Militärisches Wissen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert

Militärisches Wissen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert

Organisatoren
Erfurter Promotions- und Postdoktorandenprogramm "Wissensgeschichte der Neuzeit", Forschungszentrum Gotha (FZG), Universität Erfurt
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2015 - 25.09.2015
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Von
Oliver Kann, Forschungszentrum Gotha (FZG), Universität Erfurt

Die Beziehungen zwischen Militär und Wissen spielten bisher in der historischen Forschung nur eine untergeordnete Rolle. Während für die Frühe Neuzeit vor einigen Jahren zumindest die Tagung „Militärische Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit“ 1 das Feld in seiner Breite abgesteckt und die Fruchtbarkeit wissensgeschichtlicher Zugänge zum Bereich des Militärischen in der Vormoderne grundsätzlich aufgezeigt hat, beschränken sich wissensgeschichtliche Zugänge in der neueren Geschichte nach wie vor fast ausschließlich auf die Erforschung von Expertenwissen und den Kriegszustand. Den Blick der Forschung auf die vielfältigen Formen militärbezogenen Wissens zu lenken und dabei einen wissenspraxeologischen Zugang ins Zentrum zu rücken, war das Ziel eines Workshops, zu dem André Bochynski, Oliver Kann und Michael Schwarz (alle Erfurt/ Gotha) in Verbindung mit Markus Meumann (Gotha) und Alexander Schunka (Gotha/ Berlin) vom 24. bis 25. September 2015 an das Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt (FZG) einluden. Unter dem Obertitel „Militärisches Wissen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert“ präsentierten überwiegend Nachwuchswissenschaftler/innen in drei Sektionen ihre laufenden Forschungsvorhaben, die durch Beiträge erfahrener Wissenschaftler/innen ergänzt wurden, und eröffneten dabei verschiedene Zugänge zu einer Wissensgeschichte des Militärs. Gemäß dem wissenspraxeologischen Schwerpunkt des Workshops wurden in vielen Beiträgen die Akteure in den Mittelpunkt gestellt und zugleich die Epochengrenze um 1800 kritisch hinterfragt, indem die Frühe Neuzeit wie das ‚lange 19. Jahrhundert‘ (Hobsbawm) gleichermaßen in die Analyse einbezogen wurden. Die Panels wurden zudem jeweils von einem/r Fachexperten/in konstruktiv-kritisch kommentiert.

Den Auftakt zur ersten Sektion machte ANDRÉ BOCHYNSKI (Erfurt/ Gotha) mit seinem Vortrag über „Artickels-Brief und Kayserlich-Decret. Die Ausbildung eines vollkommenen Kriegsrechts im Großen Krieg“. Am Beispiel der Kriegsartikel, die Kampfweisen, Bewaffnung, Taktiken und den Umgang mit der Zivilbevölkerung sowie der Beute festschrieben, illustrierte Bochynski die Verrechtlichung des Krieges, in der auch ein Epochenmerkmal des 17. Jahrhunderts zu sehen sei. Auch die Akteursebene wurde durch seine Ausführungen beleuchtet, da das Hauptanliegen dieser Kriegsartikel darin bestand, das Militärrecht allen Militärangehörigen sowie der Bevölkerung in verständlicher Form zu erläutern und zur Kenntnis zu bringen.

„Die Bildung des kursächsischen Offiziers um 1800 zwischen adliger Standesbildung, militärischem Drill und aufgeklärter Kriegswissenschaft“ war Thema des Anschlussvortrages. ANDREAS DETHLOFF (Rostock) zeichnete ein Bild der Wissensbestände des kursächsischen Offizierskorps die sich im Spannungsfeld von adliger Standesbildung, militärpraktischem Exerzitium, aufgeklärter Kriegswissenschaft und eigenverantwortlichem Selbststudium bewegten. Dabei berücksichtigte er sowohl Normierungsprozesse durch Bildungsanstalten wie das Kadettenkorps als auch die Weitergabe erfahrungsbasierten Wissens durch Veteranen. Schließlich spielte auch die Bedeutung Sachsens als Zentrum der deutschen Aufklärung eine große Rolle bei der Entstehung eines militärwissenschaftlichen Diskurses, an dem sich die Offiziere (sowie Gelehrte) beteiligten.

Mit der „Genese von Militärreglements“ setzte sich MICHAEL SCHWARZ (Erfurt/ Gotha) am Beispiel des Wirtschaftsreglements der sachsen-gotha-altenburgischen Regimenter um 1750 auseinander. Im Zentrum des Interesses standen vor allem die Akteure, ihre Praktiken und Wissensbestände. Schwarz arbeitete dabei die Aushandlungsprozesse heraus, die zum Entstehen des Reglements führten. Dieses orientierte sich an den Ideen aus der Landgrafschaft Hessen-Kassel, wurde aber für die sachsen-gotha-altenburgischen Regimenter entsprechend angepasst, wobei nach 1754 insbesondere Erfahrungswissen inkorporiert wurde.

