Geschlecht und Raum: Imagination und Materialität des (unzugänglichen) Raumes. Transdisziplinärer Workshop

Geschlecht und Raum: Imagination und Materialität des (unzugänglichen) Raumes. Transdisziplinärer Workshop

Organisatoren
Forum Junge Kulturwissenschaften Mainz; Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.10.2015 - 24.10.2015
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Von
Judith Mengler, Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Analysekategorie „Raum“ wurde seit dem spatial turn in den Kulturwissenschaften in vielen Kontexten und Disziplinen erfolgreich nutzbar gemacht. An Überlegungen von Theoretikern wie Henri Lefebvre und Edward W. Soja anknüpfend, wird Raum hierbei als sozial konstruiert und durch Praktiken angeeignet verstanden. Die Kategorie (soziales) Geschlecht wird in der Feministischen Theorie und den gender studies ebenfalls als sozial konstruiert und normiert sowie performativ hervorgebracht begriffen. Bei dieser Konstruktion und Normierung von Geschlecht spielen die soziale Produktion von Raum, die Aneignung von oder Exklusion aus verschiedenen Räumen eine wichtige Rolle. Die Auseinandersetzung mit der Verschränkung und wechselseitigen Bedingtheit von Geschlecht und Raum kann daher neue Perspektiven auf alte Fragestellungen bieten. Im Workshop sollten Befunde des „doing space by doing gender“ aus der sozial- und kulturhistorischen sowie philologischen Forschung zusammengetragen und diskutiert werden. Besonderes Augenmerk sollte dabei der geschlechtsspezifischen Zugänglichkeit oder auch Unzugänglichkeit von realen oder metaphorischen (Wissens-) Räumen gelten. So wurde nach Inklusions- oder Exklusionsmechanismen und den daraus potenziell resultierenden Konflikten ebenso gefragt wie nach möglichen Interdependenzen zwischen Geschlecht und weiteren Differenzkategorien wie ethnische Zugehörigkeit, Klasse, Religion oder Körper. Die Beschäftigung mit dem Körper als (Verhandlungs-)Raum sexueller Identität sowie als materiell verfasstes Artefakt oder Aktant räumlicher Praktiken stellte einen weiteren Schwerpunkt des Workshops dar. Auch der Frage nach geschlechtlichen Konstruktionen und Konstellationen im virtuellen Raum sollte nachgegangen werden.
Der Workshop gliederte sich in fünf Sektionen, die jeweils unterschiedliche Aspekte des Themenkomplexes beleuchteten.

In seinem Impulsvortrag stellte SEBASTIAN DORSCH (Erfurt) die Raumtheorie Henri Lefebvres vor, um in einem weiteren Schritt nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Kategorien „Raum“ und „Geschlecht“ zu fragen. Lefebvre werde, so Dorsch, bisher kaum auf Genderfragen angewandt, da er in seinen Werken eher von der Gesellschaft und der Klasse her argumentiere und daher das Individuum und sein Geschlecht aus dem Blick gerate. Dennoch ergeben sich aus der Verknüpfung Potenziale, die Dorsch aufzuzeigen sucht. So sei das dynamische triadische Denken Lefebvres gut geeignet, Dichotomien, mit welchen auch die Genderforschung immer wieder zu kämpfen habe, aufzubrechen. Auch die Relevanz von räumlichen (Alltags-)Praktiken sowie der Materialität von Körper und Raum scheine bei Lefebvre auf und könne übertragen werden. In der folgenden Diskussion wurden diese Potenziale weiter erörtert und Anknüpfungspunkte zu den Leitfragen und Vortragsthemen sondiert.

