeige Einflüsse der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen ihrer Entstehungszeit (Erweckungsbewegung). Der vorgesehene Beitrag von STEFAN MICHEL (Leipzig) zur Frage „Gab es einen ‚Flacianismus‘?“ musste wegen Krankheit des Referenten leider entfallen, wird aber in den geplanten Tagungsband aufgenommen werden.

In ihrem Schlusswort betonte Irene Dingel (Mainz), dass es bei der Tagung darum ging, möglichst nicht alte Stereotype zu rekapitulieren, sondern eine differenziertere Sicht auf Flacius zu gewinnen. Dazu habe sowohl die Internationalität und Interdisziplinarität der Teilnehmerschaft als auch ihre generationenübergreifende Spannweite beigetragen (unter den Teilnehmern befand sich auch der hochbetagte Flacius-Biograph Oliver K. Olson). Den Teilnehmern und Teilnehmerinnen werden zweifellos die überaus gastfreundliche Aufnahme, die umsichtige Organisation und die weiterführenden Diskussionen in Erinnerung bleiben.

Konferenzübersicht:

Tulio Demetlika (Labin); Irene Dingel (Mainz): Begrüßung/Einführung in das Tagungsthema

I. Der Wanderer zwischen den „Welten“

Luka Ilić (Ravensburg): Flacius’ peregrinatio academica: from Labin to Wittenberg

Wade Johnston (Milwaukee, Wisconsin, USA): The Magdeburg Exile

Daniel Gehrt (Gotha): Flacius as University Professor in Jena and his Plans for Founding Academic Institutions in Regensburg and Klagenfurt

Guido Marnef (Antwerpen, Belgien): The Building of a Lutheran Church in Antwerp (1566/67)

Johannes Hund (Mainz): Kompromisslosigkeit, wachsende Isolation und Verfolgung: Das Exil des Flacius in Straßburg und seine letzten Jahre in Frankfurt am Main

II. Der Kämpfer für die „Wahrheit“

Robert Christman (Decorah, Iowa, USA): The Controversy over Original Sin with an Eye Towards its Origins in the Synergist Controversy

Robert Kolb (St. Louis, Missouri, USA): Scripture or Pope? The Exegetical Basis of Matthias Flacius’ Understanding of Authority in the Church

Harald Bollbuck (Göttingen): Kritik, Exegese, Berufung. Flacius und die Praxis der Magdeburger Zenturien

Wolf-Friedrich Schäufele (Marburg): Die Konzeption der Zeugenschaft im Catalogus testium veritatis

Hans-Peter Großhans (Münster): Was zeichnet eine evangelische Hermeneutik aus? – die Clavis Scripturae Sacrae

III. Der Gelehrte in seinen Netzwerken

Gianfranco Hofer (Triest, Italien): Flacius’ contacts in Switzerland and toward Italy

Henning P. Jürgens (Mainz): Gelehrtenkorrespondenzen nach Polen und Preußen

Stefania Salvadori (Wolfenbüttel): Ad gloriam Dei et patriae salutem – Vergerio and Flacius between Experience of Exile and Bond with Homeland

IV. Rezeption und gruppenbildende Wirkung

Rudolf Leeb (Wien, Österreich): Das Erbe der Flacianer in Südostmitteleuropa

Josip Bratulić (Zagreb, Kroatien): Das Erbe der Flacianer in Europa – Schwerpunkt Slowenien und Kroatien

Christopher Voigt-Goy (Mainz): Der Blick des 19. Jahrhunderts auf Flacius

Anmerkung:
1 Vgl. I Kön 19,18; Röm 11,4.


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