ULRIKE LUDWIG (Dresden) befürwortete in ihrem Kommentar eine Schärfung des Normenbegriffs. Soziale Normen sollten gemäß dem Soziologen Heinrich Popitz stärker als ein Konzept verstanden werden, welches auf zukünftiges Handeln verweist und mit Sanktionsrisiko verbunden ist. Es müsse also implizit denkbar sein, dass sie umgesetzt würden. Gerade am Beispiel des Kriegsrechts sei zudem eine Normenpluralität kein Einzelfall, sondern vielmehr ein Epochenmerkmal. Diese Vielfalt könne damit auch als Ausgangspunkt für Fragestellungen verstanden werden.

Den Auftakt im zweiten Panel „Professionalisierungen“ machte OLIVER KANN (Erfurt/ Gotha). Unter dem Titel „Gut, besser, Vermesser. Die Arbeiten der Königlich Preußischen Landesaufnahme“ skizzierte Kann strukturelle und akteursbezogene Entwicklungslinien der Landesaufnahme, die zwar militärisch dominiert war, aber auch Wissen für die Öffentlichkeit produzierte. Am Beispiel der Profession des Topographen wurde zudem die Begrifflichkeit militärischen Wissens problematisiert. Hatte die topographische Aufnahmepraxis klassischerweise militärischen Gesichtspunkten genügt, wurden Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend „zivile“ Anforderungen an die Kartengestaltung gestellt, so dass es zu einer Divergenz zwischen rein militärischen und topographischen Aufnahmepraktiken kam.

Erweitert wurde die aufgeworfene Problemstellung durch den Vortrag “Theologen, Pädagogen, Publizisten – Selbstbilder und Wissenspraktiken preußischer Militärgeistlicher um 1800“ von ANGELA STRAUSS (Tübingen). Von einer Exklusivität religiös-militärischen Wissens könne Strauß zufolge keine Rede sein, denn den Feldpredigern kam genauso wie Hof-, Stadt- und Landpredigern eine Schlüsselrolle in sozialen Prozessen zu. Da sie sich geprägt durch ihre Selbstbilder eher an gesellschaftlichen Diskursen orientierten, könne auch das von ihnen konstruierte Wissen nicht als originär militärisch bezeichnet werden.

Den Abschluss der Sektion bildete der Vortrag „Im Wesentlichen nach Clausewitz? Fragen an das preußisch-deutsche Festungswesen zwischen Waterloo und Versailles“ von VOLKER MENDE (Cottbus), in dem dieser gleich drei Ingenieurbiographien vorstellte, welche für die großen Sprünge des deutschen Festungsbaus im 19. Jahrhundert standen. Mende zeigte dabei häufig unterschätzte Aspekte auf, wie den monarchischen Einfluss auf das preußisch-deutsche Festungswesen und die daraus erwachsenen Eigendynamiken, sowie die Verflechtung militärischen und zivilen Ingenieurswissens, das bis zur Schnittmenge von Großindustrie und Rüstungslobby reichte.

In seinem Kommentar unterstrich CHRISTOPH NÜBEL (Berlin) die Fruchtbarkeit wissensgeschichtlicher Ansätze, um sowohl klassischer Institutionsgeschichte aus dem Weg zu gehen als auch unkritische Modernisierungs- und Fortschrittsnarrative zu vermeiden. Gerade die Einbeziehung des Erfahrungswissens der Akteure könne auf Kontinuitäten und Brüche hinweisen. Darüber hinaus plädierte Nübel auf die stärkere Beachtung dieser Ansätze in der Militärgeschichte der Neuzeit, wo sie im Vergleich zur Historiografie des frühneuzeitlichen Militärwesens nach wie vor unterrepräsentiert seien.

Die Sektion „Zirkulationen“ eröffnete ANDREA THIELE (Halle) mit dem Vortrag „Von Kundschaftern und Kundschaft. Soldatenhandel und Wissenszirkulation zwischen Sachsen-Gotha und den Niederlanden im 17. und 18. Jahrhundert“ Thiele führte aus, dass dieser Subsidienhandel seine eigenen Marktlogiken entwickelte, da Truppen eigens mit Blick auf den erwarteten Profit ausgehoben wurden. Zirkulationen von Wissen fanden entlang dieses grenzüberschreitenden Handels in vielfältiger Weise statt, wobei nicht zuletzt die Soldaten selbst als Wissensträger agierten.

MARKUS MEUMANN (Gotha) wies in seinem Vortrag über „Zirkulation, Transfer und Verwissenschaftlichung militärgerichtlichen Wissens im 17. und 18. Jahrhundert“ zunächst auf die europäische Dimension der Diffusion bzw. Distribution militärjuristischen Wissens hin. Neben den Söldnern selbst wurden zunehmend die Obrigkeiten, die sich über die Praktiken anderer Mächte in diesem Bereich informierten, zu Trägern des Wissens. Die zwischen 1632 und 1723 unter dem gemeinsamen Obertitel „Corpus iuris militaris“ erschienenen militärrechtlichen Sammlungen stellten einen entsprechenden Wissensspeicher bereit und illustrieren zudem die Professionalisierung und „Verwissenschaftlichung“ von militärgerichtlichen Akteuren und ihrem Wissen.