FELIX FLORIAN MÜLLER (Berlin) stellte in seinem Beitrag unter Bezugnahme auf Juri Lotmans Überlegungen zur Raumsemantik die Relevanz der Abgrenzung von Räumen gegeneinander und des dazu gehörenden Grenzziehungsprozesses heraus. Anhand des anonym verfassten Romans „Friedrich von Schwaben“ und mittelalterlicher Eneasadaptionen konnte er darlegen, dass weibliche Freiräume stabiler werden, je mehr sie entweder von anderen (männlichen) Räumen getrennt sind oder je weiter sie in deren Peripherie liegen. AENNE GOTTSCHALK (Göttingen) fragte nach weiblichen Freiräumen in spanischen erzieherischen Unterhaltungstexten des 18. Jahrhunderts. Während im kleruskritischen Roman „Cornelia Bororquia“ die begrenzte agency der Protagonistin im abgeschlossenen Raum (Gefängniszelle) im Vordergrund stand, verwies die Komödie „Lo que pasa en un torno a monjas“ auf den Zusammenhang zwischen weiblicher Macht, abgeschlossenem Raum (Frauenkloster) und impliziten Vorstellungen idealer Tugend. In der Diskussion wurde noch einmal auf den Konnex zwischen weiblicher Herrschaft und erfolgreicher Selbstdefinition von Grenzen sowie dem erfolgten Ausschluss von Körperlichkeit hingewiesen. So entstehe ein (imaginierter) hermetischer Freiraum als Schutzraum, wobei kritisch nach der Widersprüchlichkeit dieser Konstruktion zu fragen sei.

Mit der Frage nach der geschlechtsspezifischen Unzugänglichkeit von Räumen beschäftigte sich JULIA MARIA ZIMMERMANN (Luxemburg). Die quantitative Studie IDENT2 ergab, dass öffentliche Räume heute größtenteils als heterosozial wahrgenommen werden. Kommt jedoch die Kategorie Zeit hinzu, so werden Frauen aus der Nutzung bestimmter Räume exkludiert, indem ein Gefahrendiskurs produziert wird. Die angenommene Bedrohung geht von einem diskursiv konstruiertem „gefährlichen Subjekt“ aus, das durch die Merkmale männliches Geschlecht, Herkunft/Ethnie, Klasse sowie deviantes Verhalten markiert wird. JENNIFER HENKE zeigte anhand einer Analyse der Filme „Contact“ (Robert Zemeckis, 1999) und „Gravity“ (Alfonso Cuarón, 2013) wie weibliche Charaktere im zeitgenössischen Kino beruflich, persönlich und räumlich marginalisiert werden. Henke stellte dabei einen neu identifizierten Stereotyp, die „isolierte Wissenschaftlerin“, zur Diskussion. Die schon in der Handlung angelegte Isolation (abgelegene Forschungsstation, Raumstation) wird durch die dezentrale Darstellung der Protagonistin im Bild verstärkt, hinzu tritt die Unfähigkeit, sich von Konflikten zu lösen, die erst durch einen (räumlichen) Transformationsprozess überwunden werden kann. Im folgenden Austausch wurde auf die Rolle der vorgestellten diskursiven Konstruktionen, nämlich der „zwielichtigen Ecke“ sowie der „objektiven Wissenschaft“, bei der Exklusion von Weiblichkeit verwiesen. Bei in der Dichotomie weiblich/männlich als schwieriger zu verortend geltenden Personenkreisen, etwa Homosexuellen, resultiere diese Einordnungsproblematik in der Wahrnehmung häufig in ebenso uneindeutigen Zuweisungen bezüglich dieser Konstruktionen. So können sie im öffentlichen Raum beispielsweise zugleich als bedrohend aber auch als bedroht wahrgenommen werden.

SABINE REICHERT (Regensburg) stellte die religiöse Prozession in der Vormoderne als Kommunikationsraum vor, in dem soziale Hierarchien dargestellt und verhandelt wurden. Während die männlichen Teilnehmer nach ihrem Berufsstand gegliedert wurden und somit die familiären Bindungen zurück traten, wurden Frauen nach den Kriterien Keuschheit und Familienrolle in die Prozession eingeordnet. Im Vortrag zeigte sich, dass Zugänglichkeit durch rollenkonformes, hier sittsames und beherrschtes, Verhalten hergestellt wurde, wobei auch die Grundidee, dass weibliche Räume ein männliches Korrektiv bräuchten, in der Prozessionsordnung wieder aufschien. Im Gespräch wurde das Spannungsverhältnis zwischen der Rolle als ideale Ehefrau und der als Heilige am Beispiel der Vita Elizabeths von Thüringen weiter ausgeführt und problematisiert.

STEFFI GRUNDMANN (Wuppertal) erläuterte anhand von Quellenbeispielen aus dem Corpus Hippocraticum und Herodot die Konzeption von Haut und Haar als Zwischen_Raum im klassischen Griechenland. Dieser Zwischen_Raum, so Grundmann, werde durch die Dichotomie „innen“ und „außen“ erst ermöglicht und stabilisiere diese Polarisierung gleichzeitig. Als materiell verfasst und gleichzeitig (geschlechtsspezifisch) veränderbar gedacht, geben die Konzeptionen von Haut und Haar Auskunft über den Körper als vergeschlechtlichten Raum in einer auf persönlichen Begegnungen basierenden Gesellschaft. FRIEDERIKE MAAßEN (Göttingen) richtete den Blick auf die Verhandlung von Geschlechtsidentität bei Kindern mit Intersexualität im Alter von 6 bis 16 Jahren. Im Fokus stand die Frage, wie der Körper von Menschen mit Intersexualität selbst als, oftmals fremdverhandelter, Raum von Identität und Geschlecht wahrgenommen wird. Dazu präsentierte Maaßen Zitate und Ergebnisse aus qualitativen Interviews mit betroffenen Kindern sowie deren Eltern. Im Folgenden wurde im Plenum über die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Haut und Haar sowie über mögliche moralische Implikationen derselben gesprochen. Auch in dieser Sektion konnte gezeigt werden, dass uneindeutige Einordnungen in polare Systeme oft als Problemlage begriffen werden.

ALEXANDER HARDER (Berlin) zeigte an der Analyse einer Sequenz des First-Person-Shooters „Call of Duty: Modern Warfare 2“ (Activision, 2009) unter Rückgriff auf die Analysekategorien Sarah Ahmeds wie der virtuelle Körper im Raum des Spiels orientiert wird. Die körperliche und räumliche Einbindung führt hier zu einer Immersion des Spielers, wobei diese ebenso wie der beschränkte Interaktionshorizont oft erst retrospektiv bemerkt werden. Der virtuelle Körper ruft hierbei Konzepte der „militarisierten Männlichkeit“ auf während im politischen Diskurs die Spieler als überwiegend jung und männlich dargestellt werden. Der Beitrag von ANTONIA EDER (Karlsruhe) behandelte den Abgang in den Dramen Friedrich Hebbels, insbesondere in „Gyges und sein Ring“, als topologische Bühnenstrategie des Fallens und Ersetzens. Während bei männlichen Charakteren der Abgang als Horizontale Selbstbestimmtheit konstituiert, fallen Frauen in die Vertikale, wobei ihr Körper dem Blick des Zuschauers weiterhin preisgegeben ist. Dass die genderlogisch funktionierende Bewegungsanordnung im Bühnenraum den Vorstellungen zur normativen Geschlechterdifferenz entsprach, zeigt der Blick auf zeitgenössische naturphilosophische Werke und Autoren, wie beispielsweise Johann Jacob Bachofen. In der Aussprache wurde die Rolle des Körpers als Objekt der Raumeröffnung erneut thematisiert. Bei Spielen im virtuellen Raum sei eher von einem Leib- als von einem Körperbegriff auszugehen, wobei eine Erweiterung zu einem virtuellen Leib stattfinde.