Der letzte Vortrag von ANNE-SIMONE-ROUS (Dresden) „‘Keep undercover!‘ Militärische Spionagepraktiken und ihr Platz in der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts“ widmete sich dem Geheimwissen von Spionage, Kryptologie und Geheimschriften, das im Spektrum zwischen Exklusivität und Zirkulation angesiedelt war. War dieses Wissen zur Zeit des Siebenjährigen Krieges zunächst noch „Sonderwissen“, in dem soziales, geopolitisches und tagesaktuelles Beobachtungswissen zusammenflossen, verlor es durch das Ende des Siebenjährigen Krieges einerseits an Wert, stieß andererseits aber zunehmend auf öffentliches Interesse. Insofern sei das Jahr 1763 eine Zäsur gewesen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts schließlich offenbarten sich politische Rückwirkungen, da die zivile Öffentlichkeit den herrschaftlichen und militärischen Spionagepraktiken Einhalt gebieten wollte.

MARIAN FÜSSEL (Göttingen), der die Sektion kommentierte, hob die wechselseitige Beeinflussung militärischer und nichtmilitärischer Akteure hervor, die die drei Referate deutlich gemacht hätten. Er plädierte zudem dafür, nach den Grenzen der Zirkulationen, der Funktionslogik und dem „Eigensinn“ des Militärs zu fragen.

ALEXANDER SCHUNKA (Gotha/ Berlin) wies in seinem Abschlusskommentar auf das Problem der Ein- und Abgrenzung militärischen Wissens hin. Viele der Beiträge hätten deutlich gemacht, dass eine stetige begriffliche Reflexion unumgänglich sei. Auch biete gerade das 19. Jahrhundert mit seinem „klassischen“ epochalen Dualismus Militär-Zivilgesellschaft viel Potenzial zur kritischen Hinterfragung. Schunka wies zudem auf zwei Perspektiven für künftige Forschungen hin. Zum einen sei es interessant, nach den abgebrochenen und gescheiterten Prozessen von Normierungen, Professionalisierungen und Zirkulationen zu fragen. Zum anderen müssten die militärischen Praktiken der Wissensvermittlung stärker berücksichtigt werden, gerade hinsichtlich religiöser und räumlicher Fragen.

Konferenzübersicht:

I Normierungen

André Bochynski (Erfurt/ Gotha), Artickels-Brief und Kayserlich-Decret. Die Ausbildung eines vollkommenen Kriegsrechts im Großen Krieg

Andreas Dethloff (Rostock), Die Bildung des kursächsischen Offiziers um 1800: zwischen adliger Standesbildung, militärischem Drill und aufgeklärter Kriegswissenschaft.

Michael Schwarz (Erfurt/Gotha), Die Genese von Militärreglements. Das Beispiel des Wirtschaftsreglements der sachsen-gotha-altenburgischen Regimenter um 1750

Kommentar/Moderation: Ulrike Ludwig (Dresden)

II Professionalisierungen

Oliver Kann (Erfurt/ Gotha), Gut, besser, Vermesser. Die Arbeiten der Königlich Preußischen Landesaufnahme.

Angela Strauß (Tübingen), Theologen, Pädagogen, Publizisten - Selbstbilder und Wissenspraktiken preußischer Militärgeistlicher um 1800

Volker Mende (Cottbus), Im Wesentlichen nach Clausewitz? Fragen an das preussischdeutsche Festungswesen zwischen Waterloo und Versailles.

Kommentar/ Moderation: Christoph Nübel (Berlin)

III Zirkulationen

Andrea Thiele (Halle), Von Kundschaftern und Kundschaft. Soldatenhandel und Wissenszirkulation zwischen Sachsen-Gotha und den Niederlanden im 17. und 18. Jh.

Markus Meumann (Erfurt/ Gotha), Corpus iuris militaris. Zirkulation, Transfer und Verwissenschaftlichung militärgerichtlichen Wissens im 17. und 18. Jahrhundert

Anne-Simone Rous (Dresden), Keep undercover! Militärische Spionagepraktiken und ihr Platz in der Gesellschaft (18.-19. Jh.)

Kommentar/ Moderation: Marian Füssel (Göttingen)

Schlusswort: Alexander Schunka (Gotha/ Berlin)

Anmerkung:
1 Vgl. Tagungsbericht: Sven Petersen / Stefan Droste, Militärische Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit. 9. Jahrestagung des Arbeitskreises Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 01.12.2011 – 03.12.2011 Göttingen, in: H-Soz-Kult, 03.03.2012, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4099>.


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