In den Beiträgen schienen einige Grundideen wiederholt auf. Deutlich wurde, dass traditionelle Ordnungssysteme auf dichotomen Strukturen basieren, also zum Beispiel „innen“ und „außen“, „Körper“ und „Geist“ sowie eben auch „männlich“ und „weiblich“. Nicht eindeutig einzuordnende Personen oder Phänomene können vor diesem Hintergrund als prekär wahrgenommen werden. Es scheint daher vielversprechend, zum einen die eigenen Analysekategorien und Methoden kritisch auf solche beschränkenden Dichotomien hin zu hinterfragen und gegebenenfalls zu erweitern, zum anderen den Blick auf eben diese Uneindeutigkeiten zu richten, um die diskursive Konstruktion der polaren Ordnung in Literatur, Film, zeitgenössischem Alltag und Geschichte aufzeigen zu können. In Bezug auf literarische Texte wurde wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen Realität und Literatur stärker in den Vordergrund gerückt werden können. Literatur sei immer auch ein Versuchs- und Freiraum für neue soziale, auch geschlechtsspezifische Praktiken und deren Aushandlung. Praktiken standen, so der Tenor der Abschlussdiskussion, bei den Vorträgen oft im Fokus. So wurde der Raum häufig als durch körperliche oder semantische Praktiken geschlechtlich konnotiert beschrieben; die Geschlechtlichkeit der Personen im Raum dehnt sich somit auf den Raum aus. Für weiterführende Untersuchungen zur Verschränkung von Geschlecht und Raum könnten daher phänomenologische Ansätze produktiv gemacht werden. Die dezidierte Unzugänglichkeit von Räumen wurde hingegen eher spärlich thematisiert. Zurückführen sei dies, so die Überlegungen im Plenum, wohl auch auf einen relativen Mangel an geschlechtsspezifischen Räumen im zeitgenössischen Kontext der Vortragenden. Geschlechtsexklusivität ließe sich meist nur in Räumen beobachten, die in Zusammenhang mit bestimmten Körperpraktiken stünden, etwa getrennte Toiletten oder Frauensaunen. Hier verspricht eine Erweiterung der Perspektive auf andere Kulturräume oder historische Kontexte sowie die Einbeziehung der damit befassten kulturwissenschaftlichen Disziplinen weiteren Erkenntnisgewinn.

Konferenzübersicht:

Monika Frohnapfel-Leis (Mainz), Begrüßung und Vorstellung

Sebastian Dorsch (Erfurt), Raum – Geschlecht – Macht. Überlegungen zu kritischen Ansätzen der Produktion von Gesellschaft

Chair: Karin Peters (Mainz)

Felix Florian Müller (Berlin), Venusberge – weibliche Freiräume in der Mittelalterlichen Literatur

Aenne Gottschalk (Göttingen), „Die Welt ist einzig ein riesiges Gefängnis“ – Religiöser Raum und Geschlecht in der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts

Julia Maria Zimmermann (Luxemburg), Doing Gender an „gefährlichen Orten“ – Zur Ko-Konstruktion von Geschlecht, Klasse und Ethnie am Beispiel „zwielichter Ecken“

Jennifer Henke (Bremen), „Lost in space“ – Zur Stereotypisierung von Wissenschaftlerinnen im zeitgenössischen Kino

Sabine Reichert (Regensburg), Die mittelalterliche Stadt als Sakralgemeinschaft? Zur Rolle von Frauen und religiösen Frauengemeinschaften in städtischen Prozessionen

Steffi Grundmann (Wuppertal), Haut und Haar als Zwischen_Raum. Zur Konstruktion von Geschlecht im klassischen Griechenland

Friederike Maaßen (Göttingen), „Was bin ich denn nun?“ Der Körper als Verhandlungsraum von Geschlecht und Identität bei Kindern mit Intersex*

Alexander Harder (Berlin), Körperkonstruktionen in First-Person-Shooters: eine phänomenologische Analyse

Antonia Eder (Karlsruhe), Warum Frauen (um)fallen und Männer (ab)gehen: Theatrale Raumsemantik von Macht und Geschlecht in Dramen Hebbels

Abschlussdiskussion


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